Der Mann, der sich auf die Brust schlug

Erzählung

von  Quoth

In Volterra gab es das Café Pierluigi mit ziemlich gutem Limonenkuchen, aber weil es sehr heiß war, wollten wir andern alle immer in die Eisbar Gelato Verde mit ihrem fantastischen Pistazieneis, nur  Julia wollte wieder zu Pierluigi, der mir ein bisschen ungemütlich war, denn da war immer wieder ein muskulöser mittelalter Mann, der sich im Stehen mit der Faust auf die Brust schlug und dabei ernst, ja, beinahe stolz um sich sah, und das hielt er Stunden durch. Julia schien das nicht zu stören, allmählich kamen wir dahinter, der Mann faszinierte sie, sie wollte immer so sitzen, dass sie ihn gut im Blick hatte, und Ernesto, der uns aus Rom besuchte, erklärte uns, dass es so auffallende Gestalten auch anderwärts gebe, einen, der immer mit einer Angel und einer leeren Kiste herumlaufe und Fische zum Kauf anbiete, die er nicht habe, einen anderen, der einen Kittel, einen Putzeimer und einen Feudel trug und nicht davon abzubringen war, das Lokal zu putzen, auch wenn Gäste da waren. Der Grund sei, dass der Gesetzgeber dem Psychiater Franco Basaglia gefolgt sei und ein Gesetz beschlossen habe, nach dem alle psychisch Kranken entlassen werden konnten, wenn sie keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellten, und die allermeisten stellten wohl keine Gefahr dar und man konnte sich fragen, mit welchem Recht sie so lange ihrer Freiheit beraubt worden waren. Dies Gesetz sei natürlich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit beschlossen worden, sondern auch, um die überlasteten Kliniken zu leeren und Kosten zu sparen.

Eines Abends, Ernesto saß an Julias Bett und hatte mit ihr Bella Ciao gesungen, da sagte sie zu ihm: „Frag doch den Mann, der sich immer auf die Brust schlägt, mal danach, warum er das tut. Ich wüsste es allzu gern!“ Das könne er machen erwiderte Ernesto, und ob er, wenn er das frage, auf Julia zeigen dürfe und sagen, dies Mädchen, das Julia heißt, möchte es so gern wissen? Das war Julia nicht so recht, aber nach einigem Nachdenken nickte sie. „Könnte er auf mich böse werden?“ wollte sie noch wissen. Ernesto schüttelte den Kopf: „Und wenn, würde ich dich beschützen.“

Anderntags ging Ernesto zu dem Mann hin und stellte ihm die Frage. Er fuhr fort, sich alle 30 Sekunden einen Schlag auf die Brust zu geben, ließ aber dann für einen Moment die Fäuste sinken und sagte etwas. Dann fuhr er fort sich zu schlagen, und Ernesto kehrte mit gesenktem Kopf an seinen Platz zurück. Julia schaute ihn erwartungsvoll an: „Was hat er gesagt?“

„Das kann ich dir nicht sagen, liebe Julia!“ Dabei blieb er. Und auch mir hat er es nie verraten.



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Kommentare zu diesem Text


 toltec-head (30.05.25, 09:02)
Warst Du denn mal dort? Gab es eine Julia? Und was ist mit Daniele???

 Pearl (04.06.25, 22:58)
Lieber Quoth.

Julias kindliche Neugierde ist bezaubernd. Mit Neugierde könnte man nämlich Vorurteile hinterfragen... gar überwinden! Sie bedeutet Offenheit! Das ist das eigentliche Geheimnis dieses Textes...das habe ich jetzt verstanden.

Stefanie

 Graeculus (04.06.25, 23:48)
Auch wenn man psychische Kranke, soweit sie niemanden gefährden, in Freiheit leben läßt (was ich sympathisch finde), heißt das noch nicht, daß man sie verstehen könnte. Wenn Ernesto es ablehnt, Julia mitzuteilen, was der Mann geantwortet hat, scheint das aber einen anderen Grund zu haben. Insofern bleibt die Sache in der Schwebe - was dem Text jedoch nicht schadet.
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