Bauschutt / Cataleya

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Ich öffne die Augen. Vibrationen haben mein Gehirn taub gemacht, Erschütterungen raubten mir jedes Körpergefühl.
Die Welt außerhalb meines Kopfes besteht aus Beton. In allen Formen, die man sich vorstellen kann. Als Staub, als Brocken, als daumennagelgroße Klumpen.
Ich taste um mich, versuche die Welt mehr als nur zu erkunden. Die Schallplatte, die sie in meinem Ohr abspielt, leiert furchtbar. Meine Augen nützen mir nicht viel. Ich erkenne im fehlenden Licht nur die unwirklichen Andeutungen von Schatten, und nichts in mir rät meinem Verstand dazu, diese Erscheinungen als reale Wahrnahmung zu verbuchen. Genau so gut können es Halluzinationen sein, die die völlige Dunkelheit meinem Verstand vorspielt.
Ich war in diesem Wolkenkratzer, jetzt bin ich darunter.
Ein Wunder, dass dieser Alptraum aus Beton und Glas mich nicht getötet hat.
In meinen Armen liegt etwas Warmes. Wenn meine Erinnerungen nicht beim Aufprall aus meinem Kopf gepresst wurden, ist das Cataleya. Als sich die anderen 178 Stockwerke auf den Weg ins Erdgeschoss machten – müde gewordene, abstrakt errechnete Statik konnte sie nicht länger beeindrucken – und ich mich entscheiden musste, ob ich dem, was mir meine Sinne sagen, glauben soll, oder blindes Vertrauen in die Entscheidungen von Ingenieuren setze, kamen mir meine Reflexe zuvor, und ich presste sie in sinnlos erscheinender Hoffnung an meinen zunehmend verschwimmenden Körper, über uns ein breiter Türrahmen, unter uns die ausgehöhlte Erde.
Der Türrahmen scheint gehalten zu haben, die Existenz meiner Gedanken beweist die zumindest scheinbar vergangene Existenz seiner infantil trotzigen Standhaftigkeit. Cataleya.
Mir bleibt nicht viel Raum, mich zu bewegen. Ein deformiertes Trümmerstück, ein übergroßes Tetris-Spiel, ein spontan-natürlich entstandenes Gefängnis. Ich kann mich auf die Seite drehen, um zu überprüfen, ob Knochen klappernd meinen Körper verlassen, oder ob ich mich auf seine substanzielle Integrität noch verlassen kann, zumindest so sehr ich das vor dem Einsturz konnte.
Ich taste Cataleya ab, spüre aber weder im Brustkasten noch an den Armen und Beinen, zumindest dort, wo ich sie erreichen kann, hervorstehende Knubbel, wo keine hingehören. Ich bin kein Arzt, kann keine definitive Aussage über so abstrakte wie lächerlich risikobehaftete Gehäusebestandteile wie die Wirbelsäule treffen, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie unverletzter ist, als die Umstände vermuten lassen. Ich spüre ihren Puls, den Luftstrom auf meiner Haut, als sie den staubigen Äther ein- und wieder ausatmet. Meine Finger vibrieren sanft im Takt ihres Herzens.
„Cataleya, hörst du mich?“
Ich weiß nicht, ob meine Stimme weiter als bis zum Trommelfell in sie eindringt.
„Cataleya, das Gebäude ist eingestürzt.“
Wie armselig, das Gespräch mit dieser Feststellung zu beginnen.

Ich denke, wir werden hier unten sterben. Fatalismus, der durch die Poren im Gestein, im letzten traurigen Rest Teppich unter uns dringt und uns zu erstechen versucht, zwischen den Wolken hindurch, die die Luft geworden ist. Ein Mensch verdurstet nach drei Tagen. Verhungert ist er nach einigen Wochen.
Ich hoffe, hier kommt kein Wasser herein, sonst könnte sich die Veranstaltung noch etwas ziehen. Meine Hand gleitet auf ihren Bauch zurück.
„Cataleya, komm' schon, wach auf. Du schläfst immer viel zu lange.“
Cataleyas Existenz zeigt sich ähnlich beeindruckt von meinen Worten wie die zwei Kubikmeter Raum, in die sich unsere Welt zurückzog.
„Wir sind nicht tot, ich hab' es dir schon so oft gesagt. Als du sterben wolltest, als du sagtest, ich sei dein Engel geworden, um dich vor dem zu retten, was du dir selbst eingebrockt hast. Erinner' dich doch. Wir sind damals aus dem Nachbardorf gekommen, voller Wut und Alkohol, und du bist gefahren, obwohl du das niemals gedurft hättest. Wir sind zuhause angekommen, du belogen, ich abgewiesen, ja. Das war eine Sylvesternacht, die das Jahr wenig ehrwürdig zurück gelassen hat, so wie uns. Und während wir durch die Nacht fuhren, deine Tränen auf dein süßes Korsett fielen und in den Fußraum deines Renault Clio, und während ich mit mir selber rang, etwas zu sagen, aber was, wie und worüber, wo es doch so viel zu sagen gab und so wenig geben sollte, wiesen uns die Sterne nur ungefähr die Richtung, das Licht war aus, du wolltest das so, und du fuhrst vor Wut in den Gegenverkehr. Wir sind dort nicht gestorben, auch wenn alles, was kam, eine Strafe hätte sein müssen.“
Kein Licht dringt in unser kleines Liebesnest. Wie lange habe ich gebraucht, um das zu erzählen? Wir sind noch nicht verdurstet.
„Cataleya, weißt du noch, wie du mich damals immer von der Arbeit abgeholt hast? Ich ging um sechs in den Supermarkt und stand an der Kasse, begleitete den Markt in den letzten Zügen, die er den Tag noch einatmen konnte, wie die Menschen in ihn hinein strömten und Schund zu kaufen versuchten, wie ich über Stunden schwere Kisten in die Regale hob, sie wieder auffüllte, ein- und auslagerte, und wie ich meine Pause machte. Denk' nur, wir konnten nicht einen Tag aufeinander verzichten, ich hielt eine Kiste mit Bier im Arm oder in der Hand, in der anderen wählte ich schon deine Nummer, hoffend, dass du abnimmst, aus der Schule zurück bist oder aus dem Altersheim, in dem du arbeitetest. Und wie lieblich deine Stimme durch den Hörer drang, in mein Ohr, jede meiner Synapsen zum schwingen und tanzen brachte, als sich endlich Endorphine todesmutig jauchzend in die Blutbahn stürzten, auf das auch ich tanze. Und mir war danach, doch ich musste zurück hinter das Pult, den Leuten ihre Waren geben und das Geld wegnehmen, von dem ich nur einen Bruchteil bekam. Ich weiß nicht, wie es dir ging, doch ich war nie so glücklich wie in dieser Zeit. Von da an war die Angst, allein zu sein, nicht länger gebraucht zu werden, kaum noch da, und die freudige Erregung, in der ich deiner Ankunft harrte, die die Nacht schon unvergesslich machte, noch bevor ich dich wieder gesehen hatte, nie werde ich sie vergessen. Oder den Moment, als du all das hinfort geblasen hattest, als deine physische Anwesenheit plötzlich alles verschwinden ließ, was da war – die Kunden, die Waren, die Kisten, die Regale, doch vor allem, niemals außer Acht lassen – die Zeit.“

Das massive Gestein um uns herum ist wahnsinnig aufregend. Maximale Entropie in unserem eigenen Universum, und wir, mittendrin, gleichwohl Zentrum wie Ursprung, die wir hier eng umschlungen liegen, uns warm zu halten versuchen unter all dem Schutt. Beschützt von all dem Geröll, das mich enthemmt, dich an all das zu erinnern, auf das du deinen Lebensmut nicht verlierst, sofern du mich überhaupt hörst, denn ich weiß – du gehst bisweilen allzu leichtfertig mit dem Gedanken an den Tod um, Katze. Cataleya. Dich beschützt hier der Fels, wie in deinem eigenen Schloss, wie eine Burg, die wir besuchten. Erinnerst du dich?
„Ich kam mit dem Zug zu dir, nach Süden in unserem Land, neunzig Minuten dauert die Fahrt, genau so lange wie mit dem Auto, und dann ging ich vom Bahnhof bis zu dir, ins Stadtzentrum, wo du deine Wohnung hin verlegt hast, wobei ich dir half, und wir stiegen in deinen verrückten Renault Clio, wir fuhren bis zum Burgberg.
Du hast mich den ganzen Berg hinauf gepeitscht, immer wieder machten wir Pausen, aber du wolltest unbedingt dort oben stehen, auf alles hinab blicken können und genießen, dass du dabei noch von uralten, weisen, Geschichten erzählenden Mauern beschützt bist. Wir saßen auf dem Rand des alten Burgbrunnens, deine Hände zwischen meinen in meinem Schoß, wir küssten uns und hielten eisern zueinander, Cataleya. Wir blickten in die Tiefe und fürchteten nicht eine Sekunde, abzustürzen, sorgten wir uns doch zu sehr um den anderen, um mit so profanen Dingen wie dem eigenen Tod beschäftigt zu sein. Oh, das war im Frühling, und die Luft war fantastisch weich und feucht, kühl zwar, doch angenehm erfrischend, das Laub, das den Winter überstanden hatte, versuchte, den Herbst in unser Schloss zu tragen, doch wir mussten nicht darüber sprechen, um einstimmig der Meinung zu sein, dass da keine Gefahr besteht, dass wir niemals gegen eine lange verschiedene Jahreszeit verlieren würden. Ein Sigma in einem Baum, mit meinem Taschenmesser eingeritzt, ein wunderschöner Buchstabe, und dieses Symbol völlig ohne Bedeutung, für uns und jeden anderen.
Ich würde so gerne wieder dort hinauf steigen, mit dir an meiner Seite, und diesen Tag wiederholen, jeden Tag, bis ans Ende unser beider Stunden, weil es so großartig war. Der Wind sang Hymnen durch die Blätter, und es war selbstverständlich, dass sie uns galten, die Fanfaren der Vögel in den Bäumen, die unser Leben teilen wollten und das Rascheln des Grases unter unseren Füßen. Oh, Cataleya – lass uns wieder auf den Burgberg steigen.“
Das ehemals stabile, nun aus seiner Realität gerissene Gebäude scheint sich unwohl zu fühlen, es knirscht, brummt, kracht, stellenweise bricht es scheinbar. Es ist keine Stunde her, da bildete es das Zentrum unserer Stadt, den Monolithen, der die Mitte markiert, den Nabel der Welt und ihre Achse, Axis Mundi. Der Nabel unserer Stadt, deiner und meiner, und das Herzstück der Erinnerung, als ich nachts aus dem Haus schlich, niemand mehr zuhause, um die Häuser, um die Ecken, Zigaretten am Kiosk gekauft für dich und für mich, und wie ich heimlich durch mein Viertel lief, durch Schnee und die Kälte, nur um bei dir zu sein, dich zu halten, dich auf deiner bettgestelllosen Matratze zu lieben, stundenlang, wie wir einfach unser Liebesspiel unterbrochen haben, um zusammen zu rauchen. Der Moment, als ich uns Abendessen machte und du das Stück auf der Bühne in der Küche aufführtest, auf Knien, zwischen meinen Beinen, vor mir, auf mir, auf dem Küchentisch, bis dir klar wurde, dass du keine Vorhänge in der Küche hast, und wie wir lachten, als wir im Schlafzimmer rauchten bei Bohnen und Speck. Ich weiß, wie ich mich am Rauch verschluckte, diesem süßen, harten Rauch, und wie wir uns auf dem Kraut liebten, das du mitgebracht hast.
Wie du mir sagtest, dass es elf Uhr ist und unsere Zeit endete. Und ich eilte durch die Kälte, ein Gefühl, als hätte ich dich für immer verloren, nur, weil es so kalt war. Wie ich durch den Park lief, hoffentlich ist niemand da, wenn ich heim komme, und wie sich das warme, gelbe Licht unbarmherzig durch die Nacht fraß und mir sagte, dass ich zu spät bin. Wie das Geräusch des Schlüssels im Schloss zum lautesten Geräusch im Universum wurde.

Es rumort immer lauter jetzt. Ich glaube, ich höre Stimmen, und der Schmutz rieselt von der Decke, die so viel Barmherzigkeit zeigt. Ich spüre dein Herz unter mir pochen, wie es eigentlich mir all das erzählt und nicht dir, und ich bete, dass du bei mir bleibst.
"Liebst du mich?" Weht mir der Wind sanft deine Frage ins Ohr, während oben jemand die Trümmer beiseite schafft, die sie hier in unserer Festung halten.
"Ach, Cataleya. Diese Frage stellt man doch nicht. Nein, man wartet auf den richtigen Zeitpunkt, und dann sagt man 'Ich liebe dich', fängt an zu warten und versucht, gleichzeitig jedwedes Mienenspiel zu unterdrücken und den eigenen Darm daran zu hindern, das Herz aus dem Körper auszuscheiden."


Anmerkung von bluedotexec:

Endlich wieder was Kurzes.

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