Lila - Die Ankunft

Roman zum Thema Begegnung

von  Mutter

Sie legten noch ein gutes Stück Weg Richtung Erras zurück, bevor die Sonne hinter den Hügeln im Westen verschwand und sie anfingen, sich nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht umzusehen. Gegen Nachmittag hatte der Wind aufgefrischt. Mehr als einmal hatte Tibao fröstelnd seinen Mantel fester um sich gezogen und einen Blick auf den nackten Oberkörpers seines Weggefährten geworfen. Die Kälte schien den größeren Tua nicht zu stören.
‚Was hältst du davon, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen und die Nacht im Wald zu verbringen?‘, fragte Tibao mit einem Blick auf den Weg, der nach einem Abzweig  einen kleinen Schlenker in eine Talsohle machte. Dort lagen bereits die ersten Ausläufer der dichten Wälder, die sich weiter nach Westen erstreckten.
Auf ihrer momentanen Route würden sie die Nacht vermutlich im kargen Heidegestrüpp zwischen den Bergen und den Wäldern verbringen - Tibao konnte sich den ungemütlichen, kalten Wind dort lebhaft vorstellen.
Ferron hatte keine Einwände, und Tibao lenkte den Wagen auf den neuen Pfad.
Nach einer kurzen Weile erreichten sie den Schutz der Bäume, und obwohl es dort keinesfalls warm war, nahm die Aggressivität des Windes deutlich ab.
Tibao folgte dem Weg, der weiter in den Wald hinein führte und hielt erst an, als die Dunkelheit bereits fast komplett hereingebrochen war.
‚Ich dachte schon, du wolltest die Nacht über durch fahren‘, brummte Ferron und machte sich daran, die Ponys zu versorgen, nachdem er geschmeidig vom Bock geglitten war.
Tibao holte ihre Sachen aus dem Wagen und begann, ein kleines Feuer zu entfachen. Nicht weit entfernt vom Weg befand sich eine kleine geschützte Kuhle, die Tibao als ihr Lager für die Nacht auserkoren hatte.
Nach dem Abendessen, das aus frischen Pasteten, Obst und Kräuterbier bestand - Vorräten, die Tibao noch im Dorf erstanden hatte - zündete sich der kleine Waldbewohner seine Pfeife an, hüllte sich in ein dichtes Fell und lehnte sich zurück, um dem Heulen des Windes in den Ästen zu lauschen.
‚Ich hätte nicht gedacht, dass wir es heute Abend so gemütlich haben werden‘, sagte er nach einer Weile zufrieden.
Ferron, der versunken in die ersterbende Glut gestarrt hatte, sah auf. ‚Sehr idyllisch.‘
Mit einem Lächeln zog Tibao an seiner Pfeife, ignorierte den Sarkasmus seines Gefährten und blies helle Wölkchen in den dunklen Himmel. ‚Ich wäre auch lieber im Dorf geblieben, aber das Risiko ist zu groß. In der Herberge können wir nicht auf den Wagen aufpassen.‘
Ein plötzliches Geräusch ließ ihn hochfahren. Ferron sah ihn über das Feuer hinweg aus dunklen Augen an, die Beine unter den Körper gezogen. Erst als der kleine Mann sichtbar lockerer wurde, entspannte auch er sich wieder.
‚Was war das? Was hast du gehört?‘
‚Wölfe. Fast nicht zu hören, bei dem Lärm, den der Wind macht. Nicht sehr weit weg, aber die haben noch zu viel zu fressen, um uns zu behelligen. Vielleicht sollten wir trotzdem das Feuer brennen lassen.‘ Er warf einen weiteren dicken Holzscheit auf das Feuer. Sie transportierten genug Scheite für zwei Abende in dem Wagen, aber wenn sie das Feuer brennen lassen würden, würde das nicht nur ihre Vorräte aufbrauchen, sondern sie müssten im Morgengrauen vermutlich auch auf feuchtes Holz aus dem Wald zurückgreifen.
‚Spiel mir was auf deiner Flöte, Tibao‘, sagte Ferron mit tiefer Stimme, ohne aufzusehen.
Unwillig den Kopf schüttelnd, antwortete sein Gegenüber: ‚Es ist schon melancholisch genug hier. Der Wald würde jeden fröhlichen Laut verschlucken und durch mehr Düsterkeit ersetzen.‘
Leicht in Gedanken versunken, hörte Tibao ein leises Geräusch im Unterholz. Einen kleinen Moment später trat ein riesiger Hund in den Lichtkreis ihres kleinen Feuers. Der Hund besaß die Größe eines kleinen Kalbs und sein kurzes, glattes Fell war von einem glänzenden Grau-Schwarz. Bewegungslos und ohne einen Laut von sich zu geben, betrachtete der Hund sie beide. Ein kurzer Seitenblick auf Ferron zeigte Tibao, dass auch der Schmied nur wie gebannt auf die Erscheinung starrte.
Genauso plötzlich wie er erschienen war, verschwand der Hund wieder. Lautlos wie ein Geist, drehte er sich um und war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Tibao konnte ihn noch einen Moment im Wald hören, wenn auch nur mit Mühe.
‚Was, bei allen Farben, war das?‘
‚Vielleicht ist der jemandem entlaufen?‘
Tibao schüttelte den Kopf. ‚Wie ein Streuner hat er sich nicht benommen. Weder feindselig noch freundlich genug. Fast so, als hätte ihn jemand geschickt.‘
Entschlossen stand Ferron auf und erstickte das Feuer mit lockerer Erde. Genervt wandte sich Tibao ab und schützte sein Gesicht vor dem Sand, mit dem ihn Ferron zu bedecken drohte.
‚Was soll das?‘
‚Falls ihn jemand geschickt hat, kommt uns vielleicht heute Nacht jemand besuchen - ich lasse hier kein Feuer brennen, um ihnen den Weg zu zeigen.‘ Mit diesen Worten holte er seinen schweren Hammer aus dem Wagen, band die Lederschlaufe um sein Handgelenk und hockte sich wieder hin, wartend. Brütend.
‚Sag mir Bescheid, wenn jemand kommt‘, sagte Tibao, unwillig darüber, die angenehme Wärme der Glut verloren zu haben, und legte sich hin.

Er erwachte in vollkommener Dunkelheit. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Einen Augenblick blieb es still, dann konnte er es erneut hören: Jemand bewegte sich durch den Wald auf sie zu. Durch die Feuchtigkeit war es relativ einfach, wenig Geräusche zu machen, und wer auch immer nach ihnen suchte, bewegte sich geschickt in der Dunkelheit. Andere Ohren als die eines Waldbewohners hätten ihn wohl nicht einmal wahrgenommen.
Tibao konnte den Moment, an dem ihn Ferron endlich am Stiefel berührte, um ihn aufzuwecken, genau vorhersagen. Der Tua war sehr aufmerksam und seine Sinne extrem geschärft, aber die Wahrnehmung des Schmiedes konnte es nicht annähernd mit Tibaos aufnehmen. Ohne Gefahr, entdeckt zu werden, lächelte er im Dunklen, als er sich leise aus dem Fell schälte und neben Ferron hockte.
Einen kurzen Augenblick später konnte Tibao am gegenüberliegenden Rand ihres kleinen Lagers ein Schemen wahrnehmen. Fast zeitgleich hörte er den offenen Atem des Hundes. Kurz darauf erschien ein zweiter, gleichgroßer Schatten und sie konnten das laute aufmerksame Schnuppern der beiden Tiere hören.
Tibao fühlte Ferron neben sich zusammenzucken, als der Waldbewohner laut in einen Apfel biss, den er aus seiner Tasche gefischt hatte. Im selben Moment tauchte die vage Silhouette eines Mannes zwischen den Hunden auf. Tibao konnte die Anspannung seines Gefährten fühlen.
Konzentriert und mit einer schnellen Handbewegung löste Tibao einen Zauber aus, der die Erde von den Resten ihres Lagerfeuers entfernte. Ein zweiter Spruch entflammte das verbliebene Holz mit den letzten noch schwach glimmenden Funken.
Die hellen Flammen leckten gierig am Holz hoch und tauchten die beiden Reisenden und die drei Neuankömmlinge schlagartig in den Lichtkreis des Feuers.
Erschrocken schützte der Fremde mit der Linken seine Augen und hielt den schweren Langspeer, den er in der Rechten trug, abwehrend vor sich. Die beiden Hunde sträubten die Nackenhaare und ließen ein tiefes, bedrohliches Knurren vernehmen.
Ferron sprang auf und hob den Hammer, aber die Reaktion der beiden großen Hunde, die sich wie ein Haar dem anderen glichen, ließ ihn nicht weiter vorgehen.
‚Wer seid Ihr, und was habt Ihr in unserem Lager verloren?‘, fragte Tibao, ebenfalls aufstehend, und machte einen kleinen Schritt nach vorne. Die Hunde duckten sich und fletschten die Zähne.
‚Rosh hat mich hergeführt. Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu überraschen.‘ Der Fremde schien sich an das Licht gewöhnt zu haben und ließ seine Hand vom Gesicht sinken. Tibao betrachtete sein hageres, vom Wetter gegerbtes Gesicht und seine abgetragene, praktische Kleidung aus derbem Leder. Sein abgegriffener Langspeer, ein kurzer Bogen, den er über den Rücken geschlungen trug und ein langer Dolch waren seine einzigen Waffen und wiesen ihn als Waldläufer aus. Die kalte Härte in seinen dunklen Augen ließen Tibao allerdings daran zweifeln, dass sein Gegenüber dem Beruf eines einfachen Försters oder Wildhüters nachging.

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