Ich weiß, dass ich nichts weiß. Gedanken zu einem irritierenden Aphorismus des Sokrates

Aphorismus zum Thema Selbstironie

von  EkkehartMittelberg

Dieser Text ist Teil der Serie  Aphorismen
„Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ (οἶδα οὐκ εἰδώς, oîda ouk eidōs)
Dieses Zitat stammt aus Platons Apologie, der Rechtfertigungsrede des Sokrates gegen die Anklage, gegen die Götter gefrevelt und die Athenische Jugend verdorben zu haben (399 vor Chr.)

Über die Jahrhunderte hinweg hat der obige dem Sokrates zugeschriebene Aphorismus an Faszination nichts eingebüßt, obwohl er auf einem Übersetzungsfehler beruht. Denn wörtlich übersetzt heißt  die altgriechische Sentenz oîda ouk eidōs  „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“
Meine These ist, dass man für den Übersetzungsfehler dankbar sein sollte. Die bekannteste Fassung „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ erscheint nämlich besonders plausibel. Sie ist bestimmt nicht so zu verstehen, als habe Sokrates sagen wollen, dass er über kein überliefertes bzw. schriftlich festgehaltenes Alltagswissen verfüge. Nur ist ihm dieses praktische Wissen nicht der Rede wert. Es geht ihm auch nicht um naturwissenschaftliche oder mathematische Erkenntnisse, sondern um das Wissen von der Seele oder anders um das Wissen von Gut und Böse.
Wie ist es nun zu erklären, dass das auf einem Übersetzungsfehler beruhende Paradoxon „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ immer wieder aufs Neue zitiert wird und fasziniert? Jeder, der sich ein bisschen mit Philosophie befasst hat, weiß, dass der Erwerb neuen Wissens in der Regel immer neue Fragen aufwirft und dass mit zunehmendem Wissen die Erkenntnis immer deutlicher wird, dass man nur Bruchstücke weiß, gemessen an dem von Menschen erschlossenen Universalwissen.  Ein simpler Kopf, der etwas Lexikonwissen auswendig gelernt hat, mag meinen, er wisse etwas, ein scharfsinniges Hirn jedoch wird die vielen mit seinem Wissen einhergehenden unbeantworteten Fragen erkennen und im Prinzip zu der Auffassung gelangen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Wie steht es nun mit den textkritisch korrekten Fassungen „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“
Die zweite Übersetzung „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ erscheint mir auf den ersten Blick fast als töricht, wenn man sie wörtlich nimmt, weil ihr ein Objekt fehlt. Sie müsste lauten: Ich weiß, das ich dieses oder jenes nicht weiß. Das aber wird wohl jeder sagen müssen, der halbwegs bei Verstand ist. Die erste Version „Ich weiß als Nichtwissender“ macht allerdings viel Sinn. Gemeint ist, dass das Nichtwissen methodisch eingesetzt wird, um wie Sokrates es machte, mit der Kunst des mäeutischen Fragens (Hebammenkunst) den Gesprächspartner zu der Erkenntnis seines unzureichenden Wissens zu führen. Dabei gibt der Fragende vor, unwissend zu sein und stellt Fragen, die die in ihnen enthaltene Antwort nahe legen. Durch diese Fragetechnik des vermeintlich Nichtwissenden wird der Standpunkt des Befragten schrittweise erschüttert, sodass er schließlich bereit ist, Nichtwissen als prinzipielle Basis bei der Suche nach Erkenntnis zu akzeptieren.
Ekkehart Mittelberg, Februar 2011

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Kommentare zu diesem Text

*Frieda* (48)
(05.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.11:
Liebe Frieda, würde Sokrates noch leben, stimmte er deinem Text sicher zu. Auch mir kleinem Licht ist er aus Herz und Verstand gesprochen.
Nur eine kleine Anmerkung: Wenn jemand mit seinem Nichtwissen kokettiert, kann ich das nicht leiden. Aber ich vermute, dir geht es nicht anders.
Vielen Dank und liebe Grüße
Ekki
*Frieda* (48) antwortete darauf am 05.02.11:
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Helix (39)
(05.02.11)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 05.02.11:
Es ist beste sokratische Manier, alles zu hinterfragen, also auch, was das "nichts" ist. Und das tust du, Helix. Danke! Du findest auch die richtige vorläufige Antwort: "Nichts ist ungleich Nichtwissen". Was aber ist nichts positiv definiert? Es ist ein Wissen, das mit der menschlichen Seele zu tun hat und damit, wie sie es lernt, das Schöne und Gute zu tun. Dazu will Sokrates seine Gesprächspartner führen und er gibt vor, nichts zu wissen, damit das, was seine Gesprächspartner glauben zu wissen, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden kann.
Liebe Grüße
Ekki
Helix (39) äußerte darauf am 05.02.11:
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 05.02.11:
Das kann schon sein. Aber wir sollten uns hier auf das beschränken, was Sokrates mit dem "nichts" gemeint hat.
LG

 Momo (05.02.11)
Hallo Ekki,

Wissen ist eng an Erkenntnisfähigkeit geknüpft. Mir erscheint die Aussage: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ gar nicht so töricht, wenn man ihn so interpretiert: Ich weiß, dass ich nicht erkenne, oder: Ich weiß, dass ich nicht erkennen kann.
Das bedeutet, ich kann die Dinge mit dem Verstand nur in ihrer Äußerlichkeit erfassen, nie aber bis zu ihrem Wesen vordringen.

Ich finde, dieser Apho hat nichts von seiner Aussagekraft eingebüßt, auch heute gibt es noch jede Menge Neuland, das es zu erforschen gilt, auch wenn viele Menschen der Meinung sind, die Wissenschaft habe die meisten Rätsel und Geheimnisse mittlerweile gelöst.

Es grüßt dich, Momo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.11:
Vielen Dank, Momo, man kann die Version "ich weiß, dass ich nicht weiß" mit deiner Argumentation "retten", aber das ist nicht nötig, weil es ja die andere Übersetzung gibt: "Ich weiß als Nichtwissender", die der Absicht des Sokrates viel näner kommt.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (05.02.11)
Ich denke, wirklich ein heilsamer Übersetzungsfehler. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.11:
Danke, Armin, ich meine das auch, weil so durch zwei Fassungen, die fehlerhafte und die korrekte fruchtbares Denken ausgelöst wurde.
LG Ekki
Songline (45)
(05.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.02.11:
Vielen Dank, Songline, ein interessanter Gedanke. In Grenzen haben Kinder und Sokrates etwas gemeinsam. Kinder, die fragen, sind in der Regel durch Vorwissen nicht belastet. Sokrates gibt sich bei seinen Fragen den Anschein, als sei er es nicht,
Liebe Grüße
Ekki
DerAutor (42)
(05.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.11:
Danke, John. Ich finde den Satz deines Mentors vernünftig. Ich vermute, du hast ihn hier ironisch verwendet. Sokrates war nämlich auf ein Wissen aus, das man nicht nachschlagen kann, sondern das man sich durch dialektisches Denken immer wieder neu erarbeiten muss
Skandia (43)
(06.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.11:
herzlichen Dank für deinen Kommentar, Skandia. Dieser endlose Prozess des Denkens und hoffentlich auch daraus resultierenden Handelns ist lustbetont. Auch ich möchte ihn nicht missen.
Liebe Grüße Ekki

 princess (06.02.11)
Die Genrewahl "Aphorismus" verstehe ich hier nicht. Womit wir bereits beim Thema wären: Ich weiß, dass ich... Ich weiß es echt! Und: Deinen Gedanken zu folgen, lieber Ekki, war mir wirklich ein Vergnügen.
Nicht-wissende Grüße, Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.11:
Liebe Ira,
Vielen Dank für deine Frage. Genau genommen ist die Sentenz des Sokrates ein Paradoxon. Gute Aphorismen zeichne sich aber durch Kürze und bewusst irritierende paradoxe Aussagen aus. In diesem Sinne ist die Sentenz ein Aphorismus.
Liebe Grüße
Ekki

 princess meinte dazu am 06.02.11:
Lieber Ekki,
dass sich dein Text auf einen Aphorismus bezieht... das ohne Zweifel. Nur: Warum "Aphorismus" als "Genre"? Das Genre ist doch eine Aussage über die Art des Textes, in diesem Falle also eine Erörterung oder was auch immer... über einen Aphorismus an sich gehst du mit deinem Text ja deutlich hinaus. Meine ich zu wissen. Aber du weißt ja: Ich weiß, dass ich nicht weiß.
Ist ja auch nur eine Kleinigkeit, die mir einfach ins Auge stach. Und der Text an sich: 1a!
Liebe Grüße, Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.11:
erklärt sich recht einfach, liebe Ira. Ich habe es unter Aphorimus gestellt, weil die Hauptüberschrift lautet: "Gedanken zu einem irritierenden Aphorismus..."
Den Untertitel: "Aphorismus zum Thema Selbstironie" hat der Automatismus des Computers geschaffen. Mein Artikel ist, da hast du recht, kein Aphorismus, sondern ein Essay.
danke wg. der Nachfrage
Ekki
SigrunAl-Badri (52)
(06.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.02.11:
Vielen Dank, liebe Sigrun. Ja, das wahre Wissen ist Erfahrungswissen, das umgesetzt wird in praktisches Handeln. Der, der nicht weiß, dass er nichts weiß, wird nur die Erfahrungen umsetzen; die seine Vorurteile bestätigen.
ghg und auch dir einen schönen Wochenausklang
Ekki

 ViktorVanHynthersin (07.02.11)
Wissen ist Macht und nichts wissen macht nichts - dieser Spontispruch aus den 80zigern war einst mein Favorit. Genauer und mit zeitlichem Abstand betrachtet ist er falsch und taugt bestenfalls als Versuch einer Entschuldigung. Um so näher kommt Sokrates (ob nun richtig oder fast richtig übersetzt) dem Leben.
Herzlichst
Viktor

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.02.11:
Herzlichen Dank, Viktor, es ist schon erstaunlich, wie vital der Aphorismus des Sokrates über die Jahrhunderte bleibt, obwohl die Sophisten, die heute vielleicht mächtiger sind denn je, ihn heftig bekämpfen.
Liebe Grüße
Ekki
ichbinelvis1951 (64)
(13.02.11)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.02.11:
Lieber Klaus, ich freue mich sehr, dass wir uns hier kennengelernt haben.
Danke Ekki
Schrybyr† (67)
(18.07.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.07.13:
Du hast beeindruckende Argumente für unsere Nichtigkeit als Fragende und Suchende aufgeführt, besonders das mit dem metaphysischen Zeitvertreib. Aber eines bleibt uns bei aller Nichtigkeit: Solange wir fragen und suchen, wissen wir, dass wir sind, selbst dann, wenn wir nur die ins Unendliche potenzierte Winzigkeit von einem Staubpartikelchen sind.
Vielen Dank und beste Grüße
Ekki
Schrybyr† (67) meinte dazu am 18.07.13:
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 harzgebirgler (13.03.22, 18:35)
die betonung auf's erste "weiß" zu legen
kommt dem wort noch am ehesten entgegen:
er weiß, dass er nichts weiß doch viele nicht
die rumlaufen mit wissendem gesicht.

herzliche sonntagabendgrüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.03.22 um 21:05:
Vielen Dank, Henning. Je mehr belangloses Wissen man anhäuft, desto mehr weiß man, dass man nichts weiß.
LG
Ekki
Agnete (66)
(28.09.22, 19:03)
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