Europäische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Jiddische Erzählungen. Scholem Alejchem, Eine Begegnung

Erzählung zum Thema Selbstironie

von  EkkehartMittelberg

Vorbemerkung
1993 haben Herbert Fuchs, Dieter Seiffert und ich die unseres Erachtens besten europäischen Erzählungen unter dem Titel
„Europäische Erzählungen des 20. Jahrhunderts“
in zwei Bänden bei Cornelsen herausgegeben. Der Absatz an Schulen war nur mäßig. Aber das lag wohl in erster Linie an den deutschen Bildungsplänen, die für diesen Luxus wenig Raum ließen.
Wie auch immer, ich möchte Ihnen in Fortsetzung einige dieser Erzählungen vorstellen, falls sie Ihnen gefallen sollten. Doch es gibt da ein Hindernis. Das Urheberrecht erlaubt es mir nicht, sie ganz abzudrucken. Also werde ich sie Ihnen in einer Nacherzählung mit Originalzitaten vorstellen.

Scholem Alejchem

Scholem Alejchem (= Friede mit euch), eigentlich Scholem Rabinowitsch (1859-1916), gilt als der bedeutendste Humorist der jiddischen Literatur. Er wurde in der Ukraine geboren und starb in New York. Er wirkte bis 1883 als Rabbiner und begann in diesem Jahr jiddisch zu schreiben.
In der Zeitschrift “Die jiddische Volksbibliothek“ erschienen seine ersten Romane „Stempenju“ (1888, deutsch 1908) und „Jossele,die Nachtigall“ (1889).
1905 flüchtete er nach den Pogromen aus Russland. Er zog danach mit seiner großen Familie rastlos durch Europa und Amerika.
Mit versöhnlichem Humor, der aber den Blick für die Realitäten nicht verschleiert, schildert Scholem Alejchem in seinen Romanen, Erzählungen und Schauspielen den Typus des ostjüdischen Kleinbürgers mit seinen Vorzügen und Fehlern. „In seinen acht humoristischen Schilderungen des Alltagslebens hält er seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vor. So werden beispielsweise in der Erzählung „Die verlorene Schlacht“ der Rebbe, der Lehrer der jüdischen Elementarschule, und seine Gehilfen wegen ihres mangelnden Durchsetzungsvermögens aufs Korn genommen. In „Eine Wette“ karikiert Scholem Alejchem eine für Juden sprichwörtlich gewordene Eigenschaft, den Geiz.
„Das große Los“ ist eine wunderliche Geschichte, in der berichtet wird, wie Tewje, der Milchmann, ein armer Teufel und Vater vieler Kinder, durch ein sonderbares Geheimnis plötzlich aus seinen Nöten befreit wird. In der Gestalt von Jente, der Geflügelhändlerin in „Der Topf“, hat Scholem Alejchem einem Typus des ostjüdischen Kleinbürgertums ein Denkmal gesetzt.“ (Scholem Alejchem: Die verlorene Schlacht. Humoristische Erzählungen. Aus dem Jiddischen von Mathias Acher. Athenäum, Königstein/Ts. 1984) Sein Roman „Tewje, der Milchmann“ (1894, dt. 1921, 1962) wurde als Musical „Der Fiedler auf dem Dach“ein Welterfolg.

Scholem Alejchem: Eine Begegnung

Der Vertreter Max Berland war im osteuropäischen Raum immer wieder auf Reisen und musste wegen des Judentums viele Demütigungen und Ärger auf sich nehmen.
„Nicht weil es ein Judentum gab, sondern weil er unglücklicherweise ein Jude war, obendrein von echt jüdischem Aussehen, nach dem Ebenbild Gottes, ja, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen: mit echt jüdischen, schwarzen, glänzenden Augen, echt jüdischem, schwarzem, gekräuseltem Haar, mit echt jüdischer, röchelnder Aussprache, und dazu eine Nase, oh, eine Nase!“

Er putzte sich exotisch heraus, um sein jüdisches Aussehen zu verbergen.

„Aber trotz aller Bemühungen gelang es Max Berland nicht, seine Abstammung vor den Juden wie vor den Andersgläubigen zu verleugnen. Man erkannte ihn, wie einen bösen Schilling, genau so wie den vermaledeiten Kain: Auf Schritt und Tritt ließ man ihn fühlen, wer er ist und was er ist. Kurz, er war tatsächlich zu bedauern.“

Von1903 -1906 hatten in Kischinew, der heutigen moldawischen Hauptstadt Chisinau, entsetzliche Pogrome stattgefunden, bei denen 2000 Juden umkamen. In Erinnerung daran litt Max Höllenqualen und er schämte sich seines tiefen Schmerzes. Jetzt musste er wieder in diese Region reisen.

„Max schämte sich der Stadt Kischinew, als würde sie ihm gehören. […] Er fühlte, dass er neuen Qualen ausgesetzt sein würde. Er wusste genau, dass er dort die umständlichen ausführlichen Erzählungen, das Jammern und Seufzen seiner Glaubensgenossen und die spöttischen Bemerkungen der Fremden würde anhören müssen; je mehr er sich jener Gegend näherte, umso mehr hätte er vor sich selbst fliehen mögen.“

Bei einem Halt des Zuges entdeckt er einen Tisch mit Zeitungen.

„Sein Blick fiel auf „Die Standarte“, ein feines antisemitisches Blatt, das von einem Herrn Kruschewan, einem feinen Antisemiten, herausgegeben wurde. Das Blatt blieb gewöhnlich unberührt liegen, weil kein Mensch nach ihm verlangte. Die Juden nahmen es nicht in die Hand, weil es zu abscheulich war, die Nichtjuden hatten sich an ihm schon satt gelesen. So ruhte es friedlich und gemahnte die Menge nur daran, dass es einen Herrn Kruschewan gab, der nicht schlief und nicht ruhte und immer nach neuen Mitteln suchte, die Welt von der Krankheit, genannt „das Judentum“, zu beschützen und zu bewahren.“

Aus einer spontanen Laune kaufte sich  Max Berland eine Nummer der Standarte, streckte sich auf der Bank des Zuges aus und bedeckte sich mit der Zeitung wie mit einer Reisedecke. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, was wohl ein Jude, der sein Abteil aufsuchen würde, dächte, fände er ihn unter der Decke der Standarte vor. Er würde ihn bestimmt nicht für einen Juden halten und so könnte er die ganze Nacht bequem liegen bleiben.

„So dachte unser Herr. Damit auch niemand erkenne,wer auf der Bank lag, zog er die Zeitung über das Gesicht und verdeckte Nase, Augen, Haar, kurz, das ganze Ebenbild Gottes.“

Doch es kam anders, als es sich der schlaue Jude Max Berland vorgestellt hatte.

„In das Abteil stieg zwar keuchend ein Reisender, ein dicker, derber Mann, mit Koffern beladen, der sich wirklich Max näherte, ihn wirklich betrachtete und die „Standarte“ bemerkte, mit der er sich zugedeckt hatte, aber er spie nicht dreimal aus und verließ auch nicht das Abteil. Er sah sich diesen sonderbaren Menschen, den Antisemiten mit der semitischen Nase genau an. Das Blatt war nämlich, während Max schlief, heruntergerutscht, und die Schande, das heißt die Nase, ragte unter der Zeitung in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit hervor.“

Der neue Reisende betrachtete Max lächelnd, kaufte sich ebenfalls eine „Standarte“, machte es sich auf der Bank gegenüber bequem und fiel bei der Lektüre der Zeitung in einen Schlaf, bei dem er schnarchte und röchelte. Doch wer ist der neue Standartenträger?

„Er ist General. Nicht ein General vom Militär und auch kein Generalgouverneur, sondern Generalinspektor, das heißt Agent einer Gesellschaft. Er heißt Niemtschyk.. Sein Vorname ist Chaim, aber er schreibt sich Albert und wird Peti genannt. Es mag merkwürdig erscheinen, aber es verhält sich tatsächlich so. Sic transit gloria mundi. So wird aus einer Ente ein Puthahn. Dass er Peti genannt wird und Generalinspektor ist, ändert aber nichts an der Tatsache, dass er Jude ist, so gut wie alle anderen, dass er die Juden gern hat und für den jüdischen Sabbat mit jüdischen Fischen, jüdischen Frauen und echt jüdischen Anekdoten schwärmt.“

Der „Antisemit“ Nr. 1 Max Berland hatte verworrene Träume, in denen es ihm schien, als sei er nicht Max Berland, sondern Herr Kruschewan, der Herausgeber der „Standarte“, und er fahre nicht in der Eisenbahn, sondern er reite auf einem Schwein und höre in der Ferne ein Jammern und Winseln: Ki-schi-new.

„Ein leiser Wind säuselte ihm in den Ohren, er vernahm das Rascheln der Blätter; er wollte die Augen öffnen, doch er konnte es nicht, er griff nach seiner Nase, doch die Nase war fort, spurlos verschwunden; an Stelle der Nase berührte er die „Standarte“. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er wollte sich bewegen, aber er konnte nicht, er wollte schreien, aber er konnte nicht. Er wusste wohl, dass er träumte, doch er vermochte sich nicht zu ermannen und den Schlaf zu überwinden. Hilflos lag er da, in furchtbaren Qualen, ein schweres Alpdrücken auf der Brust. Er fühlte, wie seine Kräfte schwanden.“

Endlich schüttelte Max den Traum ab und entdeckte eine Gestalt, die sich wie er selbst mit der Standarte zugedeckt hatte. Erschrocken und mit gesträubten Haaren glaubte er, sich ohne Spiegel selbst zu sehen. Als er schließlich begriffen hatte, dass ihm ein anderer Mensch gegenüber lag, blieb das große Rätsel, weshalb dieser sich gerade mit der „Standarte“ zugedeckt hatte. Als die beiden sich bewegten, knisterten die Zeitungen und Max bemerkte, dass der Mitreisende ihn lächelnd beobachtete.

„So lagen unsere beiden Antisemiten sich gegenüber und glotzten sich stillschweigend an. Obgleich sie beide von Neugierde verzehrt wurden, zu erfahren, wer sie waren, legten sie sich Zwang auf und schwiegen. Plötzlich kam aber Peti auf einen klugen Gedanken: Er begann die Melodie eines bekannten jüdischen Liedes leise zu pfeifen:“Im Ofen brennt das Feuer...“
Leise pfeifend stimmte Max ein: „Im Stübchen ist’s so warm.“
Nun richteten sich unsere beiden Standartenträger auf und tauschten einen Händedruck.
„Schalom alechem – Friede mit euch!“
„Alechem Schalom!“ “

Interpretation:
Die Erzählung bezieht ihren Reiz aus der typisch jüdischen Fähigkeit Scholem Alejchems zur Selbstironie, die weit ausgeprägter ist als die Ironie des Erzählers gegenüber Antisemiten wie dem Herrn Kruschewan. Natürlich ist es auch Selbstironie, wenn Alejchem Max Berland und Peti als Antisemiten bezeichnet. Aber er kritisiert, wenn auch versöhnlich, ihren Hang zur Selbstverleugnung. Sie wollen nicht als Juden erkannt werden und erkennen sich doch als solche mit Hilfe eines typisch jüdischen Lieds. Dabei ist es so verständlich, dass jemand wie Max, der täglich die durch die Pogrome angefachten Demütigungen erfahren muss, sich der Identifikation als Jude zu entziehen versucht.
Der Erzähler musste selbst vor den Pogromen fliehen. Man könnte Bitterkeit erwarten. Stattdessen
begegnet er dem Entsetzlichen mit einem Humor, der seine „Helden“ mit ihren so menschlichen Schwächen liebenswert macht.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(08.09.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.09.15:
Vielen Dank für den Hinweis auf das Buch von Theodor Lessing, das ich nicht kenne.
Ich denke aber die folgende Textstelle belegt eindeutig, dass der Erzähler die Bezeichnung Antisemiten ironisch meint:
"Dass er Peti genannt wird und Generalinspektor ist, ändert aber nichts an der Tatsache, dass er Jude ist, so gut wie alle anderen, dass er die Juden gern hat und für den jüdischen Sabbat mit jüdischen Fischen, jüdischen Frauen und echt jüdischen Anekdoten schwärmt.“
Warum sollten sich die beiden auch am Ende so klar als Juden bekennen, wenn sie sich als Antisemiten verstünden?
(Antwort korrigiert am 08.09.2015)
Graeculus (69) antwortete darauf am 08.09.15:
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 08.09.15:
ja, der große Name Theodor Lessing ist mir öfter begegnet. Aber leider ist unser Leben zu kurz, alles zu lesen, was viel verspricht.

 TrekanBelluvitsh (08.09.15)
"So ruhte es friedlich und gemahnte die Menge nur daran, dass es einen Herrn Kruschewan gab, (...)"
In diesem Satz liegt so viel Humor, Warnung und (berechtigte) Furcht, dass er allein die Bezeichnung "Tragikomödie" verdient.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.09.15:
Schön, dass du diese Stelle hervorgehoben hast, Trekan. Sie trägt wesentlich mit dazu bei, einen Kontext zu schaffen, in dem ich mir den Antisemitismus von Max und Pete nicht ernsthaft, sondern nur ironisch vorstellen kann. Merci.
chichi† (80)
(08.09.15)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 08.09.15:
Naja, Gerda, Bildung ist relativ, aber ich freue mich natürlich darüber, dass du diese Erzählung gerne gelesen hast. Grazie.

LG
Ekki
Abulie (45)
(08.09.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.09.15:
Abulie, in der Schule hängt sehr viel von der Vermittlung ab, aber danke dafür, dass du die Erzählung gelesen hast.

 AZU20 (08.09.15)
Auch in meinem Alter lernt man noch was dazu. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.09.15:
Armin, vielleicht lernen wir in unserem Lebensalter am meisten dazu, weil uns die kurze Lebenserwartung dazu zwingt, sorgfältig das Lernenswerte zu bedenken.
Merci.
LG
Ekki
Ecnal (50)
(08.09.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.09.15:
Wir haben uns wechselseitig zu wichtigen literarischen Begegnungen geführt. Dafür auch meinen Dank, Lance.

LG
Ekki

 Dieter Wal (09.09.15)
Danke für deine Mitteilung. Lese gern diesen Autor. Mein Lieblingsschriftsteller des Jiddischen im Bereich Prosa ist Israel Bashevis Singer. Keins seiner Bücher kommt ungelesen an mir vorbei.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.15:
Danke, Dieter, erst vor kurzem hat mir jemand Israel Bashevis Singer empfohlen. Ich werde der Anregung nachgehen.

 TassoTuwas (10.09.15)
Mein lieber Freund,
was für eine interessante, hintergründige Geschichte hast du ebenso geschildert.
Und nun sage ich frei heraus, deine Ankündigung diese Reihe fortzuführen stürzt mich in tiefe Depression, zeigt sie mir, wie groß mein Unwissen in Sachen Weltliteratur ist.
Da muss ich dannwohl durch
Halb seufzend, halb neugierig
grüßt
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.09.15:
Gracias, Tasso. Ich werde mich bemühen, dass du über der Neugier das Seufzen vergisst.

Herzliche Grüße
Ekki

 harzgebirgler (10.04.22, 10:43)
was hätte der gebürtige ukrainer scholem alejchem wohl zu dem gegenwärtigen krieg dort gesagt?!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.04.22 um 13:03:
Merci, Henning, ich fürchte, er hätte ihm keine komische Seite abgewinnen können.
LG
Ekki
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