Medovnik und eine Reise in die Unendlichkeit

Kurzgeschichte zum Thema Stärke/Schwäche

von  Hartmut

Wahrscheinlich hat sein Vater ihm die Begabung mitgegeben. Leider auch die Figur. „Wenn du dich mehr zurückhalten könntest, wärst Du schon längst Rektor“, pflegt seine Frau manchmal zu sagen. „So giltst du als unbeherrscht!“
Sein Vater war Versicherungsmathematiker, damals als die Bits und Bytes noch  nicht die Welt beherrschten und er wie kein anderer eine Matrizenrechnung entwickelte, die die Aktionäre reich machte.
Sein Sohn wurde in der Schule  „Puffel“ genannt, der Name eines Fettgebäcks in seiner Heimatstadt. Aber die Mitschüler brauchten ihn, er, der schon im Vorschulalter lineare Bestimmungsgleichungen lösen konnte wie etwa: Das 5-Fache meiner gedachten Zahl ist … Sie brauchten ihn für ihre Hausaufgaben, Klassenarbeiten und später für die Promotion. Die schaffte er spielend und noch mehr auf seinem Spezialgebiet der theoretischen Kernphysik. Harvard wollte ihn haben, da war er noch nicht 40.  Er lehnte dankend ab, sein  Englisch fand er miserabel. Auch mochte er nicht die amerikanische Art zu forschen. Die Geheimnisse der Materie kann man nicht durch immer mehr Technik lüften: „Eine Einbahnstraße ins Nichts, kurz Scheuklappenphysik!“

Auf langen Senatssitzungen, umgeben von eloquenten Anglistinnen und  rabulistischen Germanisten, langweilt er sich zunehmend. Früher stellte er sich vor, mit einigen der scharfzüngigen Kolleginnen zu schlafen, wohl wissend, dass er ihren Vorstellungen körperlicher Art keinesfalls entsprach.
Manchmal verlässt er vorzeitig die Sitzungen, und schleicht sich “Zum Mohren“ in froher Erwartung, was der Konditormeister an diesem Tag gezaubert hat. Er kennt und bewundert ihn, wenn die Schwingtür aufgeht und er frisch gemachte Butter- und Herrencremetorten, braune Nugatkreationen, Baumkuchen, gefüllte mit Maracuja, wortlos abstellt. Welch eine Meisterschaft steckt dahinter, welche Geschmacksatome und ihre Verbindungen sind da wohl zusammengekommen?
Gut gelaunt geht er dann noch einmal ins Institut. Seine Doktoranden arbeiteten noch, junge Männer, die heimlich vom Nobelpreis träumen. Hellgelbhäutige schmale Asiatinnen  begrüßen ihn, lächeln geheimnisvoll und möchten über Algorithmen sprechen. Mit welchen Kerlen gehen diese Feen ins Bett? Wie sieht ihre Liebe aus, wenn ihr Computer 3 Stunden vorher Werte ausspuckten, die ins Unendliche gehen oder Teilchendurchmesser von 10 hoch minus 66 ermittelten, angeblich eindimensionale Energiefäden im neundimensionalen  Raum.
Kurz vor Weihnachten nimmt er doch noch einmal eine Einladung  zu einem Kernphysiksymposium im tschechischen Marienbad an. Er hoffte dort jenen russischen Wissenschaftler zu treffen, älter als er, der schlicht behauptet, dass es keine Materie gäbe, nur elektromagnetische Wellen, Energiefelder, skurrile Quantenwelt eben.  Phänomene, die für uns Erdenbürger für alle Zeit verschlossen blieben, so wie die Existenz oder auch Nichtexistenz Gottes.

Angekommen, stellte man ihm Leona vor. Fast eine Woche ist sie für ihn da.  Konzentriert, manchmal mit einem Lächeln wenn es hakt, übersetzt sie. Theoretische Physik, insbesondere Teilchen- und Astrophysik ist Mathematik. Gleichungen, die gelöst werden wollen mit Parametern, die alles andere als genau sind und zu Lösungen führen, die zweifelhaft sind. Sie bleibt verbindlich, auch wenn sich der andere missverstanden fühlt.
Am letzten Tag trifft er sie unerwartet in einem Cafe in der Stadt. Sie gibt ihm zu verstehen, dass sie sich freuen würde, mit ihm gemeinsam Kuchen zu essen. Ja, sie hätte eine Schwäche für Torten, gesteht sie und gibt ihm einen Tipp für eine Spezialität, die es nur hier gäbe. Medovnik, Honigkuchen! Eine kosmische Verführung, wie sie meint. Plötzlich fragt sie während er isst: „Wie sehen die Atome im Innern aus, die diesen herrlichen Geschmack hervorrufen? „Wir wissen es nicht“, antwortet er. „Warum riechen wir den Duft und spüren die Schwere  in unserem Magen?“ „Verantwortlich ist angeblich das Higgs -Teilchen. Aber wir haben es noch nicht gefunden, und unser russischer Kollege glaubt, dass wir es nie finden werden, weil wir uns nicht von unserer Einbildung befreien können. Und wenn wir es wirklich finden, dann gibt es später noch ein Anti- Higgs. Was dann?“
„Warum gibt es Kuchen und uns?“ will sie wissen. „ Zufall“  entgegnet er, „der Urknall, so glaubt man, ist eher einem Zufall zu verdanken. Noch fehlen uns ein paar Parameter.“„Und ab wann gibt es die Atome?“ „Nach dem Urknall, von dem wir nichts wissen. Zuviel Unendlichkeit, hier versagt  die Mathematik!“ „Woher kam die Energie des Urknalls?“ „Wir wissen es nicht.“ Was war denn vor dem Urknall möchte sie jetzt wissen und bestellt zwei Wodka. Er schaut sie an und findet Spott in ihren Augen. „Bestimmt keine Mathematik“, entgegnet er.
"Aber was wissen wir denn?“ „Dass sich zwei Massen anziehen“, sagt er lächelnd  und nimmt ihre Hand. Spät ist es geworden, sie sind die einzigen Gäste. „Was ist eigentlich Zeit?“möchte sie wissen. „Die Physiker tun sich schwer mit ihr, noch von keinem wirklich begriffen.“ „Ich schenke sie DIR“ und greift nach ihrem Mantel.
In dieser Nacht schlafen sie miteinander. In dieser letzten Nacht lieben sie sich so, wie sie die Torten lieben. Leidenschaftlich, erfreut darüber, wie gut sie schmecken und mit dem Dank an den Schöpfer aller Zärtlichkeiten.


Drei Jahre später. Er liegt in der Universitätsklink, schaut müde und krank auf den Fernsehschirm. Die Tageszeitung interessiert ihn schon lange nicht mehr. Besucher sind unerwünscht, wenn seine Tochter aber kommt schaut er sie an und lächelt.“ Schön bist du“, sagt er und drückt ihr Hand.
Und doch verkünden die Nachrichten heute etwas, was ihn kurz aufhorchen lässt: Jubel in Cern, das Higgs – Teilchen wurde gefunden. Das Suchen hat ein Ende.
Er schließt die Augen, die Krankenschwester kommt und schaltet den Fernseher aus.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(26.12.15)
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