Vorurteile sitzen tief und sind selten endgültig überwunden

Erzählung zum Thema Vorurteile

von  EkkehartMittelberg

Es gibt nur wenige Vorurteile, die man ein für alle Mal mit Argumenten ausräumen kann. Die meisten erhalten neue Nahrung, und man muss sich ihnen erneut stellen, um sie zum Schweigen zu bringen. Ich vergleiche sie mit dem Unkraut Ackerwinde, das man leicht an der Oberfläche beseitigen kann, aber nur schwierig ganz und gar mit seinen tief greifenden  Pfahlwurzeln.

Ich habe schlechte Erfahrungen mit vermeintlich übermäßigem Nationalismus von Franzosen gemacht, und es hat lange gedauert, bis sich bei mir die Erkenntnis verfestigt hat, dass übersteigerter Nationalismus bei allen europäischen Völkern mehr oder weniger gleich verwurzelt ist.
Ich machte meine ersten negativen Erfahrungen mit Franzosen 1958. Ich hielt mich damals mit einem Freund auf einer Reise nach Paris zwei Tage in Metz auf. Metz hatte derzeit eine große Tanzhalle, die wir mit froher Erwartung besuchten, um mit charmanten Französinnen zu tanzen. Sie erkannten uns gleich als Deutsche, und obwohl wir mehrere Male versuchten, unterschiedliche französische Damen zum Tanz aufzufordern, erhielten wir nur Körbe. Die Zurückweisungen wurden nicht mit verbindlichen Worten verbrämt.
Wir waren es nicht gewohnt, als Tänzer abgewiesen zu werden, und da wir uns höflich benommen hatten , suchten wir nach einer Erklärung dafür. Wir vermuteten, dass sich deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Metz und Umgebung aus französischer Sicht schlecht verhalten hatten und dass wir deswegen damals noch bestehende Ressentiments ausbaden mussten.
Mich zog es danach nicht wieder nach Frankreich, weil die Zurückweisungen meine Eitelkeit verletzt hatten, obwohl ich mir sagte, dass die Französinnen Gründe hatten, die prinzipiell sein mussten, weil mein Freund ebenfalls mit Körben bedacht wurde.
Erst 1962 bin ich wieder nach Frankreich gekommen, aber unfreiwillig. Meine Frau und ich machten mit Studenten als Reiseunternehmern in einem Kleinbus eine Urlaubsreise an die Costa Brava. Wir mussten aber wegen einer Autopanne das Wochenende in Bourges, einer Kleinstadt in der Mitte Frankreichs, verbringen. Weil dies unvorhergesehen war, hatten wir kein französisches Geld und suchten am Samstag eine Bank, um DM gegen Franc zu tauschen. Die ersten beiden Banken waren geschlossen, und ein etwa 60jähriger Franzose, dem wir unser Problem erklärt hatten, versuchte mit uns eine geöffnete Bank zu finden. Nachdem auch das erfolglos war, drückte er uns 50 Franc in die Hand, und als wir sie ihm zurückgeben wollten, gab er Fersengeld, damit wir sein Geschenk annehmen mussten.
Wir waren über diese großzügige Spende hocherfreut und mein verkrampftes Verhältnis zu Franzosen lockerte sich, ohne dass ich mir weitere Gedanken über das Motiv des Gebers machte. Das sollte sich bald ändern.
Auf der Rückkehr von Spanien mit eben diesen Studenten nächtigten wir etwa 60 km von Bourges entfernt. Die Studenten, die den Wagen fuhren, schliefen, um zu sparen, in dem Auto und waren am anderen Morgen nicht wirklich erholt. Kaum hatten sie angefahren, setzten sie den Wagen gegen eine Häusertreppe. Die Frontscheibe zersplitterte und ein Glassplitter traf meine Frau, die vorne neben dem Fahrer saß, dicht unterhalb der Schläfe. Sie blutete entsetzlich, sodass man den Grad der Verletzung zunächst gar nicht erkennen konnte.
Zum Glück hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein französischer Arzt für allgemeine Medizin seine Praxis.  Wir legten meine Frau behutsam in den Flur vor dessen Sprechzimmer ab. Der Arzt ließ sie seelenruhig liegen und behandelte seine französischen Patienten weiter, bis ein Gendarm unter den Patienten den Arzt entrüstet darauf hinwies, dass er endlich die deutsche Frau zu behandeln habe. Das erfolgte schließlich, lieblos und wortlos. So wurde auch die Wunde ohne Narkose genäht. Der Mediziner war wohl erstaunt über die Tapferkeit, mit der meine Frau die rüde Behandlung ertrug, und fragte sie schließlich nach ihrer Nationalität, die er ja von dem Gendarmen wusste, und nach ihrem Vornamen.  Als er den Namen Rosemarie hörte, war er plötzlich wie umgewandelt und wurde liebenswürdig.
Bevor das geschah, erhielten hier meine alten Vorurteile von 1958 wieder kräftig Nahrung und ich schäumte innerlich vor Wut auf französische Deutschenhasser.
Nachdem wir etwas Abstand von dem Unfall gewonnen hatten, versuchten Rosemarie und ich für die widersprüchlichen Erfahrungen mit dem charmanten Franzosen, der uns das Geld geschenkt hatte, und dem zunächst so abweisenden Arzt eine Erklärung zu finden.
Wir meinen noch heute, dass auch diese Erfahrungen wie meine ersten mit den Französinnen in Metz mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Wir glauben, dass der hilfreiche Franzose in Bourges sich für gute Erlebnisse mit Deutschen während des Zweiten Weltkriegs revanchieren wollte und dass der Arzt böse Erfahrungen mit Deutschen gemacht hat, mit vielleicht einer weiblichen Ausnahme, die Rosemarie hieß.
Diese Annahmen sind natürlich Spekulationen, die sich nicht mehr verifizieren lassen, aber sie haben mir geholfen, mich nicht dem Vorurteil zu überlassen, dass die meisten Franzosen unbegründete Ressentiments gegen Deutsche hegen und die zeitliche Nähe der positiven Erfahrung in Bourges und der negativen mit dem Arzt nicht weit davon entfernt lassen mich heute denken, dass es sich um Einzelfälle handelte, die die Verallgemeinerung von Vorurteilen nicht zulassen.

© Ekkehart Mittelberg, August 2017

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Kommentare zu diesem Text


 Didi.Costaire (24.08.17)
Vielleicht haben die Metzgerinnen ja nur deshalb Körbe verteilt, damit die deutschen Gäste viel Wurst einkaufen konnten.

Ein interessanter Erfahrungsbericht aus längst vergangener Zeit und dennoch zeitlos.

Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Lieber Didi,
die Metzgerinnen wären mir viel sympathischer gewesen, wenn ich deinen Kommentar damals schon gekannt hätte.
Liebe Grüße
Ekki
Graeculus (69)
(24.08.17)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.08.17:
Ich finde bei deinem Kommentar den Hinweis besonders bemerkenswert, dass eigenes Schuld (Kollaboration) zur Verdrängung und Kälte führen kann.
Ich war nur wenig später als du in Leningrad und habe mich ebenfalls darüber gewundert, keinen Fall von Deutschfeindlichkeit erlebt zu haben.
Vielleicht ist Stalins Motto tatsächlich die Erklärung. wie auch immer: Ich habe die Russen für ihre Unvoreingenommenheit gegenüber den Deutschen bewundert.
Graeculus (69) schrieb daraufhin am 24.08.17:
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LottaManguetti (59)
(24.08.17)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.08.17:
Gracie especiale, Lotta. Du hast meine Erzählung in einen wunderschönen Kontext von Erzählern gestellt, die sich alle kritisch mit dem Vorurteil befasst haben.
Liebe Grüße
Ekki
LottaManguetti (59) ergänzte dazu am 24.08.17:
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 TrekanBelluvitsh (24.08.17)
Mich würde interessieren, ob, deiner Meinung nach die "Korb"-Damen von 1958 eher zu einer gebildeten bürgerlichen Schicht gehörten. Für den Arzt kann man das ja auf jeden Fall annehmen. Der ältere Franzose hatte, womöglich sogar als junger Soldat, schon den WK I erlebt.

Worauf will ich heraus?

Im WKII sind mehr Franzosen/Zivilisten durch Kampfhandlungen und durch alliierte Bomben umgekommen, als durch deutsche Repressalien - in Italien wüteten Wehrmacht, SS, SD etc. sehr viel schlimmer.

Allerdings wurden durch die Niederlage von 1940 die Brüche in der französischen Gesellschaft überdeutlich und auch das Selbstbild der Franzosen nahm Schaden. 1944 stand das Land kurz vor dem Bürgerkrieg. Dies wurde - vereinfacht gesprochen - alles überwunden, durch den Mythos der Résistance, bzw. der Behauptung, dass bis auf ein paar Vicchy-Kollaborateure, alle Franzosen im Widerstand waren. Das benötigte umgekehrt natürlich das Bild des bösen Deutschen (1944 starben mehr Franzosen durch die Hand von Franzosen, als durch Deutsche!).

Für solche Legenden sind bürgerlich-gebildete Kreise nicht selten ja anfälliger. Und wenn der "Geldschenker" tatsächlich ein Soldat im WKI war, nun, nach 1918 gab es in Frankreich eine starke Friedensbewegung, die nicht von langhaarigen Bombenlegern, sondern von Veteranen getragen wurde. Vielleicht hatte er das ja verinnerlicht.

Aber all das sind natürlich nur Vermutungen meinerseits.


Kann man sich vor Vorurteilen verschließen? Nein, das kann niemand. Aber wer sie auslebt, ist dann auch dafür verantwortlich. Natürlich gibt es Pegida überall, in jedem Land. Und überall sind es...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Deine Vermutungen zu den Korb-Damen und zu dem Geldgeber könnten zutreffen. Ich kann leider nur spekulieren.
Deine Kenntnisse der jüngeren französischenGeschichte haben mir verblüffend verdeutlicht, dass sich das Bild vom bösen Deutschen mit soziologischer Logik entwickeln musste. Danke!

 loslosch meinte dazu am 24.08.17:
als junger student hab ich erlebt, wie 1961 deutsche urlauber an der franz. riviera die 1. strophe der nationalhymne sangen. den franzosen war das - für mich unverständlich - fast egal. klar, das war ein gebiet der ehemaligen vichy-region.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Danke, auch dieser Kommentar trägt dazu bei, dass man das Verhalten von Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg wohl nur historisch verstehen kann.

 AZU20 (24.08.17)
W ir hatten in Mechernich eine Verbindung zu Nyons in Südfrankreich. Auch die Schulen nahmen daran teil. Bei meinen Besuchen dort habe ich glücklicherweise Deine so wortgewaltig geschilderten Erlebnisse nicht teilen müssen. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Danke, Armin, ich verstehe dich gut. Freilich habe ich selbst aus den Ereignissen viel gelernt. LG

 Dieter_Rotmund (24.08.17)
Vorurteile leiten unser Leben, sie sind immens wichtig, sonst könnten wir überhaupt keine Entscheidungen treffen. Du schreibst von spezifischen negativen Vorurteilen, die Nationalität betreffend, nicht von Vorurteilen im Allgemeinen, aber diesen Eindruck erweckst Du zunächst, das ist irreführend.

P.S.: "Tanz- halle"?
Teichhüpfer (56) meinte dazu am 24.08.17:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Hallo Dieter, erklärst du mir bitte mal, wieso wir der Vorurteile bedürfen, um Entscheidungen treffen zu können.
Die Vorurteile zur Nationalität bestätigen meine allgemeinen Eingangssätze. Ich sehe keinen Grund, das zu ändern.
@ Teichhüpfer:Vielleicht passt mein Bild von der Ackerwinde zu deiner Aussage.
Teichhüpfer (56) meinte dazu am 24.08.17:
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Sweet_Intuition (34)
(24.08.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.17:
Merci, Stefanie, ja, wir Deutsche haben während des zweiten Weltkriegs viele rassistische Vorurteile verbreitet und werden uns als verständliche Folge davon noch lange mit Vorurteilen auseinandersetzen müssen, die gegen Deutsche gerichtet sind.
Liebe Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 25.08.17:
An EkkehartMittelberg:

Das können ja ganz banale Dinge sein, wie, ob ich ins Freibad oder zum Badesee gehe, ob ich Obst und Gemüse auf Markt oder im Discounter kaufe oder welche Politiker ich am 24.9. wähle.
Sätzer (77)
(25.08.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.08.17:
Danke, du erinnerst zu Recht an die Vorurteile in der Politik. Kein Volk hat darunter so gelitten wie die Juden.
LG
Ekki
Agneta (62)
(26.08.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.08.17:
Merci Monika, auch ich denke, dass es wichtig ist, sich im politischen Spektrum nach allen Seiten von Vorteilen frei zu halten.
LG
Ekki

 harzgebirgler (28.11.17)
auf gutem weg ist, wer differenziert,
weil der ihn selten in die irre führt.

herzliche abendgrüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.11.17:
Wie wahr, Henning.
Danke und herzliche Grüße zurück
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