Ottilienblindenheim Neue Sitzordnung.

Erzählung zum Thema Erinnerung

von  franky

Weiß nicht was für ein Teufel mich da geritten hat, als ich im vergangenem Schuljahr in einer Briefchenpost zu Luzia geschrieben habe: „Fünf junge Schweine ruhen in deinem Bauch.“
Das war so was von gemein, dass sie sich bei Schulschwester Mechthilde über mich beschwert hatte. Ich musste mich die schlimmsten Standpauken, auch von unserer Knabenschwester Kolianna anhören. Ich schämte mich in Grund und Boden. War mir der Tragweite im Moment des Schreibens nicht bewusst. 
Irgendwann hatten sich die Wellen gelegt und allmählich wuchs wieder Gras über die Angelegenheit. Mir war aber immer noch mulmig zu Mute, wenn ich darüber nachdachte.

Im Schuljahr 48 49, hatte Schwester Mechthilde wegen der Abgänge von Emmerich, Erich, Anna und Elisabeth eine neue Sitzordnung im Klassenzimmer aufgestellt. Zu meiner größten Überraschung hatte Schwester Mechthilde Luzia zu mir in dieselbe Reihe gesetzt. Wir saßen nun praktisch Tisch an Tisch in der letzten Reihe. War dies seitens Mechthilde als Wiedergutmachung an Luzia gedacht? Diese Wiedergutmachung nahm ich mit Freuden an. 

Als im vergangenen Sommer das Eigenartige Kratzen in meiner Stimme sich zum Stimmbruch auswuchs, waren im Internat meine Schulkollegen total überrascht, keiner erkannte mich mit der Sonoren Stimme, ich musste meinen Namen sagen. Adolf Kissilak stellte mich jemand vor, der behauptete er sei Walter Koch; Dem war es in den letzten Monaten genau so ergangen wir mir. Er wechselte auch von Sopran in Bass. Er war ja im vergangenen Schuljahr mein Tischnachbar. „Kennst du mich nicht?“ „Nein! Wer bist du?“ „
„Ich bin Franzi dein Schulkollege.“ Da kam ein großes Erstaunen herüber.
Wir mussten uns  nun an die neuen Klangfarben gewöhnen.

Der Blasebalg der Orgel wurde von einem uralten Elektromotor betrieben. Zum Einschalten erst ein Kippschalter, drauf mit einem großen Metallrat nach rechts gedreht, langsam heulte der große Ventilator auf und der Zeiger des Blasebalg schob sich nach oben.
Eines Tages ließ sich der Motor nicht mehr starten und der Blasebalg musste mit Muskelkraft nach oben getreten werden. Ja da gab es am Kasten des Blasebalg vor dem Kircheneingang ein großes Pedal, welches mit einem Bein kräftig nach unten getreten werden musste. Das war eine sensible Arbeit, der Luftdruck sollte stets gleich bleiben, sonst eierte die ganze Orgel fürchterlich und Walter Kögler fluchte laut, so das man es auch in der Kirche hören konnte. „Franzi geh du hinunter und mach, dass der Druck immer gleich bleibt, der Druckzeiger muss immer leicht unter dem höchsten Punkt stehen.“
So machte ich mich auf den Weg ein Stockwerk nach unten. Was höre ich da! Der Ferdinand war am Pumpen, zu faul um das Luftmagazin auf gleichbleibenden Stand zu halten. Der war froh, dass ich ihn ablöste und machte sich unauffällig aus dem Staub. 
Dafür musste ich mir eine eigene Technik zu Recht legen, nun mit einem Bein die Aufgabe zu bewerkstelligen. Meine Muskelkraft reichte nicht aus, um das Pedal nach unten zu stossen, ich musste mit voller Körperkraft darauf stehen und mich dann mit beiden Armen an einem Bügel wieder nach oben ziehen. Einige kräftige Stampfer mit dem Körper eines Flohgewichtes und der Druck hatte die Gewünschte Höhe erreicht. War der Zeiger mal oben angekommen, dann war es nur mehr ein Kinderspiel. Bei ruhiger Orgelmusik konnte ich leicht den Luftstand halten. Doch als der Gesang verklungen war, zog Kögler alle Register und  improvisierte in den schrägsten Tönen in aller Lautstärke. Dann musste ich plötzlich Vollgas geben! Und das tat ich dann auch. 

Im vergangenen Sommer war es höchst notwendig, dass Orthopäde Schmiedl mir eine neue Prothese anfertigte. Ein gutes Stück gewachsen und das Knie wurde bei dem neuen Stelzfuss zum Biegen gemacht. Erst fräste man aus einem eckigen Holzklotz ein rundes Loch heraus, welches ungefähr der Stärke meines Fussstumpfes entsprach. Dann wurden gegen permanente Druckstellen am oberen Rand das entsprechende Profil herausgearbeitet.
Damit ich nun ein Paar Schritte machen könne, wurde der Holzklotz durch Eisenklammen provisorisch mit dem unteren Stelzfuss verbunden. Mit einem Schlauch aus Stoff über meinen Stumpf gezogen konnte ich nun mit Hilfe des Schlauches in das Loch in den  Holzklotz einfahren.
Meine ersten Schritte waren Etwas wackelig, doch mit der Zeit wurde ich etwas sicherer.
Beim nächsten Schritt hörte ich einen dumpfen Polterer, blieb angewurzelt stehen. Schmiedl mit seinem zweiten Orthopäden schrien: „Stopp! Keinen Schritt weiter, du hast den unteren Teil vom Stelzfuss verloren, die Klammen sind heraus gefallen. Zwei starke Arme packten mich: „Das hätte böse ins Auge gehen können.“ 

Das bewegliche Knie war tatsächlich eine deutliche Erleichterung beim Sitzen in der Kirche und in der Schule. Mit einem Metallhebel an der Seite des Knies konnte ich die Sperre aufheben. Beim Aufstehen schnappte die Sperre automatisch wieder ein.

Die Schulstunden im neuen Jahr empfand ich alle als wunderbare Rendezvous mit Luzia. Mit himmlischen Hochgefühlen fand ich mich pünktlich um acht im Klassenzimmer ein, damit ja keine kostbare Minute mit meiner Mitschülerin Luzia verloren ging.
Meine schwäche war Deutsch und Rechtschreiben. Dafür lag mir Rechnen und Geometrie recht gut. Alles andere lief so mittelmäßig.
Als ich merkte das Luzia sich mit Rechnen schwer tat, griff ich ihren Rechenapparat und schob ihr meinen Apparat mit der fertigen Rechnung hinüber, Selbstverständlich hinter dem Rücken von Schwester Mechthilde. Bei Diktaten war es wieder umgekehrt. 
Das Lernen fiel mir plötzlich leicht, federleicht gingen mir die Aufgaben von der Hand.
Weil mir die Rechtschreibung noch immer schwer fiel, gab mir Schwester Mechthilde ein leeres Heft: „Da drinnen sollst du jedes Wort notieren, dass dir nicht klar ist wie man es schreibt, auch Fremdwörter sollst du auf einen eigenen Blatt eintragen. In Zweifel kannst du immer dort nachlesen.“ Aber wenn ein mündliches Diktat lief, musste mir Luzia trotzdem aus der Patsche helfen. So wuchsen wir zu einer Symbiose zusammen, aber meine große Liebe konnte ich ihr weiterhin nicht gestehen. Die blieb in meinem Herzen verschlossen und trug mich auf Seeligen Wolken durch den Alltag.

Von Walter Kögler bekam ich für ein Jahr Gesangsverbot, damit meine Stimme während der Modation keinen Schaden erleidet. „Zu den Proben musst du aber erscheinen, damit du den Faden nicht verlierst.“ Mir war das so gar sehr, sehr Recht, da konnte ich mich ungestört an der Glocken klaren Stimme von Luzia erfreuen. Ich hatte mich unter die Bassstimmen gemischt, hier fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Neben Emmerich und Engelbert zählte ich mich schon zu den Erwachsenen. Ach, da stieg mein Selbstwertgefühl gleich um Einiges in die Höhe.

In den Sommerferien hatte die Internatsleitung eine Firma beauftragt, die stinkenden Plumpsklos durch Wasserklos zu ersetzen. Das Spülwasser hing in einem Behälter an der Wand, welches man mit einem Kettenzug freisetzen konnte. In jedem Stockwerk vier Kabinen. Das sind zwölf Stück in der Knabenabteilung. Zwölf mal konnte ein Defekt auftreten. Wenn zu stark an der Kette gezogen wurde, hängte sich im Wasserbehälter der Schwimmer aus und das Wasser lief nutzlos durch den Abfluss. Die ganze Bescherung blieb dann ausgebreitet in der Kloschüssel liegen, was wieder für Gestank und lästiges Fliegenaufkommen  sorgte.

Aber nun wieder zu was appetitlichem. 
Das Speiseangebot hatte sich in den letzten Monaten spürbar verbessert. Fleischgerichte kamen öfter auf den Teller, wie auch Obst zur Nachspeise.
Dann verschlug es mir den Atem! Geräucherte Forelle war vielleicht eine Spezialität, doch bei mir rief es Übelkeit hervor. Einen ganzen Fisch! Mit Kopf und Gräten. Fassungslos saß ich vor meinem Teller; „Wohin mit dem ganzen geräucherten Fisch? Ohne dass jemand es merkt?“ In die Tasche nehmen das klebrige Zeug und ins WC hinabspülen, war keine gute Idee. In meine Bestecklade entsorgen, auch nicht. Ich griff unter die Tischblatte, hier fand ich eine Holzleiste, wo ich schließlich die Forelle hinauf schob. Dort fristete sie der Verwesung entgegen. Unser Tisch litt wochenlang unter permanentem Verwesungsgestank, Niemand entdeckte aber mein gut verstecktes Fischleingrab. Ich konnte den Verwesungsprozess nicht vorher beenden, Jetzt klebte die Fischmasse schon ganz fest am Holz des Tisches. Maden hatten bestimmt auch schon den Zugang gefunden. (Wääa!)

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Kommentare zu diesem Text

Bette (70)
(08.01.18)
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