Die ersten Tage nach meiner Heimkehr aus dem Brucker Spital waren erfüllt von wiedererkenn von früheren Werten und Geographischen Gegebenheiten.
Musste alles mit meinen Händen zurückerobern, was mir durch den Verlust meines Augenlichts plötzlich entrissen wurde. Ich schob mich langsam, Meter für Meter mühsam durch meine Erinnerung, die ich angstvoll wieder zu erleben wagte.
Nach jeder Unebenheit des Bodens fürchtete ich abzustürzen. Ein Gefühl, das aus den unerwarteten Explosionen der Handgranaten resultierte.
Mein Vater ging daran, meiner Gehbehinderung etwas entgegen zu setzen.
Für ihn stellte das kein Problem da, er bastelte in seiner Tischlerwerkstatt ein Paar Krücken, die mir das Weiterkommen auf einem Bein enorm erleichterte, aber auch einige saftige Beulen am Kopf eintrugen. Vater hatte mir geduldig das richtige Gehen mit zwei Krücken beigebracht.
Beim Herumtollen mit meinen Geschwistern, legte ich aber die Krücken zur Seite, dabei hätten sie gestört. Auf einem Bein zu hüpfen, da war ich ein Meister, das hatte ich im Spital in Bruck zu genüge geübt, dazu hatte ich beide Hände frei.
Ein herrlicher Spätsommer war uns in diesem Jahr beschieden. Die weitläufigen Wiesen um unser Haus wurden mit Hand gemäht und das Heu dann mit dem Pferdefuhrwerk in die Scheune vom Schweizerhof gebracht. Die Luft war von Heu und Blüten der Natur geschwängert, es war eine wahre Freude. Um fünf Uhr früh gingen die Arbeiter daran, ihre Sensen mit einem Hammer zu bearbeiten, es entstand ein buntes, metallisches Klopfkonzert.
Moderner Burga war die Tochter eines urigen Mannes Visavie des Wieserbauern unten in der Ebene. Die war seid frühester Kindheit an auch unsere Spielkameradin. Sie war etwa zwanzig Jahre, war taubstumm und litt an einem Daunsyndrom, was uns Kinder überhaupt nicht störte.
In Frohnleiten hatte man behelfsmäßig im Schulgebäude ein Lazarett eingerichtet. Hausfrauen aus Frohnleiten übernahmen bereitwillig die Pflege der Patienten. Weil die Wunde an meinem Stumpf immer noch nicht verheilt war, deshalb verbunden werden musste, entschlossen meine Eltern, mich in diese Obhut zu geben. Ein großes ehemaliges Klassenzimmer wurde in ein Patientenzimmer umgewandelt. Ich bekam ein Bett an einem Fenster zugewiesen. Von früh bis spät schallte Radiomusik aus einem Lautsprecher, die manchmal ganz schön nervig war!
Statt der bis vor Kurzem noch gespielten Marsch und Kriegslieder, schepperte die für meine Ohren zerhackte Jazzmusik von Clan Miller aus dem Lautsprecher. Durch lautstarken Protest gegen diese Musik tat ich mit verbalen Beschimpfungen meiner Ablehnung kund.
In einem Einbettzimmer war eine Mutter mit ihrem kranken Kind untergebracht. Diese Frau mit dem Kind besuchte ich Öfters, auch um das arme, kranke Kind zu streicheln. Das Kind litt an einer schweren Athenwegs Erkrankung und drohte schon mehrmals zu ersticken. Es war ungefähr drei Uhr nachmittags, da klopfte ich wieder mal an die Zimmertüre und die Frau ließ mich hinein. Sie begrüßte mich mit einer weinerlichen, sehr depressiven Stimme: „Meinem Kind geht es heute ganz schlecht! Ich weiß nicht mehr was ich machen soll!“ Wir setzten uns ans Bett des stark röchelnden Kindes. Es gab schon leichte Aussetzer der Atmung, die seine Mutter nervöser und nervöser machte. Im Geiste war ich kurz im Brucker Spital, Zimmer sieben, wo ich solche Sterbephasen andauernd miterleben musste.
Das kranke Kind, es war ein Knabe, stellte sein röchelndes Atmen unter den Augen seiner Mutter leise und unaufhaltsam ein.
Manuel! „Du darfst nicht sterben!" Sie schüttelte das Kind und drückte es dann verzweifelt unter Tränen mit beiden Händen an ihre Brust.
Nach einer Erschöpfungspause rief sie mit weinerlicher Stimme nach einer Krankenschwester. Die konnte auch nur mehr den Tot feststellen.
Nach einigen Minuten traf Der diensthabende Arzt Dr. Koberwein im Lazarett ein, der nach kurzem Untersuch den Totenschein für den Knaben ausstellte.
Ich aber wollte dem Tode trotzen! Mein Schutzengel lümmelte entspannt neben meinem Bett und war damit beschäftigt, Kreuzworträtsel aufzulösen. In den kurzen Gedankenpausen warf er zufriedene Blicke in meine Richtung. Hier war in den nächsten Tagen keine Gefahr zu befürchten.
Der starke auf und abschwellende Tinnnitus in beiden Ohren, machte mir beim Schlafen ziemlich Probleme, dagegen konnte man nicht wirklich was unternehmen.
Immer wenn ich versuchte einzuschlafen, rasten links und rechts zwei Sturmwellen über meinem Kopf, so dass ich ängstlich zusammenzuckte. Das dauerte oft längere Zeit, bis sich der ersehnte Schlaf einstellte. Am Tag konnte ich mich gut aus dieser Akustischen Schlinge befreien.
Mama, Geschwister, Onkel und Tanten besuchten mich regelmäßig im Lazarett. So stellte sich etwas Abwechslung in der Eintönigkeit meines Alltags ein.
Tante Rosi, Papas jüngste Schwester fing bei diesen Besuchen ein Tächtel mächtel mit meinem Bettnachbarn an. Gustl hatte nur eine Wunde am Bein, wegen der er hier im Lazarett war, die musste täglich frisch verbunden werden. Das Schäkern mit meiner Tante war auch für ihn eine willkommene Abwechslung im Alltag. Gustl zeigte sich zu mir stets freundlich. Er nahm mich sogar mal mit in einen leeren Unterrichtsraum, dort befand sich ein sehr interessantes Harmonium. Gustl konnte nicht wirklich spielen, er drückte nur wahllos in die Tasten. Ich dachte mir: „So musizieren kann ich auch und spielte mit meinen beiden Händen auf den tiefen Tönen herum. Da musste mein Freund ganz schön in die Pedale treten, um den Blasebalg auf rechten Druck zu bringen.
Durch die Lautsprecher in unserem Zimmer, wurden auch aktuelle Nachrichten gesendet.
Es war der sechste August neunzehnhundert fünfundvierzig, als es durch den Radio hieß: „Amerikanisches Flugzeug hat eine Atombombe über Hiroschima abgeworfen.“ Manchem stockte der Atem; Auch mir wurde eigenartig zu Mute. Diese Bombe sollte den Krieg mit Japan beenden. Unvorstellbare siebzig, achtzigtausend Tote in Hiroschima!
Da der Japanische Kaiser nicht sofort darauf reagierte, Warf am neunten August ein anderes amerikanisches Flugzeug eine zweite Atombombe auf Nagasaki ab, wieder mit unvorstellbar vielen Toten. Dann aber war der zweite Weltkrieg auch im fernen Osten, mit Japan praktisch zu ende.