Ich habe es gesehen

Erzählung zum Thema Wunder

von  EkkehartMittelberg

An diesem Tage hatte ich viel Zeit. Ich spazierte müßig in den Wald. Eine angenehme Kühle hüllte mich ein und ich lief immer weiter, gedankenverloren. Ich kam vom Wege ab und es war mir gleichgültig. Ich wollte mich willenlos treiben lassen.
Die Bäume um mich herum wurden immer größer und majestätischer und schließlich erreichte ich erschöpft eine Wiese, durch die sich ein rauschendes Bächlein schlängelte. Ich ließ mich ins Gras sinken und der melodische Gesang eines Vogels schläferte mich ein.
Als ich aufwachte, stand es vor mir. Aus seinem schneeweißen Fell leuchteten große türkisblaue Augen.  Es senkte den Kopf und zeigte mir sein schimmerndes Horn, um mich zu begrüßen. Dann hob es sein Haupt wieder und sprach mich anmutig lächelnd an:
„Wie bist du hierher gekommen, mein Freund?“- „Ich weiß es selbst nicht. Sonst immer zielstrebig habe mich einfach gehen lassen und habe das Gefühl für Zeit und Raum verloren.“-“Du hast gut daran getan; denn sonst hättest du mich nie getroffen“, entgegnete das seltsame Wesen. -  „Wer bist du und wie heißt du?“, fragte ich die Erscheinung. - „Die Wenigen, die mich getroffen haben, nennen mich Einhorn und behaupten, dass ich ein Symbol sei.“- Mit deinem einen Horn bist du wirklich einmalig“ sagte ich, „aber magst du mir erklären, was du symbolisierst?“ - „Ich stehe für all das Wunderbare, das es in der Fantasie gibt, das einem erscheint, wenn man offen dafür ist, das aber nicht jeder Sucher findet, sondern nur der, welcher bereit ist, es anzuerkennen.“- Ich fragte: „ Liegt es daran, das man in letzter Zeit so wenig von dir hört, weil du nur wenigen Auserwählten erscheinst?“- „Ja, ich war noch nie in aller Munde, aber in Zeiten wie diesen, die nur das rational Fassbare für wirklich erachten und sich dem Wunderbaren verschließen, kennt mich nur ein sehr kleiner Kreis von Eingeweihten.“-“Du hast dich also zu anderen Zeiten öfter gezeigt?“- „Du hast sicher von der Romantik gehört, mein Freund. Damals habe ich mich einigen mehr offenbart, die meiner würdig waren.“- „Wie bedauerlich, du schönes anmutiges Wesen, wenn ich meinen Bekannten von dir erzähle, werden mich die Meisten für einen Fantasten halten. Ich fürchte, bald wirst du im Bewusstsein der Menschen sterben, weil dich keiner mehr anerkennen will“, sagte ich verzagt.- Doch das Einhorn strahlte voller Zuversicht. „Sei getrost, Liebhaber des Wunderbaren, das Romantische wird nie aussterben, es überdauert alle Epochen, weil sein Lied in allen Dingen schläft und es immer wieder Menschen geben wird, die das Zauberwort treffen, um es zu wecken.“
Als ich dies hörte, schloss ich die Augen voll tiefer Freude und schlief in Seelenruhe noch einmal ein. Ich erwachte, das Einhorn war verschwunden und es war Abend geworden.  Wie in Trance, immer noch das das Bild des beglückenden Wesens vor Augen, fand ich den Heimweg.
Ich weiß, dass mir kaum einer glauben wird, aber das ist mir gleichgültig, denn ich habe das Einhorn gesehen.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (27.07.18)
Es gibt keinen Grund, dir nicht zu glauben. Und auch wenn du das Schweigen gebrochen hast, ist das womöglich der Grund, warum man nicht so viel von ihm hört. Zumindest heute. Die es sehen, schweigen. Nicht der schlechteste Grund ...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Merci, Trekan, ob geschwiegen wird oder euphorisch berichtet, die Hauptsache ist, dass es existiert.
MichaelBerger (44)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 27.07.18:
Danke, Michael. Wir leben heute in der Gefahr, dass der Logos die Welt entzaubert. Deswegen halte auch ich den Mythos für notwendig.
Bette (70)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 27.07.18:
Gracie, Bette. du betonst mit Recht, dass man keine Besitzansprüche auf die Fantasie erheben sollte, die allen zur Verfügung steht.
LG
Ekki

 TassoTuwas (27.07.18)
Wer seiner Fantasie die Hand reicht, den nimmt sie mit in eine wunderbare Welt, eine andere, eine eigene Welt, und wer sich darauf einlässt, dem gibt sie die Worte, sie so darzustellen, als sei sie existent.
Diese Worte hast du gefunden und ich bin ihnen gerne gefolgt.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 27.07.18:
Lieber Tasso,
so ist es. Man muss sich auf seine Fantasie einlassen, sich ihr anvertrauen. Dann stellen sich die rechten Worte ein.
Herzliche Grüße
Ekki

 tueichler (27.07.18)
Lieber Ekki, Du hast eine schöne Metapher gefunden, eine Lanze für die Wahrnehmung oder den Glauben an die Wahrnehmung jenseits des Rationalen zu brechen. Sehr gern gelesen!
Wir sollten uns öfter mal fallen lassen und uns der Fantasie hingeben oder uns von ihr vereinnahmen lassen.
Mein Weg ist, vor dem Einschlafen zu lesen und den Moment zu erleben, in dem die geschriebene Geschichte jenseits des Buches im Halbtraum weitergeht.

Merci,

Tom😎

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 27.07.18:
Vielen Dank, Tom. Wenn es gelingt, die Fantasie im Traum weiter wirken zu lassen, ist das ein Glücksfall. Man kann aber ein wenig dazu tun, indem man sich vor dem Einschlafen auf die Bilder der Fantasie konzentriert.

 Habakuk (27.07.18)
Ein fabelhaftes Wunder. Wen interessiert, ob das ein anderer glaubt. Nein, das Einhorn wird nie sterben.
Auch sprachlich sehr schön umgesetzt, Ekki. Gefällt mir gut.

BG
H.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Lieber Habakuk,
ich freue mich, dass dir auch die Sprache gefällt.
BG
Ekki
Nimbus (43)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Grazie, Heike, so sehe ich es auch. Die Metapher vom Einhorn ist so stark, dass sie zum Symbol wurde.
Herzliche Grüße
Ekki
Sätzer (77)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Gracias, Uwe. Wenn einem das Einhorn begegnete, ist es keine Glubensfrage mehr, sondern eine Tatsache. )
Gerhard-W. (78)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Danke, Gerhard, du gehörst bestimmt zu denen, die keine Schwierigkeiten damit haben, Wunder zu erleben.
LG
Ekki
Sin (53)
(27.07.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Merci, Sin, ich vergaß zu sagen, dass das Einhorn eine verzauberte Prinzessin ist, die sich nach ihrer Metamorphose sehr wohl fühlt.
LG
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.07.18:
Merci, Sin, ich vergaß zu sagen, dass das Einhorn eine verzauberte Prinzessin ist, die sich nach ihrer Metamorphose sehr wohl fühlt.
LG
Ekki

 Dieter_Rotmund (29.07.18)
Ekkehard, das ist eine Satire, nolens volens.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.07.18:
Originelle Rezeptionen lassen sich nicht verhindern.

 irakulani (31.07.18)
Lieber Ekki, ein wahrhaft zauberhafte Geschichte, die du erzählst und die den geneigten Leser sich in eine Welt träumen lässt, in der alles möglich ist.

Eine Passage in deinem Text, wo das Einhorn spricht

"...weil sein Lied in allen Dingen schläft und es immer wieder Menschen geben wird, die das Zauberwort treffen, um es zu wecken.“

erinnert mich stark an Eichendorffs "Wünschelrute":

„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“

Eine Metapher, die so vielfältiges transportiert, dass sie immer wieder gern aufgegriffen wird.

Liebe Grüße,
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 31.07.18:
Liebe Ira, du glaubst ja gar nicht, wie ich mich freue, dass du hier wieder kommentierst.
Ja, Ira, die Wünschelrute habe ich aufgegriffen, weil sie fast als Programmgedicht für die Romantik gelten kann, so wie das Einhorn ihr Symbol sein könnte.
Liebe Grüße
Ekki
Dieter Wal (58)
(31.07.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.18:
Merci. Die ändert es auf Wunsch.
Dieter Wal (58) meinte dazu am 01.08.18:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.08.18:
Vielen Dank für diese interessanten Anregungen, Dieter.
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