Einblick

Gedicht zum Thema Augenblick

von  Isaban

Es legte sich ein dichtes Tuch
erst rechts, dann links vor Augen,
ich mochte es kaum glauben:
Ich sah sie nicht, doch hörte sie,
die unerhörten Tauben,
die außen vor den Fenstern saßen,
gedanklich Frühstück mit uns aßen
und doch stets draußen blieben;
du hast sie mir beschrieben,
als säßest du mit ihnen
dort.

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Kommentare zu diesem Text


 Irma (03.04.19)
Ein(e) Blinde(r) und ein(e) Taube(r)? Ein skurriles Pärchen, dem, durch Verlust einer Sinneswahrnehmung der Partner Ersatz sein kann. Das scheint hier auch der Fall zu sein. LyrIch bekommt durch LyrDu eine exakte Beschreibung geliefert von dem, was sich dort draußen (vor dem Fenster, vor seinen Augen) abspielt. Es gibt ja die Redewendung: ‚Ich kann meinen Augen kaum trauen‘ bzw. „Ich kann nicht glauben, was ich sehe“. Wie ist das dann mit einem geliehenen Auge? Aber ich will mal chronologisch vorgehen:

„Es legte sich ein dichtes Tuch
erst rechts, dann links vor Augen,
ich mochte es kaum glauben:
Ich sah sie nicht, doch hörte sie,
die unerhörten Tauben,“

Diese ersten beiden Verse scheinen von der allmählichen Verdunkelung, dem Nachlassen der Sehfähigkeit von LyrIch zu berichten. Der dritte Vers kann ambivalent auf diese Eingangsverse bezogen werden oder auf das, was dann (nach dem Doppelpunkt) folgt. Kann LyrIch kaum glauben, dass es erblindet? Oder dass dort vor dem Fenster schon wieder diese aufdringlichen, gurrenden Viecher sitzen? So oder so, die Unstimmigkeit wird auch durch den unreinen „Augen – glauben“- Reim zum Ausdruck gebracht.

Das nicht Sehen, aber Hören der „unerhörten Tauben“ ist natürlich eine wunderschöne Sinnesausreizung und ein Spiel mit der Polysemie von „unerhört“. Die Tauben werden gehört, aber nicht erhört. Ihr aufdringliches Betteln nach Futter ist einfach „unerhört“. Und es bleibt auch „unerhört“, sie gehen leer aus.

„die außen vor den Fenstern saßen,
gedanklich Frühstück mit uns aßen
und doch stets draußen blieben;
du hast sie mir beschrieben,
als säßest du mit ihnen
dort.“

Das Fenster bleibt zu, so wie die Augen von LyrIch. Die Tauben haben keinen Einlass, sie bleiben draußen. So wie anscheinend auch LyrDu. Er ist zwar ersatzweise Auge für LyrIch, aber seine detaillierte Beschreibung der Tauben rückt ihn für LyrIch mit in die Reihe der Tauben. Obwohl beide Partner gemeinsam am Frühstückstisch sitzen, brav im Paarreim (V.6 und V.7) platziert, hat LyrIch den Eindruck, dass LyrIch nicht wirklich bei ihm ist. LyrDu ist eher „dort“ (hervorgehoben durch den Extravers), als ‚hier‘. Das wird auch lautlich gezeigt über das i von V.4 („sie“), das sich über den Paarreim „blieben“, „beschrieben“ zum folgenden „ihnen“ hinzieht und LyrDu zur Taube, zum Tauber bzw. letztlich zum Tauben werden lässt.

Vielleicht bettelt es LyrIch um ein paar Informationen an, nimmt wie die Tauben „gedanklich“ am Schicksal von LyrIch Anteil. Aber kann eine Taube oder ein Tauber das Erzählte tatsächlich verarbeiten, sich wirklich einfühlen? Bleibt diese(r) nicht letztendlich taub für das Leiden des anderen, bleibt als Sehender (als Augentier, wie Vögel es sind) nicht irgendwie „außen vor den Fenstern“ (V.6) und damit „außen vor“, getrennt durch das Glas? Kann ein Außenstehender (Außensitzender) den nötigen „Einblick“ in das bekommen, was im Inneren (von LyrIch) vor sich geht? Ein Blick nach innen verschafft eben noch keinen „Einblick“. Letztendlich bleibt wohl jeder doch für sich allein, so wie das einsame Schlusswort. Man kann nicht ‚mit den Augen eines Anderen sehen‘.

Ein tolles, nachdenklich machendes Gedicht, Sabine. LG Irma

 monalisa meinte dazu am 05.04.19:
Toller Kommentar Irma
Liebe Grüße
Mona

 Isaban antwortete darauf am 07.04.19:
Ja, Irmchen, ein wirklich toller Kommantar.
Du haust mich mal wieder um. Gib es zu, dein zweiter Vorname lautet Empathie! Du hast verflixt viel aus meinem Text herausgeholt, zum Teil sogar das, was ich eher unterbewusst oder sogar absichtlich versteckt hineingelegt hatte - Irma, du bist ne Wucht!
Hab vielen, vielen Dank, dein Kommi war mir eine Riesenfreude.

Herzliche Grüße
Sabine

Antwort geändert am 07.04.2019 um 14:44 Uhr
Cora (29)
(05.04.19)
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 Isaban schrieb daraufhin am 07.04.19:
Wenn ich mir die Tauben anschaue, die vom Fenster aus auf den Tisch gucken, liebe Cora, bin ich mir fast 100%ig sicher, dass sie gern mit uns frühstücken würden. Klar picken sie nur, was ihnen vor den Schnabel kommt, aber wenn das Küchenfenster reden könnte, erklänge wohl täglich "Aua!".

Nichtsdestotrotz ist natürlich deine Interpretation der Außenstehenden auch überaus stimmig.

Herzlichen Dank dafür!

Liebe Grüße
Isaban

 monalisa (05.04.19)
Hallo Sabine,
ich möchte nach Irmas Vorlage noch in einer mehr metaphorischen Ebene einsteigen, das 'dichte Tuch, das sich erst links, dann rechts vor Augen legt' als so etwas wie 'Scheuklappen' auslegen, ein Filter (vorgefasste Meinungen, Vorurteile ...) der immer weniger bis fast gar nichts mehr durchlässt - auch 'betriebsblind' könnte man hier als Begriff ins Feld führen. So eingeschränkt, mit Blindheit geschlagen, kann LI aber die 'Tauben' vor dem Fenster immer noch hören. Die Ausrede, davon weiß ich nichts, gilt also nicht. Die Tauben können für alle Ausgegrenzten stehen, an Asylwerber denke ich da, an von (neuer) Armut Betroffene, an körperlich, giestig, seelisch Beeinträchtigte, (auch die Tauben/Gehörlosen) .In deinem Gedicht erfüllt ein LD eine Art Mittlerrolle, LD als jemand, der versucht die Blindheit LIs zu erhellen und empatisch Einblick in die Welt der 'Ausgegrenzten' zu geben. Ein bisschen scheint es auch zu wirken ('...gedanklich mit uns Frühstück aßen" zeugt doch von ein wenig Einfühlung, das LD dort hinzudenken ('als säßest du mit ihnen dort') ebenfalls, baut eine Brücke zwischen drinnen und draußen.

Sehr tiefsinnig, liebe Sabine!
Liebe Grüße
mona

 Isaban äußerte darauf am 07.04.19:
Auch eine phantastische Interpretation, liebe Mona,
und ich freue mich sehr, das auch diese Ebene zur Sprache kommt. Und über das "sehr tiefsinnig" freu ich mich noch eine Schippe obendrauf, wie man im Ruhrpott sagt. :D
Tausend Dank für deine schöne Rückmeldung, Interpretation und Ebenenerweiterung!
Herzliche Grüße
Sabine
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