4 - In einem richtigen Leben

Erzählung zum Thema Beziehung

von  Moja

An diesen Ort zu fahren, eine Kleinstadt in Brandenburg, kostete Elke Überwindung. Tariq holte sie vom Bahnhof ab. Leute sahen sie scheel an, beschimpften und beleidigten ihn, doch er ließ sich nicht provozieren. „So ist das hier immer“, sagte er. Undeutliche Erinnerungen stiegen in ihr auf, während sie an verlassenen heruntergekommenen Häusern vorbeikamen, seit Jahrzehnten schien sich hier nichts verändert zu haben. Die Gegend war trostlos. Beinahe körperlich spürte Elke die Vergangenheit wie eine Gegenwart und das Unbehagen von damals. Überwältigt von alten Gefühlen ging sie mit ihm durch die Stadt. Ihre Beklemmung nahm zu, zutiefst beunruhigt erreichte sie das Haus, in dem er wohnte.
Die Wohnungstür zierte Silberschmuck, daneben stand sein Name.  Helle umgab sie beim Eintreten, sie betrachtete die schwere Schrankwand dekoriert mit künstlichen Blumen in zierlichen Vasen, Kerzen und Kitsch. Flüchtig glitt ihr Blick über rote Vorhänge, Teppiche und Obstschalen. Seine Wohnung besänftigte sie, doch der Ort war feindlich, spürte sie.
Überrascht bemerkte sie, wie geschickt er in der Küche hantierte, das Essen zubereitete, während er sie beglückt mit Liebeserklärungen überschüttete. Er gab Ingwer in den Topf, würzte nach. Der Duft entspannte sie. Im Hintergrund lief arabische Musik. Elke vergaß den Ort, an dem sie sich befand. Nach dem Essen zeigte er seine Familienfotos, fing an zu erzählen.
Seine Familie besaß eine Bäckerei, er wurde Konditor, liebte den Beruf; das Geschäft ging gut, bis sein Vater schwer erkrankte und teure Medikamente brauchte. Die täglichen Schutzgeldzahlungen trieben ihn in den Ruin. Die Erpresser ließen nicht von ihm ab. Er bekam Ärger mit der Polizei, die Bäckerei wurde geschlossen. Er flüchtete nach Deutschland, unter falschem Namen stellte er einen Asylantrag, gab Palästina als Herkunftsort an.
Woher er wirklich stammte, wollte sie wissen. Kairo. Es klang unglaubwürdig.
Währenddessen starb sein Vater, erzählte er weiter, er konnte ihm nicht genug Geld schicken. Seine Frau lebt mit beiden Kindern bei seiner Schwester, die Mutter seit Jahren bettlägerig. Er sprach schneller. Lieber Tierheim als Asylheim, sagte er verbittert. Er redete verworren, überwältigt von Gefühlen. Schwierigkeiten in Deutschland, mehrere Operationen, Verrat, Verfolgung, Kooperation mit der Polizei, Vergünstigungen. Sie begriff kaum noch etwas. Tischte er auch ihr Geschichten auf?
„Weißt du, wie es ist, in einem Land zu sein, wenn man die Sprache nicht beherrscht, nicht sagen kann, dass man Hunger hat, was Brot heißt, Schmerzen zu haben, im Krankenhaus zu sein, dem Arzt nur sagen können: Ich nicht gut. Ohne Hilfe, auf Krücken, alles allein erledigen? Ich möchte mit jemand reden, ich bin voll, platze fast. Aber ich habe keinen Freund hier. Die Leute sagen, sei still, alle haben Probleme, schweig, wir wollen es nicht hören.“ Niedergeschlagen saß er da, den Kopf zwischen den Händen. Betroffen dachte sie über ihn nach, fühlte, wie leise Panik in ihr aufstieg.
„Du bist mein Leben. Ich liebe dich.“, sagte er nach einer Weile ernst und sah ihr fest in die Augen.
Schweigend tranken sie Kaffee, dann stand sie auf, sie hielt es nicht länger aus. Bestürzt versuchte er, sie zum Bleiben zu überreden, entschuldigte sich viele Male. Was hatte er falsch gemacht? Es lag nicht an ihm, beteuerte sie. Sie verstand sich selbst nicht, fand keine Worte.
Als Tariq sie zum Bahnhof begleitete, begann es zu regnen, der Regen wurde heftiger, es goss in Strömen. Er bat sie umzukehren, bei ihm zu bleiben, doch eine unbestimmte Angst vor dem Ort trieb sie fort. Der Zug fuhr gerade ab, als sie ankamen. Stumm gingen sie im Regen auf und ab. Sie wich seinen Blicken aus. Er war ganz durchnässt. Eng umschlungen wartete er mit ihr auf dem Bahnsteig. Als der Zug endlich einfuhr, riss sich sie von ihm los und sprang hinein. Die ganze Fahrt über saß Elke wie erstarrt da, erst in Berlin löst sich ihre Anspannung. Warum das so war, wusste sie damals nicht.

(Auszug) - Fortsetzung folgt -

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (28.09.20)
Es gibt arabische Märchenerzähler und es ist sehr schwierig, die Wahrheit von der Fiktion zu trennen. Insofern ist Elkes Verunsicherung nachvollziehbar.
Liebe Grüße
Ekki

 Moja meinte dazu am 29.09.20:
Vor allem, wenn Gefühle im Spiel sind und die Bedeutung von Partnerschaft, Ehe, Heirat, Liebe in den Ländern verschieden verstanden und gelebt werden.

Danke, Ekki, lieben Gruß,
Moja

 TassoTuwas (28.09.20)
Alles kann richtig sein, alles kann auch falsch sein.
Es ist unmöglich sich schon ein Urteil zu bilden.
Meine Erfahrungen aus Tunesien/Marokko sind zwielichtig.
Liebe Grüße
TT

 Moja antwortete darauf am 29.09.20:
Mich interessiert gerade die Vielschichtigkeit, beide Figuren haben ihre Hintergrundgeschichten, Beweggründe, mal sehen, ob es mir gelingt, beide so zu zeigen.

Lieben Gruß,
Moja
Stelzie (55)
(29.09.20)
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 Moja schrieb daraufhin am 29.09.20:
Den nächsten Teil habe ich eben eingestellt (hatte ich vergessen anzumerken), hoffentlich gelingt mir das auch weiterhin, die beiden Figuren in ihren Verwicklungen einfach nur zu zeigen.

Danke Dir, lieben Gruß,
Moja

 AchterZwerg (29.09.20)
Hallo Moja,

mir gefällt, wie geschickt du mit den Ängsten der sog. Aufnahmeländer spielst: Haben die Eindringe wirklich Asyl verdient? Wollen die sich auf "unsere" Kosten ein gutes Leben machen? Ist ihnen dabei sogar eine Scheinehe als Mittel recht?

Wirklich ein sehr interessanter Aufbau.

Liebe Grüße
der8.

 Moja äußerte darauf am 29.09.20:
Deine Rückmeldung bringt mich weiter, lieber 8.,
das Thema ist komplex, die Beweggründe vielschichtig, immer sind Gefühle im Spiel, Erwartungen, Prägungen - ich bleib dran.

Moja dankt & grüßt!

 harzgebirgler (30.09.20)
es wittert elke sicherlich kaum gerne
vielleicht gar ne bedrohung in der ferne.

gespannte abendgrüße
harzgebirgler

 Moja ergänzte dazu am 30.09.20:
Allerdings, auch Du hast den richtigen Riecher!

Vielerlei Grüße,
Moja
Al-Badri_Sigrun (61)
(02.10.20)
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 Moja meinte dazu am 02.10.20:
Es ist eine komplizierte Geschichte, die ich versuche zu erzählen, liebe Sigrun, Dein Kommentar bringt mich weiter.

Danke für Deine Rückmeldung, und dass Du so ausdauernd liest.
Ich arbeite gerade an den Fortsetzungen, immer mehr fällt mir ein, in Kürze geht es weiter.

Grüße Dich herzlich zurück,
Moja
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