5 - In einem richtigen Leben

Erzählung zum Thema Beziehung

von  Moja

Tariq lehnte am Küchenschrank, während Elke das Geschirr abtrocknete. Sie drehte sich zu ihm um. „Warum bleibst du hier?“, fragte sie unvermittelt. Sein Gesicht wurde schmal, Tränen traten ihm in die Augen. „Ich möchte meine Kinder herholen“, sagte er mit erstickter Stimme. Sie legte Handtuch und Teller beiseite und trat auf ihn zu. „Ich möchte meine Kinder anfassen, festhalten!“ Er schlang die Arme um ein Nichts, erschüttert blickte er in die Leere. Seine Stimme brach, nur ein gurgelnder Laut, der sich unkontrolliert gelöst hatte. Die Augen weit aufgerissen, umfing er in Gedanken seine Kinder, die Mutter, die Schwester. „Ich möchte sie sehen, anfassen“, flüsterte er heiser. Wie in Trance nahm er ihre Stimme wahr, ihre Frage durchdrang Schichten seiner Lebenslügen, die ihn geschützt und angetrieben hatten, diesen Weg weiter zu gehen. Elke berührte die große kreisrunde Narbe auf seinem Kopf. „Von der Polizei“, sagte er leise. Sie fragte nicht weiter.
„Ein, zwei Jahre wollte ich bleiben, Geld verdienen. So schwer hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich dachte, ich gehe herum und frage nach Arbeit. Es ist alles ganz anders.“ Tariq blickte seufzend zu Boden, seine Arme hingen herab. Der Wasserhahn tropfte monoton. Elke dachte fieberhaft über etwas nach, das sie beunruhigte. „Warum bist du nicht bei deinen Kindern, wenn es so ist?“, hörte sie sich fragen, als spräche nicht sie. Erschrocken blickte er sie an und stammelte. „Sie brauchen ein Fahrrad.“ Sie starrte ihn an. „Das Geld“, stotterte er, „Medikamente für meine Mutter, sie brauchen Sachen.“ Er verstummte, schien erstaunt über das, was er gesagt hatte. Elke ließ ihn nicht aus den Augen. „Ein Vater ist mehr als ein Fahrrad“, sagte sie eindringlich. „Meine Kinder bleiben immer meine Kinder, auch mit sechzig hören sie noch auf mich, so ist das bei uns“, sagte er trotzig. Als wüchse keine neue Generation heran, vaterlos, getrieben von gespaltenen Wünschen, verloren im Riss zwischen den Kontinenten, dachte sie. Er war mutig fast alles zu ertragen, Sprachlosigkeit, Fremdheit, Operationen, Einsamkeit, Heimweh, die schwerste Arbeit, immer schwarz, unterbezahlt und heimlich. Er hat keinen Mut, sich seinem alten Leben zu stellen. Er glaubte, worauf er hoffte. Was löste sie bei ihm aus? Was wusste sie denn schon?
Tariq schüttelte sich, als würde er ihre unbequemen Fragen abwerfen. Hinter allem lag eine Wahrheit, die einmal aufgebrochen, das ganze Elend seines Seins aufzeigen würde, auf denen sich jahrelange Hoffnungen, falsche Kompromisse wie Verkrustungen ablagerten. Er schwankte unsicher und ergriffen. Ein Funken Sinnlosigkeit blitzte in seinen Augen auf, sein Mund stand offen. Tariq zitterte am ganzen Körper. All die Jahre voller Qualen in der Fremde, Demütigungen, Selbstzweifel, innerer Kämpfe, Ernüchterung erfasste ihn wie in einem Taumel. Mitten im Leben stand er, da, wo andere alles erreicht hatten. Galt das auch für ihn, für das Land, aus dem er kam? War es so einfach, bräuchte er nur seinen Mut zusammennehmen und zurückkehren als der Vater, der Bruder, der Sohn, der er vorher gewesen war? Mit leeren Händen, welche Schmach! Fünf Jahre lebte er bereits in Deutschland. Was hatte er vorzuweisen? Die gleichen Probleme begännen von vorn, schlimmer noch. Und hier – unter falscher Identität heiraten, nie mehr in sein Land einreisen können, wie könnte er seine Kinder wiedersehen? Bis ins Innerste getroffen stand er vor ihr, ein gebrochener Mann. Wie hatte sie ihn so herausfordern können? Sie nahm ihn in die Arme, er fühlte sich körperlos an, kalt. Hasserfüllt sah er sie an, dann wendete er sich ab, setzte sich an den Tisch, in sich gekehrt, ganz still.

(Auszug) - Fortsetzung folgt -

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (29.09.20)
Hallo Moja, du erreichst hier ein hohes sprachliches Niveau, das emotionale Nuancen sehr genau einfängt.
LG
Ekki

 Moja meinte dazu am 30.09.20:
Dankeschön, Ekki, und ich hatte so große Bedenken, dachte, es wäre zu viel an Aufzählung und grübelte und grübelte... Deshalb ist so eine Rückmeldung ganz wichtig (der Text ist noch unveröffentlicht, ich feile dran).

Liebe Grüße,
Moja

 Regina (30.09.20)
Asylbetrug, Identitätsfälschung, Schwarzarbeit, Scheinehe, Kindervernachlässigung und am Ende gar Hass anstelle von Einsicht. Könnte man sich über ein Land, wo man temporär arbeiten will, nicht vorab informieren, anstatt über die eigenen Illusionen zu stolpern?

 Moja antwortete darauf am 30.09.20:
Mit der Rationalität ist das so eine Sache, vor allem wenn Gefühle ins Spiel kommen, liebe Regina, fast so, als ob man, bevor man auf die Welt kommt, sich informieren müsste, ob das Leben die Mühe wert ist.
Seit drei Jahrzehnten beschäftigt mich das Thema binationale Partnerschaften, ich such nach Gründen, warum so viele Beziehungen scheitern - natürlich an den Grundlagen, falschen Voraussetzungen.
Und jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, so vieles lässt sich einfach nicht vermitteln.
Ich schreibe weiter an der Erzählung, die beiden Figuren sind frei erfunden, Biografie trifft auf Biografie, Handeln und Verhalten werden aus früheren Ereignissen gespeist.

Danke für Deinen Kommentar und lieben Gruß,
Moja

Antwort geändert am 30.09.2020 um 17:14 Uhr

 AchterZwerg (30.09.20)
Die Schmach, von einer Frau bemitleidet zu werden, ist für einen Araber nicht so einfach wegzustecken.
Ich fürchte, die Schuldzuweisung wird sich focussieren und die Frau mit ganzer Härte treffen.

Herzliche Grüße
der8.

 Moja schrieb daraufhin am 01.10.20:
Frauen sind sowieso immer und an allem schuld, der Vorwurf trifft die Weiblichkeit seit Evas Zeiten.

Ist das im Zwerginnenreich auch so?

Jedenfalls muss sich Tariq zusammennehmen, sein befristeter Aufenthalt läuft in Kürze ab, da wendet er besser die arabische Taktik der Verstellung an, unterstelle ich ihm.

Nachdenkliche Grüße,
Moja
Al-Badri_Sigrun (61)
(02.10.20)
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 Moja äußerte darauf am 02.10.20:
Liebe Sigrun,

die Hoffnung treibt Menschen voran, manch einer setzt alles auf eine Karte, ein anderer steht so unter Druck, womöglich Lebensgefahr, dass er viel riskiert, Irrationales mischt sich in die Erwartungen, bevor man das alles selbst nicht erlebt hat, glaubt man kaum, was andere berichten. Wer kommt schon freiwillig zurück, wenn er sich in einem sicheren reichen Land eine Zukunft erträumt? Er würde sein Ansehen verlieren vor der Familie, käme er mit leeren Händen zurück. Keiner will ein Verlierer sein, lieber schlägt er sich durch, hofft weiter auf sein Glück. Das ist ein schreckliche Misere, in der viele Ausländer stecken.

Vielen Dank für Deinen einfühlsamen Kommentar!
Liebe Grüße von mir,

Moja

 TassoTuwas (03.10.20)
Hallo Moja,
das löst eine Flut von Emotionen aus, so eindringlich beschrieben, dass der Leser zwischen Glauben und Zweifeln zurück bleibt.
Liebe Grüße
TT

 Moja ergänzte dazu am 03.10.20:
Danke, Tasso,
hoffentlich bleibt der Leser nicht auf der Strecke, während ich in meiner unschlüssigen Nummerierung den Text durcheinander wirble.

Lieben Gruß und Dank an Dich, Moja
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