Wie jeden Nachmittag saß der Akkordeonspieler vor dem Hotel, ein kleiner Hund tänzelte neben ihm. Ausgeleiert und schwermütig schallte das Lied über die Rua Augusta. Passanten beugten sich zu dem Jungen hinab und warfen ein paar Münzen in seinen Hut, während ich mich dem Rossio-Platz näherte. In großen Gruppen standen Männer mit orientalischen Gesichtszügen und unterhielten sich. Woher auch immer diese Immigranten ferner Länder kamen, der Platz bot ihnen einen festen Treffpunkt, er verband sie in ihren Sehnsüchten. Manche sahen aus wie trockenes Holz, andere ließen messerscharfe Blicke schweifen oder strahlten eine Leere aus, als hätten sie ihr Leben in der Heimat zurückgelassen. Melancholie und Heimweh spiegelte sich in den Gesichtern. Portugiesen in Anzug und Übermantel, mit steifem Hut, schwarzen Schuhen, die an den Seiten der Straßen von Schuhputzern aufpoliert wurden, überquerten den Platz. Sie wirkten deplatziert, einen Charme wie aus einer anderen Zeit ausstrahlend. Der Platz schien ausschließlich vom Rhythmus der Schwarzen zu leben, den nur sie verstanden. Ich fühlte mich schlagartig fremd. Zu weiß war meine Haut, zu hell mein Haar, zu wenige Frauen hielten sich hier auf. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. Die Afrikaner waren durch ein unsichtbares Kontaktnetz, durch kleine kaum wahrnehmbare Zeichen miteinander verbunden.
Ich setzte mich auf eine Bank im Sonnenschein, der den Platz in ein gleißendes Licht tauchte und verfolgte die unsichtbaren Fäden, die über den Platz gespannt waren. Jemand bewegte sich plötzlich über den Platz, ein anderer tauchte auf, etwas passierte beim Handschlag, es geschah blitzschnell, Worte wurden kaum gewechselt, Blicke nur angedeutet, wie überspringende Funken, die Haltungen waren nachlässig, schon lag wieder Gleichgültigkeit auf den Gesichtern wie eine unverrückbare Maske.
Als ich den Platz überquerte, pfiffen sie mir hinterher, riefen nach mir, ich drehte mich nicht um, beachtete sie nicht. Ich verlor mich in den Seitenstraßen des Viertels. Läden reihten sich aneinander mit billigem Tand und Gewürzen in den Auslagen. Frauen in Saris bedienten in einer mir fremden Sprache. Merengue-Musik drang aus den Fenstern eines heruntergekommenen Hauses, Fetzen spanischer, portugiesischer Radiosender vermengten sich mit dem Stimmengewirr in den Häusern. Bettler schliefen unter Pappkartons im Schatten von Hauswänden. Ich fühlte mich unbeschwert, zügig schritt ich aus, frei von Verpflichtungen, ganz auf mich selbst gestellt. Niemand kannte mich in dieser Stadt, grenzenlos schien das Leben sich mir anzubieten, neugierig schaute ich mich um, folgte allein meinen Instinkten. Ich erlag dem Gefühl, ein neues einzigartiges Leben erwarte mich in einer fremden Stadt, mein wahres Leben. Der Name Lissabon erschien mir wie eine Verheißung, nach deren Erfüllung ich mich gesehnt hatte.
Ich stieg die Treppen in den engen Gassen hinauf und hinab, blickte hinunter in die dunklen Straßenschluchten, die manchmal einen spaltbreit den Blick auf den Tejo freigaben, atmete fremde Gerüche ein. Es roch nach Holzkohle, arabischen Parfüm, frischem Fisch, geröstetem Kaffee, Orangen, Mangos. Müll lag auf den Treppen, Leute stöberten darin herum. Es war eine andere Welt, ein anderes Lebensgefühl. Ich fand keinen Vergleich. Wie unergründbare Geheimnisse erschienen mir die Krämerläden, schmuddeligen Verkaufsbuden, ein Laden mit verstaubten Schuhen in der Auslage. Ich bog in eine schmale Seitenstraße ein, erklomm die Höhen zum São Jorge. Von der Oberstadt sah ich die Kabelbahn hinunter in die Unterstadt fahren. Weit blickte ich über die weiße Stadt mit ihren Hügeln, über Palmen, Kiefern, Zypressen und Olivenbäumen hinweg, über die roten Dächer übereinander geschachtelter Häuser mit Azulejos, gelben Fronten und Blumenrabatten, als mir ein Afrikaner entgegenkam, mich grüßte und langsam an mir vorüber ging. Ich verpasste den Moment der Erwiderung. Doch einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte ich mich zu ihm um. Auch er hatte sich zu mir umgewandt. Ich spürte eine suggestive Kraft, die von ihm ausging, mich magisch anzog. Einen Moment standen wir uns stumm gegenüber. Dann löste er sich von der Stelle und kam auf mich zu, stellte sich vor und reichte mir die Hand.
Ein Ghanaer, der seit langem in Madrid lebte, erfuhr ich auf der Terrasse eines Cafés.
„Haben Sie Vorurteile Afrikanern gegenüber?“ Er ließ mich nicht aus den Augen. „Gehören Sie zu den Leuten, die enttäuscht wurden?“
Was wollte er? Wer hatte keine Vorurteile, wer war nicht enttäuscht worden. Ich schüttelte den Kopf.
„Was machen Sie beruflich?“
Er fragte wie jemand, der sich über Beruf und Arbeit definiert. Wenn in Westafrika jemand Taxi fuhr, war er ein Taxifahrer, kochte einer, war er ein Koch, nähte einer auf einer klapprigen Tretmaschine auf einer staubigen Veranda, war er ein Schneider. Man konnte viele Berufe im Leben ausüben. Sein Name, seine Herkunft waren seine Identität. „Ich lebe“, sagte ich, „das füllt mich aus.“
Er musterte mich. „Ich bin Chirurg. Vor zwanzig Jahren ging ich nach Polen, um zu studieren, lernte meine Frau kennen, wir heirateten, ich bin geschieden, habe zwei Kinder“, sagte er in einem Atemzug und wischte mit einer Handbewegung Ehefrau und Kinder vom Tisch. Er trank seinen Kaffee und blickte über die weiße Stadt.
„Machen Sie hier Urlaub?“, fragte ich.
„Nein, ich habe Kontakte zu einem Krankenhaus.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Und Sie? Was treibt Sie her?“
„Die Sehnsucht.“, sagte ich. „Ich arbeitete einige Jahre in Westafrika und lebe erst seit kurzem wieder in Europa.“ Ich merkte, wie ich plötzlich leiser sprach und mein Blick über die Hausdächer und den Tejo in die Ferne schweifte.
„Ich komme aus Kumasi, gehöre zum Volk der Ashanti. Ein Europäer kann das afrikanische Paradoxon nicht verstehen“, fuhr er fort. „Das Problem ist die Intoleranz. Jeder hält sich für etwas Besseres. Die Leute haben Vorurteile, aber die wenigsten geben es zu. Als ein Afrikaner muss man mehr leisten als ein Europäer, um anerkannt zu werden.“ Ein harter Zug umspielte seinen Mund. „Die afrikanischen Staaten werden ähnlich künstlich zusammengehalten wie die osteuropäischen. Fällt das System, fällt alles auseinander, brechen Feindschaften auf, Bürgerkriege entstehen.“
Er sprach seit einer ganzen Weile, seine Hand zitterte, als er die Kaffeetasse anhob. Ich nickte hin und wieder, meine eigenen Gedanken legten sich über seine Erzählung. Was würde ich anfangen nach meiner Rückkehr aus Afrika? Ich war nicht mehr die gleiche wie zuvor. Was geschah in Afrika mit Europäern und was mit Afrikanern in Europa? „Waren Sie jemals wieder in Ghana?“, fragte ich.
Ein verschlossener Ausdruck trat in sein Gesicht. Umständlich suchte er in den Taschen nach Zigaretten, zündete sich eine an und sog den Rauch ein. Er schien jetzt älter, seine Stirn war von feinen Falten durchzogen, er wirkte müde und desillusioniert. Sein kurz geschnittenes drahtiges Haar zeigte Ansätze von Grau.
„Nach dem Tod meiner Mutter war ich nie wieder da, nichts hält mich dort“, sagte er.
„Auch nicht mit Ihren Kindern?“
„Nein, nie. Ich bedaure, ihnen nicht meine eigene Kultur näher gebracht zu haben. Sie wissen nichts über mein Land.“ Er hielt den Kopf gesenkt, drehte die Zigarette zwischen seinen Fingern hin und her. „Ich habe nur an meiner Karriere gearbeitet“.
Er streifte die Asche ab, sprach schnell weiter von Reisen, Auslandstreffen, ich hörte Städtenamen wie London, Hamburg, Paris. Genugtuung blitzte in seinen Augen auf, er schien noch einmal zu erleben, worum er in seinem Leben gerungen hatte.
„Was bedeutet Ihr Name Opoku?“ Er wehrte ab. Wie europäisiert dieser Mann ist, dachte ich traurig. Opoku, ein Name wie ein Zauberspruch.
„Wissen Sie“, sagte er, „es gibt nur einen Weg aus der afrikanischen Misere.“ Er zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher, das schien seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen. „Bildung, Vermittlung eines feindlosen humanen Bildes ohne Rassismus, so stelle ich mir das vor.“ Er nahm eine Zigarette aus der Packung, stieß sie ein paar Mal auf den Tisch auf, bevor er sie anzündete. „Die Europäer, die nach Afrika kommen, denken unbewusst, dass sie besser sind als die Afrikaner.“ Aus seiner Stimme klang Resignation, mit leerem Ausdruck schaute er über Lissabon.
Alles war anscheinend gesagt.
Ich fröstelte, schnell war der Nachmittag vergangen, ein violettes Licht lag gedämpft über der Stadt. Gemeinsam stiegen wir den Weg in die Altstadt hinab, liefen nebeneinander her in einem Gleichklang, der uns nicht verband und hingen eigenen Gedanken nach. Er begleitete mich bis zum Ende der Rua Augusta, wir durchschritten das Tor, überquerten den Platz und gelangten an den Tejo. Lange hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Der breite Fluss verblasste am Horizont konturlos in der Ferne, er erweckte in mir die Illusion eines langen Weges, der vor mir lag.