Mit wehendem Wintermantel kam er auf sie zu. Sie sahen einander in die Augen. Und gingen aneinander vorbei. So einen stelle ich mir, die Hälfte von dem, dachte sie. Er grüßte. Sie blieb stehen. „Ja, Sie meine ich.“ Er winkte ihr zu. Sie blickte hinter sich, da stand niemand.
„Wir kennen uns doch von irgendwoher? TAM-TAM, nein, ABRAXAS?“ – „Möglich“, sagte sie. „Na also, wir haben miteinander getanzt“, stellte er zufrieden fest. Sie schüttelte den Kopf. „Gemeinsamer Bekanntenkreis?“, fragte sie. „Unwahrscheinlich“, meinte er und stellte sich vor, „Roger.“ Er sprach seinen Namen französisch aus. Sie sah Rocher vor sich, gold verpacktes Konfekt, rund wie er. Plötzlich hatte sie den Geschmack auf der Zunge. Zaghaft wiederholte sie seinen Namen. Er nickte. Sie starrte auf das Leopardenmuster seines Hemdes.
Wie kamen sie bloß auf die Demo vom Vortag? Alle um sie herum hörten aufmerksam zu. Der Zug kam. Gemeinsam stiegen sie ein. „Wohin fahren Sie, darf ich Sie ein Stück begleiten?“ – „Gern“, sagte sie. „Wir könnten weiterreden“, schlug er erwartungsvoll vor. „Wir könnten auch ein anderes Mal weiterreden“, bot sie an. Er strahlte sie an und griff nach ihrer Tüte, den Blumen, der Tasche. Sie kramte einen Kugelschreiber hervor. Unter Blumen, Tasche und Tüte zog er einen Zettel aus seinem Mantel. Schwungvoll schrieb er Namen, Telefonnummer und E-Mail-Adresse in ihr Notizbuch. Das würde sie nun keinem mehr zeigen können, dachte sie irritiert.
Der Zug hielt. Sie stiegen aus. „Rufen Sie mich jetzt an“, bat er und hielt sein Handy ans Ohr. Schweigend betrachtete er die Reihe afrikanischer Namen auf dem Display ihres Handys. Sie tippte seine Nummer ein. „Klappt“, sagte er zufrieden, als es klingelte.
„Also, ich bin von der Elfenbeinküste, lebe seit über zehn Jahren hier und habe die Nase voll von dem Land. Aber wo kann ich hin? Wo ist mein zuhause – und wo ist das Geld?“ Er zuckte die Achseln. „Ich bin nicht mehr der Gleiche“, seufzte er. „Nach Dakar.“ – „Auf keinen Fall, der Präsident unterstützt die Regierung an der Elfenbeinküste“, erwiderte er. „Europa mischt sich überall ein, vor allem die Franzosen, fast wie vor der Unabhängigkeit“, warf sie ein. „Sie haben es erfasst, die Franzosen bestimmen zu viel.“, sagte er. „Die meisten Produkte in Westafrika kommen aus Europa, es gibt wenig Industrie“, bemerkte sie, als sie an die Kreuzung gelangten. Er stellte sich vor sie hin. Stumm starrten sie einander an, bis die Ampel auf Grün schaltete.
Sie suchte nach dem Haus. „Waren Sie hier noch nie?“, fragte er misstrauisch. „Ich habe die Hausnummer vergessen und muss suchen wie in Afrika, wo es weder Straßennamen noch Hausnummern gibt.“ Sie lachten. Dann fand sie das Haus. Er spähte nach den Namensschildern. „Warum drücken Sie nicht den Klingelknopf? Sind Sie hier wirklich richtig?“, fragte er. „Da“, sie tippte auf das Schild. Er las einen afrikanischen Namen. „Können wir das Sie weglassen?“, bat er. „Ja.“ – „Musst du wirklich jetzt gehen? Wir reden gerade so gut.“ – „Meine Freundin hat Geburtstag.“ Sie hob Tüte und Blumen an. „Wie schade! Ich möchte dich jetzt gar nicht gehen lassen.“ Er breitete die Arme aus.
Sie klingelte, lief hinauf, nahm die Freundin in die Arme, gratulierte, überreichte ihr die Blumen und das Geschenk. Flüchtig warf sie einen Blick ins Zimmer, drinnen saßen die Eltern, Kinder, Freunde, standen Kuchen, Suppe, Rotwein und Kaffee auf dem Tisch. „Tut mir leid“, sagte sie, „ich muss gehen. Ich erkläre es dir später.“ Sie rannte die Treppen hinunter.
Bis Mitternacht saß sie mit diesem Mann in einem Café – und lachte. So hätte es sein können. Stattdessen fragte sie ihn: „Mittwoch oder Freitag?“ Er murmelte etwas Unverständliches. Sie fragte nicht weiter. Roger sah sie stumm an. Sie reichte ihm die Hand. Er stand noch immer still da, als die Haustür hinter ihr zufiel.
2
Warum ruft er nicht an, dachte sie. Da hatte sie schon zwei Mails im Postfach, eine SMS auf dem Handy und einen anonymen Anruf. Er schrieb: „Ich habe Sehnsucht nach dir. Je T embrasse très très fort. Wartest du morgen mal in der U-Bahn auf mich?“
In einer klaren Frühlingsnacht liefen sie lange durch die Straßen. Die Luft duftete, Bäume blühten. Er umarmte sie, hob sie hoch, wirbelte sie herum. „Ich hoffe, dass ich mit dir an die Elfenbeinküste fahre. Am Wochenende wäre ich mit dir am liebsten nach Hamburg gefahren, ich bin manchmal so spontan.“, verriet er. Sie drückte ihm ein Konfekt in die Hand, Rocher, nicht Mon Cherie.
„Wo ist das wirkliche Leben?“, rief er erregt an einer leeren Straßenkreuzung. Kein Mensch lief vorbei, kein Auto fuhr. Er schlug seinen Mantelkragen hoch. „Auf Guadeloupe tanzen sie jetzt Samba“, sagte er und tänzelte ein paar Schritte vor der Bank. „Und nun?“, fragte sie. „Nach meiner ersten Heirat wegen Papieren, der zweiten wegen Kindern, möchte ich jetzt etwas Schönes, nichts Anstrengendes mehr“, sagte er. Er hatte die Nase voll vom Eheleben genau wie sie. Wollte sie mit ihm etwas anfangen, überlegte sie unschlüssig. Wie beiläufig legte er den Arm um sie, streifte ihre Taille, klopfte ihr auf den Rücken, fuhr durch ihre langen Haare. Er seufzte resigniert. „Ich bin zu dick“, gestand er. „Liegt es am Essen?“ – „Wegen dem Fou-Fou meinst du“, fragte er kleinlaut zurück. Sie nickte. „Wenn ich dich jetzt nach Hause bringe, schaffe ich keine Bahn zurück“, sagte er und blickte verlegen zur Seite. „Stimmt!“, antwortete sie lakonisch. Der Kuss fiel ohne Umarmung aus. Sie stieg in den Zug. Er winkte ihr lange nach.
3
Sie mailte ihm: Lundi, Mardi, Mercredi, Jeudi, Vendredi, Mango oder doch Dakar? Träumst du – oder laufen wir noch eine Runde, peut-être? Fou-Fou bleibt im Schrank und du kommst raus! – Vendredi deuxième tour? – schrieb er zurück.
„Feierabend, mais où est la vie ? Wer tanzt Samba mit dir auf Guadeloupe?“ Begrüßte sie ihn. Ein dezenter Parfümduft ging von ihm aus. „Heute nicht“, winkte er ab und führte sie mit stolzer Miene zu seinem silbernen Auto. „Überraschung! Steig ein, ich fahre dich nach Hause.“ Sie schaute entgeistert. „Hast du was zum Trinken da?“, fragte er. „Jede Menge Leitungswasser“, entgegnete sie. Morgen würde er mit seinen Kindern kommen, kündigte er an. Sie sah schon zwei niedliche Jungs auf dem Boden herumkugeln.
In ihrer Wohnung angekommen rückte er vom Stuhl auf den Sessel, dann neben sie auf die Couch. Durch seine Brillengläser blickte er sie starr an, zog den Kaugummi lang und versuchte sie zu küssen. „Hoppla“, rief sie. „Warum nicht jetzt“, fragte er ungeduldig, „ist doch sowieso alles das gleiche, ob jetzt oder in sechs Wochen, sechs Monaten.“ Er legte den Arm um ihre Hüfte.
Sie hörten die CD nicht bis zum Ende. Er trank das Wasser aus. Mutig trat er den Rückzug an. Im Flur zeigte sie ihm, was wirkliche Gefühle sind. Verlegen schmolz er dahin. „Dann sehen wir uns morgen also nicht?“, fragte er ungläubig. Sie schob ihn hinaus. Winke, winke, machte er artig im Treppenhaus.
Ruf ich den noch mal an für eine Übungsstunde in erotischer Inszenierung oder ist bei ihm Hopfen und Malz verloren? Er hat so raue Hände, stellt sich ungeschickt an, nicht spannend, aber gemütlich, dachte sie und wechselte die CD.