Schulgeschichten. Was hat Sartre mit Kohl zu tun?

Ansprache zum Thema Generationen

von  EkkehartMittelberg

In meinen Schulgeschichten habe ich auch düstere Seiten von Schule in den 50er Jahren beleuchtet. Diesmal habe ich Erfreulicheres zu berichten, jedoch nicht nur. Das Unerfreuliche ist jedoch nicht der Schule zuzuschreiben, die ich erlebte.

Als wir 1955 in die Oberstufe versetzt wurden, hellte sich das Lernklima auf. Das lag zum einen daran, dass wir nicht mehr geschlagen wurden, und zum anderen daran, dass auf der Oberstufe junge engagierte Lehrer eingesetzt wurden, denen daran lag, uns zu guten Demokraten zu erziehen.
So kam es, dass sich einige von uns, je nach Begabung und Neigung unterschiedlich, auf die eine oder andere Schulstunde freuten.

Ich war von dem Deutschunterricht fasziniert und das, obwohl wir weiterhin die Klassiker lasen, die mich auf der Mittelstufe gelangweilt hatten, weil dort oberflächlich Inhalte nachgebetet wurden,die für die Adenauer-Zeit systemstabilisierend waren. Das sollte sich nun gründlich ändern, weil der Deutschlehrer uns beibrachte, gegen den Strich zu lesen und gerade das zu diskutieren, was eine bürgerliche Tradition der Klassiker übersehen und bewusst stillgelegt hatte.

Auf der Mittelstufe hatte keiner von uns Lust „ Die Jungfrau von Orleans“ zu penetrieren. Schiller konnte uns gestohlen bleiben. Wir staunten jetzt nicht schlecht, welch revolutionäre ketzerische Gedanken sein Franz Moor in den „Räubern“ dachte.
Selbst ein „Langweiler“ für junge Menschen wie Goethes „Wahlverwandtschaften“, ein Roman, in dem sich in einer seltsam ort- und zeitentrückten Handlung trotz Eheschranken zwei Liebespaare über Kreuz finden, die aber ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ausleben und von denen eines an den Folgen von Entsagung stirbt, wurde in diesem Deutschunterricht erträglich, weil der Roman nicht als Apologie der Ehe interpretiert wurde, sondern klar wurde, dass Goethe es dem denkenden Leser überlässt, seine eigenen Schlüsse für sein Verhalten zu ziehen.

Aber es waren nicht in erster Linie die deutschen Klassiker, sondern internationale Literatur, die einigen von uns das Gefühl von Freiheit im dumpfen Mief eines Jahrzehnts der Restauration spießbürgerlicher Moral gaben.

So lasen wir zum Beispiel von Albert Camus „Die Pest“als Beispiel für die Philosophie des Absurden, von Sartre „ Das Spiel ist aus“ als Beispiel für den philosophischen Determinismus (das Geschehen ist durch Vorbedingungen festgelegt) und die Parabel vom Großinquisitor als Herzstück der Gebrüder Karamasov von Dostojewski. Ich erkannte bald, dass der französischen Lektüre nicht wirklich die Philosophie des Existentialismus zugrunde lag und dass es sich bei der Parabel von Dostojewski um eine relativ gemäßigte Kritik am Christentum handelte , aber die Inspiration reichte, dass ich die Stadtbibliothek wegen weiterer Stücke von Sartre aufsuchte, um eine radikale Alternative zu der damals in den Massenmedien dominierenden christlichen Erbauungsliteratur zu finden.

Ich orientierte mich an vielversprechend aufsässigen Titeln und so kam ich mit „Der ehrbaren Dirne“ und den „Schmutzigen Händen“ nach Hause. Meine Eltern waren wie einige Erzieher ihrer Generation damals noch im nationalsozialistischen Denken befangen, hatten aber eine Rückkehr zur Kirche beschlossen. Sie verfolgten den umerziehenden Deutschunterricht mit Misstrauen, wagten aber nicht den Deutschlehrer des humanistischen Gymnasiums, zu dem sie mich geschickt hatten, offen in Frage zu stellen. Ich hätte mich hinter einer angeblichen Empfehlung des Pädagogen verstecken können, gab aber meine Buchauswahl wahrheitsgemäß als eigene Entscheidung aus.
Die Eltern hatten überhaupt keine Ahnung von der Philosophie Sartres, spürten aber intuitiv, dass diese ihre Erziehungsideale radikal in Frage stellen würde, und so ergab sich schnell ein substanzloses Streitgespräch, in dem wir aneinander vorbeiredeten. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie Sartre einen respektlosen Nihilisten nannten, der alle bürgerlichen und christlichen Tugenden, ohne einen Ersatz dafür bieten zu können, niedermache. Sie sahen zwar berechtigt in Sartre einen antibürgerlichen Autor. Dennoch warf ich ihnen nicht  unberechtigt vor, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstünden.
Wir hatten einen sehr großen Garten, dessen Erträge wegen des kleinen Gehalts meines Vaters für unseren Lebensunterhalt notwendig waren. Das sah ich ein, und so arbeitete ich nolens volens im Garten mit. Aber unser Streitgespräch mündete in dem Befehl: „Du gehst jetzt in den Garten und gräbst das Kohlbeet um. Das wird dich von deinem Sartre kurieren.“
Was sollte ich machen? Ich wollte studieren und war von meinen Eltern abhängig. So ließ ich dann meine Wut an den Kohlstrünken aus, die ich ihrer Existenz beraubte.
Falls Sie darauf gewartet haben, dass ich etwas über Helmut Kohl sagen würde. Der hatte mit Sartre auch nie was am Hut.

März 2014





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Kommentare zu diesem Text


 Terminator (20.01.23, 00:47)
Wir hatten Kohl, wir hatten Köhler, und am Kohlsten ist jetzt Bundespräsident.

(Kohl bringt mich, wie Jelzin, immer zum Lachen).

Wir haben nun die umgekehrten 50-er: damals war absolute Prüderie geboten, heute herrscht perverse Pornokratie. Damals hatten junge Menschen heimlich Sex, und es war romantisch, heute sind junge Menschen sexuell frustriert, noch bevor sie zum ersten Mal Sex haben, also lassen sie es einfach. Jeder Dritte unter 30 hatte noch nie Sex (Schätzung).

Ich hatte das Glück, in zwei Welten aufzuwachsen: der spätsowjetischen Prüderie und der (leichten) Pornokratie der 90-er in Deutschland. Verbotene Bücher gab es bei uns nicht: selbst für meine Eltern war westliche Pulp Fiction neu und aufregend, mein Vater las Kriminalromane.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 00:55:
Vielen Dank, Terminator.  Deiner besonderen Biografie verdanken wir originelle und kluge Kommentare.

LG
Ekki

 AchterZwerg (20.01.23, 05:16)
Lieber Ekki,
die Lehrpläne der Oberstufe (und später der Abendgymnasien) glichen sich offensichtlich aufs Haar.
Was seinerzeit als Aufreger galt, zählt heute zu den Klassikern. 8-)
Insofern kann man wohl gelassen in die Zukunft schauen: Der Garten einer humanistischen Bildung ist zwar den Stürmen der jeweiligen Neuzeit ausgesetzt, bringt am Ende aber doch Ertrag. Ob dies auch für den Demokratisierungsprozess zutrifft, weiß ich nicht ...

Schwarzkohl, die Urform des Grünekohls, ist jedenfalls äußerst pflegeleicht.   

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 20.01.23 um 11:04:
Liebe Piccola,

ich begrüße es, dass Teile der damaligen Lehrpläne Bestand haben, denn Sartre und Camus scheinen mir mit ewiger Jugend gesegnet zu sein,
Anders verhält es sich mit unserer Demokratie, Ich habe sie neulich in Aphorismen als Plutokratie, Egalokratie und Stultokratie bezeichnet. Ich gestehe, pessimistisch zu sein.

Herzliche Grüße
Ekki

 harzgebirgler (20.01.23, 09:36)
camus und sartre sowie die de beauvoir
die auch für viele durchaus wegweisend war
rückten mir "sein und zeit" erst in den blick
von heidegger als quellgrund dann zum glück.

lg
henning

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 20.01.23 um 11:09:
Hallo Henning,

wer "Sein und Zeit" las, war auf dem Höhepunkt der Philosophie, wenn er es verstand, was ich bei dir nicht bezweifle.

Beste Grüße
Ekki

 TassoTuwas (20.01.23, 10:00)
Lieber Ekki,
bei allem Ernst und dem unbestreitbaren Wahrheitsgehalt musste ich mehrfach schmunzeln.
Zum Glück hat sich mit der Zeit einiges verändert, anderes scheint von ewigem Bestand, von Generation zu Generation werden die Jungen zu den Alten sagen, dass sie keine Ahnung haben.
 Ein besonderer Genuss, das Ende der Geschichte, und das hat nichts mit "Saumagen" zu tun  :D !
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 20.01.23 um 11:20:
Merci Tasso,

seit Generationen nehmen die Jungen gegenüber den Alten den Mund zu voll. Aber in den Fünfziger Jahren waren tatsächlich viele Alte immer noch dem Nationalsozialismus verhaftet und lernresistent, sie wollten aber mitreden, obwohl sie verurteilten, was sie nicht kannten. Ich vermute, dass dir auch ein paar Beispiele einfallen. :)

Herzliche Grüße
Ekki
Agnete (66)
(20.01.23, 10:41)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 20.01.23 um 11:29:
Grazie Agnete, 
Sartre und Camus hatte es damals schwer, in deutsche Bücherschränke aufgenommen zu werden. Die wurden beherrscht von Stefan,Andres, Werner Bergengrün, Hans Carossa, Wiechert und Paul Claudel zum Beispiel.

LG
Ekki

 AZU20 (20.01.23, 12:27)
Da habe ich doch gleich mal meinen Bücherschrank geräubert und so einiges tatsächlich gefunden, auch wenn unser Deutschlehrer auch eher zu anderer Literatur neigte. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 13:06:
Gracias, Armin, der Deutschunterricht war damals teilweise fortschrittlich und spiegelte nicht den konservativen Markt wider.

LG
Ekki
Teolein (70)
(20.01.23, 13:16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 13:28:
Gracias, Teo,

auch ich lernte damals viel über das Unkraut, zum Beispiel, dass die Ackerwinde den Vorurteilen gleicht. Sie kommt immer wieder.

Beste Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund (20.01.23, 13:55)
Ich würde deine Bewertung des Beschriebenen nicht gleich an den Anfang stellen. Oder überhaupt nicht werten, der Schluss de Textes ist gelungen, so wie er dasteht.


 ...dass Goethe es dem denkenden Leser überlässt, seine eigenen Schlüsse für sein Verhalten zu ziehen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 15:03:
Es geht am Anfang darum, bewusst wertend den aufklärerischen Unterricht der Oberstufe dem der Mittelstufe gegenüberzustellen.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 20.01.23 um 15:12:
Bewußt oder nicht, es ist rein handwerklich keine gute Idee. Wieso willst du dem Leser schon von Anfang an deine Meinung mitgeben? Hältst du nichts vom mündigen Leser?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 15:25:
Es ging mir nicht darum, die Bewertung des Oberstufenunterrichts wirklich zum Thema zu machen (dann hätte ich Alternativen aufzeigen müssen), sondern darum zu zeigen, wie meine noch im nationalsozialistischen Denken befangenen Eltern auf die Herausforderungen des aufklärerischen Unterrichts reagierten.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 20.01.23 um 15:37:
Wir reden aneinander vorbei.
Taina (39)
(20.01.23, 15:02)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 15:09:
Grazie, Taina, das weiß ich leider nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie ihren würzigen Pfeffer zu seinen Gedanken gab.

 GastIltis (20.01.23, 15:57)
Lieber Ekki,
ein Text, bei dem ich erst wach wurde, als es in den Garten ging. Warum? Der ganze Schulstoff ist für mich Neuland. Quasi „Neuland unterm Pflug“. Meine Mutter hatte einen großen Garten; ich habe viel gegraben, Jauche geschöpft und ausgetragen, Bäume gestutzt und abgeerntet, und sogar bei fremden Leuten den Hühnerstall ausgekratzt, um den Hühnerdung verwenden zu können. Die meisten Namen, die du erwähnt hast, waren mir lange unbekannt. Und was ich gar nicht schlimm finde, mir tut es gar nicht leid.
Aber Ostrowski haben wir gelehrt bekommen: „Das wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben.
Und benutzen soll er es so, dass er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft, habe ich dem herrlichsten der Welt, der Befreiung der Menschheit gewidmet.“
Übrigens ist der Plural von Strunk Strünke, das nur nebenbei.
Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 16:32:
Merci Gil, mir scheint, dass du gerne im Garten gearbeitet hast. Ich habe heute einen eigenen Garten und betätige mich dort auch gerne. Aber wenn der Garten gegen Sartre ausgespielt wird, dann werden Äpfel mit Birnen verglichen.
Man sollte alle Strünke kompostieren. Das weiß ich inzwischen vom Garten.
Herzliche Grüße
Ekki

 Saira (20.01.23, 19:08)
Lieber Ekki,
 
Gartenarbeit macht Sinn, wenn man ernten will😊.
 
Dein Blick auf die Schulgeschichte hat mir gut gefallen!
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.23 um 19:18:
Grazie, Sigi, das sehe ich auch so. Sie kann auch als Sport betrieben werden, bei dem der ganze Körper eingesetzt wird.

Herzliche Grüße
Ekki
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