Notizen, die ich beim Aufräumen fand: Unerhebliche Gedanken während einer Zugfahrt an Weiberfastnacht

Tagebuch zum Thema Allzu Menschliches

von  tulpenrot

Der ICE ist gut besetzt, wir jagen durch die Landschaft. Bäume und Drähte begleiten uns entlang der Bahnstrecke. Die Autobahn verläuft parallel. Ich kenne sie, bin sie selbst vielmals mit dem Auto gefahren. Diesmal mach ich es mir bequem im Zug.

Wann kommt der Limburger Dom?

Einige Frauen im Katzen- oder Schweinchenkostüm mit aufwendiger Gesichts-Bemalung steigen irgendwann laut lachend ein. Sie sind schon eingestimmt auf die fröhliche Karnevals-Zeit in Köln. Neben mir schaut jemand eine DVD am Laptop und hört über Kopfhörer die Dialoge, die Geräusche und die untermalende Musik dazu. In meinem Ohr dagegen tönt „edle“ barocke und moderne Blockflötenmusik. Kontrastprogramm. Auch über Kopfhörer. Ich kann nichts dafür. Die lautstarken Damen in unserem Großraumwaggon jedoch dominieren und durchkreuzen das Hörvergnügen.

Wir fahren durch einen langgestreckten Tunnel. Hier ist kein Sendeempfang. Nur die Frauen bleiben durchdringend und laut. Ich dachte immer, dass Frauenstimmen angenehm klingen müssten. Das erweist sich auch dieses Mal als Irrtum. Ich habe inzwischen etwas gegen Frauenstimmen. Gegen alle, gegen junge auch. Sie sind äußerst selten wohltönend, eher dünn und schrill oder rostig.

Eigentlich bin ich müde. Eigentlich tut mein Arm weh. Er ist verletzt. Vor ein paar Wochen bin ich so unglücklich gestolpert, dass ich 6 Wochen lang einen Gips tragen musste. Ellenbogenluxation. Furchtbar schmerzhaft. Eigentlich will ich nicht länger in diesem Zug sitzen. Ein ICE ist nichts Besonderes, ich empfinde seinen angeblichen Komfort nicht so überzeugend. Mir tun nämlich auch die Knie vom engen, langen, angewinkelten Sitzen weh. Ich fühle mich unwohl.

Wieder eine Folge von Tunneln. Im Laptop nebenan hebt jemand eine Pistole. Ich schaue weg. Ich mag diese spannungsgeladenen Actionfilme nicht. Andere schauen so etwas ja zur Entspannung an, damit nur keine Langeweile aufkommt. Immer die Zeit nutzen, und wenn es nur ein in meinen Augen dämlicher Krimi ist. Kein Stillstand. Spaßgesellschaft. Die dunklen Flöten aus meinem Miniplayer wirken dagegen beruhigend. Ist das besser? Was aber soll man sonst während einer langweiligen Bahnfahrt machen, wenn alles um einen herum laut ist?

Immerhin blättert jemand in reich bebilderten Zeitschriften. Mir fallen darin die Fotos von üppigen Frauen auf und ich denke natürlich abfällig: Welch billige Verlockung, sich etwas anderes vorzustellen, als das, was zu Hause alltäglich ist. Als ob das besser wäre. Und mir fällt Emmy ein, auch wenn ein Vergleich überhaupt nicht passt. Sie ist nach 50 Ehe-Jahren weggelaufen, hat sie neulich am Telefon erzählt. Vom Harz weg nach Göttingen. Ohne Ankündigung, spontan. Zu Bekannten. Ortswechsel, Tapetenwechsel, kein Partnerwechsel. Das ist etwas anderes - ich kann sie verstehen, sie hatte es wirklich nicht leicht mit ihrem Mann. Sehr traurig. Und ich kann ihr nicht helfen.

Wir sind alle Getriebene, wir suchen – aber wonach? Nach Veränderung, nach Lebendigkeit? Wir fliehen vor der Langeweile, der Eintönigkeit oder flüchten aus unerträglich gewordenen Lebensumständen.

Jetzt habe ich den Limburger Dom verpasst, ich hätte ihn so gerne einmal wieder gesehen, wenigstens vom Zug aus, weil sich daran schöne Erinnerungen knüpfen. „Siegburg/Bonn“ zeigt mir die digitale Anzeigetafel im Waggon an. Noch eine dreiviertel Stunde bis Düsseldorf. Scheußlich lang.

Mein Arm schmerzt wieder so wild und heftig. Ich will den Schmerz vergessen und beobachte deswegen weiter meine Umgebung und konzentriere mich bewusst auf die Blockflötenmusik, freu mich an der Sonne, an meinem Buch, am Schreiben, Denken und Träumen. Ich esse Schokolade, sie ist weich und geschmeidig und schmeckt entfernt nach Haselnuss. Es ist zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass die Menschen mich beobachten. Doch ich stelle mir vor, dass sie voller Entrüstung denken: „Die da drüben ist dick, da isst man doch keine Schokolade!“ Ich esse sie im Moment ein bisschen aus Verzweiflung. Noch eine halbe Stunde, dann umsteigen und noch mal eine halbe Stunde Zug fahren, und ich bin da.

Wir fahren mit den Möwen über den Rhein, nähern uns der Skyline von Köln. Die Sicht auf den Dom ist zugestellt von so vielen Menschen. Verkleidete und geschminkte Menschen überall. Es riecht nach Kebap, der Geruch kommt von draußen herein, und die Frauen aus unserem Waggon verabschieden sich lautstark und steigen aus. Weiberfastnacht. Der Mann mit dem Bier fährt mit uns Zurückgebliebenen weiter. Zu seiner Frau, verkündet er lautstark, damit es jeder hören kann. Ich zum Beispiel und ich denke: Ich möchte nicht seine Frau sein. Ich möchte auch heute Nacht nicht im Zug sitzen müssen, wenn sie alle angeheitert zurückfahren. Wenn sie alle ihren Spaß hatten. Wie meine Lehrer-Kolleginnen an der Schule, die unserem Schulleiter heute die Krawatte abschneiden wollen, hieß es im Lehrerzimmer. Ich find das doof. „Entmännlichung“ auf spaßig.

Das Leben ist kurz, man will es genießen und möglichst viel Spaß haben, wenig grübeln, alles auf sich zukommen lassen, einfach leben… Und ich denke: Heißt das, einfach leben oder einfach leben? Egal wie herum - als ob das so einfach wäre.

Oder: „Mache es so, wie es dir gut tut.“ Ist auch so ein Satz. Ist das besser? Eher seltsam.

Der Mensch, das Ich, seine Wunschvorstellungen sind zum Mittelpunkt aller Anstrengungen, aller Gedanken geworden. Um ihn dreht sich alles. Was mir gut tut, das ist das Ziel des Handelns. Als ob der Mensch, das Ich das immer selbst bestimmen könnte und wollte. Und obendrein: Weiß ich immer, was mir gut tut? Oder wie oft geben andere vor zu wissen, was mir gut tut? Manches ist einfach anstrengend und scheint mir nicht gut zu tun, muss aber dennoch getan werden und ist dann gut, ja tut mir gut, auch wenn es vorher nicht so aussah.

Ich denke weiter: Wie wäre es, wenn wir uns Gedanken darum machen, was unserem „Nächsten“ gut tut? Oder gar, was Gott gefällt? Vielleicht wissen wir gar nicht mehr, was dem Nächsten“ gut tut oder was Gott gefällt. Sind uns solche Fragen überhaupt wichtig? Bekümmert uns unser Nicht-an-sowas-denken-können, unser Unvermögen, unsere Kurzsichtigkeit? Leben wir nicht vielmehr gedankenlos drauf los, indem wir uns um nichts anderes kümmern, als dass es uns selber gut geht? Schwierige Gedanken.

Ich mag jedenfalls diesen Satz „mache es so, wie es dir gut tut“ nicht. Er ist albern und führt zu nichts. Handeln all die Mitfahrenden, alle die mir heute begegnet sind, nach einem dieser Grundsätze? Mich eingeschlossen? Wirklich schwierige Fragen, die sich nicht so leicht beantworten lassen.

In einer halben Stunde muss ich raus. Ich esse immer noch Schokolade, sie ist weich und süß und schmeckt entfernt nach Haselnüssen. Der Mitreisende trinkt inzwischen das dritte oder vierte Bier und redet freundlich mit einigen Mädchen im Waggon – doch vorher hat er noch unflätig seine Sitz-Nachbarn beschimpft. Keine Ahnung, warum. Ich hab nicht aufgepasst. Ich mache mich vorsichtshalber schon auf einen handfesten Krach gefasst. Passend dazu meine Blockflöten-Musik in meinem Ohr „Kriminal-Tango in der Taverne dunkle Gestalten, rote Laterne, glühende Blicke, steigende Spannung. Und in die Spannung, da fällt ein Schuss…“, Kriminaltango. Ja, das gibt es tatsächlich als Musik für ein Blöckflötentrio, so leicht, so flott und humorvoll, schnörkellos. Ich muss grinsen, höre aber gerne zu.

Zum Glück verläuft die weitere Bahnfahrt friedlich. Der Mitreisende ist bald ausgestiegen. Mein Sitz-Nachbar schweigt in sich hinein, seine DVD ist schon seit einer Weile zu Ende. Er liest, trinkt Apfelschorle. Keine Regung lässt erkennen, dass ihn irgendetwas außerhalb seiner selbst interessiert. Und ich erscheine für die anderen auch nicht anders unter meinen Kopfhörern: Auf sich bezogen und an der Umgebung uninteressiert. Schade.



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Kommentare zu diesem Text


 Redux (31.03.23, 21:57)
Wir sind alle Getriebene, wir suchen – aber wonach?

Das erscheint mir in deiner detaillierten Beschreibung als die Kernfrage.
Gerne gelesen.

 tulpenrot meinte dazu am 31.03.23 um 22:07:
Das scheint so zu sein. Freut mich, dass du so schnell reagiert hast. Danke

 eiskimo (01.04.23, 11:15)
Ein schöner "Ausstieg", Dein Text, aus dieser schnelllebigen und oberflächlichen Karnevals-Welt. Man kriegt Distanz, und irgendwie kommt man auch bei sich selber an.
Liebe Grüße
Eiskimo

 tulpenrot antwortete darauf am 01.04.23 um 11:36:
Danke für deine Gedanken zu dem Text.
Diese Oberflächlichkeit ist auch mir ein Dorn im Auge. Aber das "bei sich selber ankommen" ist doch auch dröge. Oder? Abwechslung wäre die Lösung oder eine gesunde Mischung von allem. Dann wäre ich zufrieden.
Liebe Grüße
tulpenrot

 eiskimo schrieb daraufhin am 01.04.23 um 12:39:
Dröge? Ich spüre in diesen "toten" Momenten, dass ich aus mir heraus leben kann. Kein Laptop, kein Bier, kein Gekreische...  
Liebe Grüße 
Eiskimo

 tulpenrot äußerte darauf am 02.04.23 um 19:50:
Ich weiß nicht - ich glaube, es kommt auf die Umstände an. Ich brauche den Laptop und bin froh, wenn in der Wohnung über mir (so wie jetzt gerade) Kinder toben. Wenn es nämlich sonst jahrelang tagsüber und auch sonst absolut still ist, kein Wort gesprochen wird, man niemanden sieht, nur hin und wieder das Treppenhauslicht angeht, wenn jemand abends kommt oder früh morgens aus dem Haus geht ... Ist es das, was "man" auf Dauer möchte? Ich leide ...... Ach, es ist nie alles perfekt.

 AZU20 (02.04.23, 15:16)
Gern gelesen. LG

 tulpenrot ergänzte dazu am 02.04.23 um 19:44:
Freut mich und Danke und LG

 Moja (02.04.23, 16:58)
Liebes Tulpenrot,

deine notierten Gedanken sind keineswegs unerheblich, ich las sie mit wachsendem Interesse. Lebendig, gut vorstellbar, beschreibst du die Atmosphäre im Waggon. Deine Wahrnehmungen, Assoziationen, Gedankensprünge, wechselnde Stimmungen, die eigene Befindlichkeit bilden einen reichen Kontrast zu dem Verhalten der Mitreisenden. 
Leider ergibt sich kein Austausch mit anderen, du bleibst ganz auf dich zurückgeworfen. Als Trost dient Schokolade, wie gut, dass du eine Tafel dabei hattest!  :)
Wie gut, dass du mich mit deinem Text ein Stück des Weges mitgenommen hast, ich hole mir jetzt auch ein großes Stück Schokolade...

<3 Herzliche Grüße,
Moja

 tulpenrot meinte dazu am 02.04.23 um 20:00:
Danke für deinen einfühlsamen Kommentar.
Ich hoffe, die Schokolade hat dir gut getan.  

Ich räume gerade auf und da fallen mir so alte Aufschriebe in die Hände - und bevor ich damit die Papiertonne fülle, dachte ich ... Und freue mich natürlich, wenn sie gelesen werden und dann auch noch mit Interesse, wie du schreibst!

Früher habe ich mal gesagt, dass ich gerne "Schweiftexte" schreibe. Das hier ist so ein Beispiel dafür. Ich hopse manchmal gerne in Gedanken umeinander - mal hierhin, mal dorthin. Der Aufschrieb ist aber auch so durcheinander gewesen im Original. Aber ich will meine Leser nicht zu sehr verwirren. Ich kann auch "ordentlichere" Gedanken haben. Nur manchmal lass ich das Durcheinander auch so, weil es vllt. passt.

Viele Grüße und morgen einen guten Wochenstart
tulpenrot

edit: RS Fehler und so verbessert

Antwort geändert am 02.04.2023 um 20:03 Uhr
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