Über.Zeichnung

Beschreibung zum Thema Allzu Menschliches

von  tulpenrot

Sie stehen schnurgerade nebeneinander.

Papa steht links von ihm, Mama rechts.

Alle drei machen ernste Gesichter –

oder doch nur Mama oder doch nur Papa oder beide?

Oder nur er in der Mitte?


Das Bild ist unscharf.

Deshalb bin ich überfordert, die richtige Entscheidung zu treffen.

Vermutlich ist der in der Mitte es auch.

Überfordert wie ich.

Sonst würde er kein so ernstes Gesicht aufsetzen.

Sonst würde er nicht die Mundwinkel herunterziehen.

Er ist nicht glücklich.

 

Mama und Papa haben Brillen auf.

Deshalb denke ich,

dass es Mama und Papa sind

von dem großen jungen Mann in der Mitte zwischen ihnen,

dem Sohn.

Und ich denke, sie sind glücklicher als er.

 

Sie halten sich fest an der Hand.

Stimmt vermutlich nicht.

Sondern er hält Mama und Papa fest an der Hand, damit sie nicht verloren gehen.

Es wäre schlimm, wenn sie verloren gingen,

wo sie doch so klein sind.

Oder wenn sie ihn verlören,

wo sie ihn doch haben groß werden lassen an ihrer Hand,

mit ihrer Hände Arbeit.

Oder halten sie ihren Sohn – nach wie vor – an der Hand?

Aber er ist doch schon so groß!

 

Sie stehen am Ufer eines Sees.

Der ist so blank wie ein Spiegel.

Der See bildet sie spiegelgenau ab.

Also steht Mama jetzt links, Papa rechts.

Nur der Sohn bleibt in der Mitte.

Sie halten sich natürlich immer noch an den Händen.

 

Wie gut, dass es diesen See gibt.

So können sie sich mal richtig sehen.

So können sie sich mal ein Bild von sich machen.

Gespiegelt.

Mama und Papa und der Sohn, der in der Mitte steht.

Mama und Papa haben keine Brillen auf.

Mama hat ihren karierten Rock an und ihre rote Jacke

und Papa eine dunkle Hose und einen helleren Sakko und einen gestreiften Schlips.

So wie es sich gehört für Papa und Mama.

Ob sie glücklich sind?

Sie sind im Spiegelbild groß.

Viel größer als der Sohn.

Der lacht.




Anmerkung von tulpenrot:

Ich verfasse hin und wieder gerne Texte, die einen "doppelten Boden" haben.
Da ich die Rechte zu dem Bild nicht habe, kann ich es hier nicht posten. 
Es handelt sich um eine farbige Karikatur.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (22.06.24, 16:38)
In alten Fotos kann man sich sogar selbst verlieren - nicht nur Mama und Papa. 8-)
 

Du hast all dies Schwarz-Weiße wunderbar eingefangen. Ich sehe das Album direkt vor mir ... mit all seinen offenen Fragen.

Liebe Grüße
Heidrun

 tulpenrot meinte dazu am 22.06.24 um 21:09:
Liebe Heidrun,

Danke dass du dich dieser "Überzeichnung" angenommen hast und den Text sogar mit 2 Sternchen versehen hast.
Ich habe inzwischen eine Kurzbemerkung zum Text verfasst. Vielleicht hilft das zum besseren Verständnis.

Ein schönes Wochenende
Angelika

 TassoTuwas (23.06.24, 11:40)
Hallo Angelika,
du weißt schon, dass es ein aussterbender Zeitvertreib ist, sich so ausführliche Gedanken über Bilder zu machen, die vielen keinen Blick wert sind.
Da brauch man halt eine Menge Fantasie und dann beginnt die ganze Vielfältigkeit der Möglichkeiten.
War spannend deinen Gedanken zu folgen.
Herzliche Grüße
TT

 tulpenrot antwortete darauf am 23.06.24 um 12:02:
Hallo TT,
Danke für dein Mitdenken!

Ach, es ist mit vielen Dingen so, nicht nur mit Bildern, auch mit Texten. Mit Essen und Trinken auch oder mit Begegnungen. Da wird schnell was "reingezogen", man denkt in den gewohnten Denkmustern und stülpt sie dem vorliegenden Text z.B. (oder der Person) über, man verbringt möglichst wenig Zeit damit - und gut ist. Schnell zum nächsten "Event". 

Doch man erliegt dabei einer Täuschung, die ich für fatal halte: Das Gefühl zu haben, man hätte "es" (das Bild, den Text, den Menschen, das gute Essen) in seiner Gänze erfasst. Hauptsache man ist schnell satt geworden - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Ich bin darüber immer wieder traurig.

LG Grüße
Angelika
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