Das Tagebuch

Text zum Thema Vergangenheit und Zukunft

von  Elisabeth

Michael hatte im Nachlaß seines väterlichen Großvaters ein dünnes Heft mit schwarzem Umschlag gefunden, auf dem außen mit Bleistift in etwas unbeholfener Handschrift 'Diary' stand und auf der Innenseite des Umschlages, ebenfalls in englisch:

'Begonnen auf ärztliche Anweisung zu Merburg im September des Jahres 1882 im britischen Militärhospital daselbst.'

Der englische Text auf den linierten Seiten war zum Teil mit Kopierstift geschrieben.

'Es heißt, ich hätte vor zwei Monaten ein Schiffsunglück überlebt. Ich kann mich an diesen Unfall ebensowenig erinnern, wie an die ersten Wochen in diesem Krankenhaus. Auch meine eigene Geschichte, meine Daten, sind mir unbekannt.

Die Ärzte erklärten mir, das läge an der Schwere meiner Verletzungen und dem daraus resultierenden Schock. Sie sagten weiter, ich sei gut vierzig Jahre alt und aller Wahrscheinlichkeit nach kein Einheimischer, sondern Brite aus dem Mutterland. Letzteres folgern sie allerdings aus meiner Kenntnis und Beherrschung der englischen Sprache. Meine Kleidung ist verbrannt, ebenso wie meine Haare. Meinen linken Arm habe ich verloren und meine rechte Hand wurde so schwer verletzt, daß sie bis vor einigen Stunden noch geschient war. Mein Rücken und meine Beine sind ebenfalls verletzt und bis heute kann ich nur das linke Bein bewegen, doch auch nur wenig. Zumindest wurde mein Gesicht nicht entstellt, doch es ist mir trotzdem so fremd wie das eines beliebigen Menschen.

Die Art der Verletzungen und Verbrennungen, die ich erlitten habe, lassen zumindest auf ein Feuer und vielleicht auch auf einen Sturz schließen. Da es einen Tag vor meiner Auffindung einen Brand auf einem britischen Truppentransporter in der Nähe der hiesigen Küste gegeben hatte, glaubt man, daß ich dabei über Bord ging und wahrscheinlich auch von einer der Schiffsschrauben erfaßt wurde, bis ich schließlich nackt und verletzt an den Strand von Merburg gespült wurde. Meine Rettung aus den Fluten verdanke ich allein der Tatsache, daß der Sommer dieses Jahr schon früh begann und auch sehr warm wurde, so daß die Temperatur des Wassers auch bei langem Treiben ein Überleben gestattete.

Ich habe mir gestern die Stelle zeigen lassen, an der ich gefunden wurde, aber auch der Anblick dieser Stelle am Strand weckte keine Erinnerung. Anders war es beim 'Gang' durch die Stadt. Die Michaelis-Kirche scheint mir vertraut und auch einige der Häuser der Innenstadt. Sicher kann ich sagen, daß ich Merburg bereits einmal gesehen und begangen habe. Hier erinnert sich jedoch niemand an mich. Ein Aufruf mit meinem Bild in der Zeitung und Umfragen in den Kasernen blieben bis heute ergebnislos. Die Nichterwähnung meiner Person in den Unterlagen der Streitkräfte lassen wohl den Schluß zu, daß ich kein Angehöriger der Besatzungstruppen bin, sondern ein ziviler Besucher der Besatzungszone.

Als mich die Schwester heute vormittag wieder einmal für ein paar Stunden im Rollstuhl durch die Stadt schob, sah ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Ein junger Mann, sehr schlank und mit rötlichblondem, ingwerfarbenem Haar. 'Ginger' war auch der Name, der mir zu ihm einfiel, auf meinen Anruf jedoch erklärte er, er heiße David O'Sullivan und er sei schon 'Sandy' genannt worden, niemals jedoch 'Ginger'. Er war sehr freundlich und nahm sich die Zeit, mit der Schwester und mir einen Tee zu trinken. Er versicherte mir jedoch glaubhaft, daß er mich vor diesem Nachmittag niemals gesehen habe. Er ist der Sohn eines hiesigen Hotelbesitzers, gehört zur Jeunesse doreé von Merburg und sein Bild ist fast ebenso oft in den Zeitungen zu sehen, wie das des Prinzen oder die der jungen Lords und Peers, so daß er mir wohl daher bekannt vorkam.

Heute war ich mit Schwester Blancheville in der Michaelis-Kirche. Während mir die Kirche von außen durchaus vertraut scheint, kam mir das Innere sehr fremd und düster vor. Die Glasfenster zeigen im Norden die Passion Christi und seinen Besuch im Totenreich zur Rettung der Gerechten früherer Geschlechter, im Süden die Schöpfung und die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Die die Zyklen im Osten jeweils abschließenden Fenster zeigen rechts über dem Allerheiligsten den Engel mit dem Flammenschwert, links davon die Himmelfahrt Christi. Über dem Altar thront Christus als Weltenherrscher in Mosaik, flankiert von den Seraphim und Cherubim, die Erzengel durch die Namensbezeichnung hervorgehoben. Von den Fenstern schienen mir nur der Engel mit dem Flammenschwert und der gemarterte Christus auf dem Weg zum Schädelberg bekannt. Und das Mosaik schien mir stumpf und altgeworden. Die griechischen Namen der Erzengel waren nur zu erahnen und ihre Gesichter und Gewänder waren eher grau denn weiß. Die lebhafteste Erinnerung kam jedoch angesichts des Namenspatrons auf dem Turm im Südosten der Kirche. Ein bronzener, im Laufe der Jahrhunderte grün angelaufener Barockengel, wie ein Ritter in Rüstung, das Schwert gesenkt, die riesigen Schwingen aufwärts gerichtet, den Drachen schon erschlagen zu seinen Füßen. Von unten glaubte ich beinahe, sein Gesicht erkennen zu können, glaubte zu wissen, der überlebensgroßen Figur schon Aug in Auge gegenübergestanden zu haben. Und natürlich hätte ein Sturz vom Kirchturm einige meiner Verletztungen wohl erklärt.

Heute sprach ich mit Dr. Newman über meine Idee vom Kirchturmsturz, er wies mich jedoch darauf hin, daß dieser Sturz als Ursache für meinen Unfall gänzlich auszuschließen sei. Da ich nur wenige, sicher auf einen Sturz zurückführbare Verletzungen erlitten habe, sei der Sturz allenfalls aus sehr geringer Höhe auf den Strand erfolgt. Wahrscheinlicher sei jedoch, daß ich die entsprechenden Verletzungen beim Sturz vom Schiff ins Wasser erlitten hätte.

Für mein rechtes Bein ist nun wohl nichts mehr zu hoffen, es wird weitgehend gelähmt bleiben. Immerhin habe ich nicht die Kontrolle über meine Ausscheidungsorgane verloren und habe durch lange Übung nun auch schon eine gewisse Selbstständigkeit mit dem Rollstuhl erlangt. Auch meine Befürchtungen, impotent zu bleiben, sind wohl verfrüht gewesen - ursprünglich hervorgerufen durch die reaktionslos gebliebenen Waschungen meines Unterleibs durch zarte Frauenhände - denn heute morgen reichte allein die freundliche Berührung meiner Beine durch die bezaubernde Esther Blancheville als sie mir in meinen Rollstuhl half, die bisher fehlende Reaktion auszulösen. Die Offensichtlichkeit meiner Erregung, die mich begreiflicherweise weit mehr erfreute als beschämte, sorgte für das allerliebste Erröten dieses hübschen Gesichtes, als sie schamhaft die Augen zur Seite wand. So hat mich doch - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - das Leben nun endlich wieder.

Ich stamme wohl aus Cornwall. So jedenfalls ist zu vermuten, nach der Sitzung bei Dr. Pembroke, der mir Tonaufzeichnungen der Mundarten verschiedener Gegenden des Mutterlandes vorspielte. Er erklärte, sich allein so behelfen zu können, da mein Englisch so frei von landschaftlichen Färbungen sei, daß zu vermuten wäre, ich hätte die Sprache gelehrt. Auch sei ich wohl lange im Ausland gewesen, denn einige Amerikanismen seien in meinem Englisch festzustellen, wie auch französische und deutsche Wendungen. Als ich das Cornish des Sprechers aus dem Schalltrichter vernahm, überkam mich ein solches Gefühl der Vertrautheit, wie ich es auch angesichts des bronzenen Michaels auf dem Kirchturm verspürt hatte, und ich entsann mich sicher, daß mein Vater in Penzance geboren wurde. Und auch mein Name kam mir in dem Zusammenhang wieder ins Gedächtnis zurück: ich heiße Michael Nigel Drake.

Leider sind bis heute der spektakulären Wiederentdeckung meines Namens noch keine weiteren Offenbarungen über meine Person gefolgt. Und der Name brachte mich auch nicht weiter - ebensowenig wie der Hinweis auf die Herkunft meiner väterlichen Familie. Eine Anfrage in Penzance brachte nur zutage, daß sich dort auf einem Friedhof ein im 17.Jahrhundert errichtetes Familiengrab der Drakes befindet; durch einen Großbrand vor zwei Jahrzehnten sind jedoch sämtliche Unterlagen wie Taufbücher, Heirats- und Geburtsregister des dazugehörenden Kirchenarchivs verloren gegangen.

Weiteren 'heimatlichen' Klang vernahm ich heute aus dem Munde der lieblichen Esther. Während sie bisher mit den Ärzten und Schwestern, und auch mit mir stets Englisch sprach, mit einem entzückenden, mir bis dahin französisch scheinenden Akzent, hörte ich heute nachmittag, als ich auf der Veranda der Rehabilitationsstation saß und in der Zeitung las, wie Schwester Blancheville sich mit einer der einheimischen Bediensteten der Station auf Deutsch unterhielt. Während ich den schweren Zungenschlag der Einheimischen schon oft in der Stadt und auf dem Gelände des Krankenhauses gehört hatte, war diese Sprache aus dem Munde von Schwester Blancheville doch etwas ganz anders, verglichen mit dem spröden, etwas schleppenden Dialekt der Einheimischen so rollend und quicklebendig - wie Champagner im Vergleich zu saurem Weißwein. Ich erinnerte mich sogleich an meine Eltern, die beide viel öfter dieses eigentümlich französisch eingefärbte Deutsch als Englisch miteinander sprachen. Ja, ich selbst bin damit aufgewachsen, während ich Englisch vornehmlich von meinen Großeltern und später in der Schule lernte.

Ich habe diese Nacht geträumt. Wohl auch schon in früheren Nächten, denn es hieß gelegentlich, ich hätte im Schlaf geschrien oder um Hilfe gerufen, aus den offensichtlichen Alpträumen geweckt jedoch von nichts mehr gewußt. Heute sah ich den von Grünspan bedeckten Bronzeengel im Schlaf, hoch oben auf seinem Turm, doch neben ihm stand ein zweiter, bronzefarbener Engel, der die Flügel entfaltete und aufstieg in den vom Mond erhellten Himmel. Über der Stadt flog er eine weite Kurve bis zu der großen Bucht, auf deren einander zugeneigten hornartigen Enden im Osten die Burgruine und im Westen der Leuchtturm stehen. Und dann flog er hinaus über das Meer und ich, so schien es mir, flog neben diesem Engel her, selbst wie ein Engel mit riesigen Schwingen anstelle meiner Arme, doch mein Gefieder blitzte weiß. Der andere, bronzefarbene Engel war ein Weib und im Fluge - irgendwie - paarten wir uns. So sollte ich wohl eher von Dämonen als von Engeln sprechen, doch ehrfurchtgebietend wie das eines Engels war das Antlitz dieser geflügelten Frau, in gar nichts ähnlich meiner lieblichen Esther. Schwarze Augen und langes, schwarzgelocktes Haar hatte jenes Weib, bronzefarben wie die Flügel war auch die Haut ihres nackten Leibes und allein ihr Blick auf mir entfachte schon die Lust in meinen Lenden. Viel eher gab ich mich ihr hin, als sie sich mir. Über den Tag mußte ich immer wieder an diesen Traum denken, an das nächtliche Merburg aus der Luft gesehen, so ähnlich seiner jetzigen Gestalt und wieder so unähnlich. Und an jenes engelsgleiche - dämonenhafte Weib mußte ich denken. Ich werde mich heute abend Schwester Blancheville erklären, nun, da ich wieder einen Namen, wenn auch sonst kaum eine Vergangenheit habe. Vielleicht erhört sie mich, und ich wage zu hoffen, denn daß ich ihr nicht völlig gleichgültig bin, merkte ich doch in den vergangenen Monaten, in denen sie sich um meine Genesung so aufopfernd kümmerte.

Sie hat mich erhört! Wir werden nicht in der Michaelis-Kirche heiraten, wie ich im ersten Überschwange vorschlug, denn sie ist Jüdin. Und - betrachtet man es genauer - kann ich von mir auch nicht mit Sicherheit behaupten, daß ich Christ bin, denn ich bin beschnitten. Allerdings erinnere ich mich dunkel an Besuche an Gräbern von Verwandten, deren Steine hebräische Buchstaben trugen. Meine Erinnerungen an jedwelchen Kultus aber sind so unpersönlich, als hätte ich sie nur als Erwachsener aus kulturhistorischem Interesse studiert, so wie man in Europa eben die Schrift liest, um die Kunstwerke in den Museen recht verstehen zu können, ebenso wie Ovids Metamorphosen. Sehr religiös war mein Elternhaus nicht, das glaube ich mit Sicherheit sagen zu können, wenn ich auch nicht sicher zu sagen weiß, welchen Glauben wir nicht streng verfolgten.

Heute hörte ich zum ersten Mal, daß ich doch etwas außer der nackten Haut am Leibe hatte, als man mich fand. Ein Bäckergesell, auf dem Wege zu seinem Arbeitsplatz, hatte mich an jenem Morgen am Ufer entdeckt und den Ring, den ich an der Rechten trug - sonst wäre er wohl auf immer verloren gewesen - als selbstgewählte Belohnung für die Rettung meines Lebens mir vom Finger gezogen, nachdem er die Krankenstation der Garnison verständigt hatte. Nun, nach Monaten plötzlich in Geldnot geraten, wollte er eben diesen Ring versetzen. Der Pfandleiher, dem die Erzählung, der Goldring mit dem geschnittenen Stein habe einer verstorbenen Tante gehört, merkwürdig vorkam, verdächtigte nun den Mann einer Straftat, erbat sich Zeit, angeblich um den Wert des Ringes von einem Fachmann schätzen zu lassen, und so konnte er - ohne Argwohn zu erwecken - die Polizei auf den Ring hinweisen. Ein Diebstahl war nirgends gemeldet worden, unwahrscheinlich blieb jedoch die Behauptung, er habe der Tante des Bäckers gehört, denn der Ring war sichtlich für eine Männerhand gemacht, dazu sehr alt, der Stein wohl antik, die Fassung nur unwesentlich moderner. Also wurde der Bäckergesell zum Verhör einbestellt und schließlich gestand er die Wahrheit. Mir will man den Ring morgen vorlegen, ob ich ihn wohl als mein Eigentum erkenne. Doch ich weiß ja noch nicht einmal etwas Genaues über meine Kindheit zu sagen, wie sollte ich da mit dem Ring etwas anfangen können. Aber ich habe zugesagt - und vielleicht ist ja mit einer solchen Offenbarung zu rechnen, wie schon einige Dinge sie hervorriefen.

Es ist in der Tat mein Ring, und ich wünschte, er wäre einfach verloren gegangen. Ich erinnere mich nun an alles.'

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

Das 'Tagebuch' habe ich um 1988 herum geschrieben, es ist Teil eines Romans.

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Kommentare zu diesem Text


 Agnetia (28.01.24, 11:54)
packend geschrieben. ich werde weiterlesen, liebe Elisabeth., Will unbedingt wissen... Lächeln von Agnetia

 Elisabeth meinte dazu am 14.02.24 um 11:46:
Hallo, liebe Agnetia,

endlich habe ich wieder einmal Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens und sehe, ich habe hier einen Kommentar erhalten. Ganz herzlichen Dank! Ebenso ganz herzlichen Dank für die Empfehlung.

Und es freut mich, daß ich Dich mit dem (oben komplett vorhandenen) Tagebuch aus 'Juli 1970' gepackt habe. Die Geschichte drum herum führt den Leser auf die richtige Spur - aber da die ganze Geschichte nicht so ganz auf meinem aktuellen Stand des Schreibens ist (die ersten Teile sind 1982 entstanden, die 'aktuelle' Version ist von 2009), hatte ich bisher vermieden, alles hier hochzuladen, sondern nur ein paar 'Schätzchen' ausgegraben. Es sind noch ein paar Passagen mehr, die ich so halbwegs zu den Schätzchen zählen würde, aber insgesamt ist die 2009er Version doch etwas überholt.
Es gäbe jetzt also ein paar Möglichkeiten: 1. Ich grabe noch ein paar Schätzchen aus und packe sie hier in diesen Ordner dazu.
2. Ich lade alle Teile der Geschichte hoch, ebenfalls in diesen Ordner, alles in der richtigen Reihenfolge und hoffe darauf, daß die vielleicht kommenden Kommentare mir helfen, das Ganze in eine passendere Form zu bekommen.
3. Ich fang mit den Schätzchen an und füge alles, was noch fehlt, in einer zweiten Phase hinzu.
4. Ich lass einfach nur die beiden Teile hier - die ganze Version ist ja auch auf meiner Webseite zu finden.

Du hast jetzt die Möglichkeit, es ganz nach Deinen Wünschen zu entscheiden. Ich werde mich nach Deiner Auswahl richten.

Liebe Grüße von Elisabeth / Bettina
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