Osterburg 1945

Erzählung zum Thema Weihnachtsgeschichte

von  Saira

Es war Weihnachten 2012, als meine Schwiegermutter und Abu S. (Vater meines Mannes S. auf Arabisch), bei uns waren. Es duftete nach Gebäck und Apfelkuchen, der bunt geschmückte Tannenbaum lächelte feierlich und es gab Kaffee und arabischen Tee. Für mich sind meine Schwiegereltern Mama und Baba (arabisch für Vater).

 

Mama hatte an diesem Nachmittag einen besonderen Glanz in ihren Augen, als sie mit größtem Genuss ein weiteres Stück Kuchen aß. Es waren diese seltenen Momente, in denen sie schwieg. Zwischendurch rollte sie mit ihren dunklen, lebhaften Augen. Ich fragte sie, an was sie gerade denken würde. Sie begann zu erzählen und Baba, mein Mann und ich lauschten:

 

„Ach Süße, ich denke an Juli 1945. Ich war zu dieser Zeit acht Jahre alt, als unsere Kreisstadt Osterburg von der sowjetischen Besatzungsmacht eingenommen wurde. Meine Mutter, mein Bruder und ich lebten am Ortsende im vorletzten Haus. Als wir von dem Einmarsch der Russen hörten, bauten die Osterburger eine Panzersperre direkt vor unserem Haus, an der Straße beginnend bis zur Straßenseite am gegenüberliegenden Haus.

 

Die Russen kamen mit vielen Panzern angefahren. Es dröhnte und die Straße vibrierte. Dann war kurze Zeit Stille. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die wie ein Donnerschlag einschlug. Sie gehörte dem russischen Kommandanten, der in deutscher holpriger Sprache folgende Sätze verkündete: „Wenn ihr Sperre aufhebt, verschonen wir Osterburg, sonst machen wir platt!“ Die Sperre wurde abgebaut, in der Hoffnung, der Kommandant würde Wort halten. Er hielt sein Versprechen und quartierte sich, als einziger mit seiner Familie, beim Bauern Lühe, in dem letzten Haus neben unserem, ein. Seine Tochter Ludmilla wurde die Freundin von Lühes Tochter Christa, mit der auch ich befreundet war.

 

Ich war ein dünnes, unterernährtes, ewig hungriges Mädchen. Meine Mutter arbeitete im Lazarett, Papa war im ehemaligen Jugoslawien und in Griechenland stationiert. Meist aßen wir Brotsuppe, die aus heißer Milch mit eingetauchtem Schwarzbrot bestand. Als Festmahl galt eine Sojasuppe, die es selten gab und von Maden bevölkert war.

 

Es kam das Weihnachtsfest der Russen, das nach ihrem Brauch erst am 7. Januar gefeiert wird. Alle russischen Soldaten feierten mit dem Kommandanten im Haus beim Bauern Lühe. Als Freundin von Christa war auch ich eingeladen. Ich betrat das Wohnzimmer, in dem ein riesengroßer Weihnachtsbaum stand. Er strahlte im Lichterglanz, war mit Sternen und bunten Kugeln geschmückt. Ich empfand mich als winzig, als ich vor ihm stand und bewundernd zu ihm aufschaute. Dann wanderte mein Blick zu dem üppig beladenen Kuchen- und Tortenbuffet. Ich rieb mir die Augen. Ich war im Paradies gelandet. Ja, so musste es sein.

 

Ich nahm mir vor, von allem etwas zu probieren und mir lief schon beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammen.

 

Doch dann verteilte der Kommandant an Ludmilla, Christa und mich einen Wodka und er rief: „Nasdrow’je“. Ich ekelte mich, dachte aber, je schneller ich das Gesöff herunterkippte, umso eher kam ich ans Buffet. Das waren meine letzten Gedanken, als ich auch schon umfiel und nach Hause getragen werden musste … ohne einen einzigen Bissen Kuchen im Bauch!

 

Seitdem erlebe ich höchsten Genuss beim Verspeisen von Torten und anderen Leckereien“, endete Mama mit ihren Erinnerungen und biss herzhaft in ein Mandelplätzchen.


 

©Sigrun Al-Badri



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (22.12.23, 09:01)
Hallo Sigi,
solche wichtigen Geschichten stehen nicht in den Geschichtsbüchern. Man liest, dass es auch anständige Russen gab.
Die Pointe ist hier kein Unfall, ab er ein Umfall.
Liebe Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 22.12.23 um 15:00:
Hallo Ekki,
 
die Pointe, wie du sie hier so trocken von dir gibst, ist herrlich :)
 
Ich danke dir für dein Feedback!
 
Mein lieber Freund, möge Weihnachten für dich und deine Liebsten eine besinnlich-schöne sein.
 
Herzlichst
Sigi

 Quoth (22.12.23, 09:32)
Eine hübsche Erinnerung, aber:

ich denke an Juli 1943. Ich war zu dieser Zeit sechs Jahre alt, als unsere Kreisstadt Osterburg von der sowjetischen Besatzungsmacht eingenommen wurde. 
Das kann zeitlich nicht stimmen: Die Sowjets überschritten die Oder erst 1945, und Osterburg liegt in der Altmark, also weit diesseits der Oder. Die Mutter kann sich natürlich irren ... Vielleicht ist aber die ganze Geschichte nur ein schönes, hoffnungsvolles Weihnachtsmärchen!

Kommentar geändert am 22.12.2023 um 09:34 Uhr

 Saira antwortete darauf am 22.12.23 um 14:43:
Hallo Quoth,

 

hab vielen Dank für deinen Hinweis. Ich habe meine Schwiegermutter gefragt und sie hat deine Vermutung bestätigt. Eine entsprechende Änderung habe ich vorgenommen.

 

Ich freue mich über dein Feedback.

Eine besinnliche Weihnachtszeit wünscht dir
Sigrun

Antwort geändert am 22.12.2023 um 15:04 Uhr
neu (39) schrieb daraufhin am 22.12.23 um 17:01:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 GastIltis äußerte darauf am 18.01.24 um 18:37:
Liebe Sigi, ich bin gebürtiger Altmärker und Zeitzeuge. Natürlich waren die Amerikaner vor den Russen in der Altmark, danach kam die Altmark aber doch in russische Hände. So steht es ja auch im Zeitungsbericht. 
Übrigens haben die Amerikaner veranlasst, dass das Haus meiner Großtante im Nachbardorf angezündet worden ist, weil ihr Sohn eine Pistole im Schreibtisch aufbewahrt hatte. An die Rauchwolke kann ich mich heute noch erinnern.
LG von Gil.

 Saira ergänzte dazu am 18.01.24 um 19:31:
Lieber Gil,

mein Herz schmerzt, weil ich deine Erinnerungen als qualvoll erahnen kann.

Niemand wird, wer in dieser Zeit nicht gelebt hat, diese traumatischen Ereignisse wirklich nachempfinden können. Es ist immer nur eine Ahnung.

Danke für deine Gedanken!

Herzlichst
Sigi

 diestelzie (22.12.23, 09:45)
Geschichten dieser Art gehören unter den Weihnachtsbaum, liebe Sigrun. Es sind ganz wertvolle Geschenke.

Liebe Grüße
Kerstin

 Saira meinte dazu am 22.12.23 um 15:01:
Liebe Kerstin,
 
ich danke dir und wünsche dir und deinen Lieben eine friedliche Weihnachtszeit.
 
Liebe Grüße
Sigrun

 willemswelt (22.12.23, 10:01)
eine schöne Geschichte,Sigrun-einen wohltuenden Tag für dich,Willem

 Saira meinte dazu am 22.12.23 um 15:02:
Lieber Willem,
 
ich freue mich, dass dir meine Erzählung gefällt.
 
Frohe und gesunde Weihnachtstage
wünscht dir, verbunden mit lieben Grüßen
Sigrun

 Teo (22.12.23, 10:14)
Ach Sigi, is dat schön geschrieben.
Selbst auf die Gefahr hin, dass unser grenzdebiler Schmutzfink mir wieder schleimerei vorwirft...wunderbar!
Begeisternde Grüße 
Teo

 Saira meinte dazu am 22.12.23 um 15:03:
Ach lieber Teo, ich bin traurig, weil du für eine Woche gesperrt wurdest. DU schleimst ganz sicher nicht! Da gibt es ganz andere.
 
Ich freue mich über deine Wertschätzung zu meiner Erzählung und danke dir!
 
Dir und deiner lieben Frau wünsche ich gesunde und glückliche Weihnachten!
 
Herzlichst
Sigi

 Tula (22.12.23, 23:14)
Hallo Sigi
Die Stadt meines Vaters - Greifswald - blieb auf ähnliche Weise verschont. Meine Oma allerdings versteckte sich mit ihren Kindern, also einschließlich meiner Mutter, auf dem Dachboden, als sie das Haus (in der Nähe von Torgau) plünderten. Vergewaltigungen standen leider auf der Tagesordnung, was nach den Verbrechen der Wehrmacht und SS an den Russen nicht ganz unverständlich war.
Meine wenigen Begegnungen mit russischen Soldaten in Kindheit, Jugend und Armeezeit waren alle eher positiv. Ihre Trunksucht berüchtigt. Mein Vater verriet mir, wie sich die Delegation des Betriebes bei offiziellen 'Freundschaftstreffen' gewissermaßen schützte: man stellte sich betrunkener als man eigentlich war. Denn nicht mitzutrinken gilt als Beleidigung. Wer nicht vorsichtig war, endete bei solchen Treffen schnell 'leblos' unter dem Tisch. Gegen die russische Leber kam kein Deutscher an.

Aber zurück zur Geschichte: auch im Krieg gibt es diese unerwarteten Momente der Menschlichkeit. Natürlich sind auch die Feinde nur Menschen.

Mut besten Wünschen für ein Frohes Fest
Tula

Kommentar geändert am 22.12.2023 um 23:15 Uhr

 Saira meinte dazu am 23.12.23 um 18:23:
Lieber Tula,
 
die Ängste müssen schrecklich gewesen sein. Soldaten, die Mädchen und Frauen vergewaltigten, vielleicht auch noch schwängerten.
 
Krieg macht Menschen zu Feinden, die vielleicht unter anderen Umständen Freunde geworden wären.
 
Ich wünsche dir und deinen Liebsten ein friedliches und schönes Weihnachtsfest.
 
Herzlichst
Sigi
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