Reisen

Glosse zum Thema Reisen

von  Graeculus

Die deutsche Sprache macht es sich einfach: die Reise.
Im Vergleich dazu wird das Englische der Komplexität des Geschehens viel besser, nämlich durch verschiedene Wörter gerecht:

1. Voyage. Das stammt von dem altfranzösischen voiage, das auf das lateinische viaticum zurückgeht, was all das bezeichnet, was man auf seinem Weg (via) benötigt: der Proviant, das Fahrgeld, das Futter fürs Pferd, der Treibstoff, die Reiselektüre.

2. Journey. Dieses Wort bezieht sich auf die benötigte Zeit, denn es geht auf das altfranzösische jornée, dieses wiederum auf das lateinische diurnum zurück: die Tagesstrecke. In einem weiteren Sinne dann für die gesamte Reisezeit gebraucht.

3. Travel. Dies hat eine überraschende, aber einleuchtende Bedeutung, die von dem französischen travail (Arbeit, Mühe, Anstrengung) herstammt, was seinerseits von dem mittellateinischen trepalium, Folterinstrument, abgeleitet ist. Hier stehen die Mühen, Unannehmlichkeit und Gefahren des Reisens im Vordergrund: vom Abschiednehmen über den Sturz vom Pferd, das Fallen unter Straßenräuber, dem in die Irre führenden Navi, dem verpaßten Anschluß bis hin zum verspäteten Eintreffen, wenn „die Messe schon gelesen ist“.

Will man im Englischen alle diese Aspekte zusammenfassen (den Aufwand, die Länge, die Risiken), dann spricht man von einer Odyssey. Das geht auf einen klassischen Reisenden der Antike zurück, Odysseus, welcher eine zehnjährige Reise von Troja bis in seine Heimat Ithaka erleiden mußte, die wirklich alles an sich hatte, was passieren kann: Schiffbruch, Menschenfresser, Verführung durch Nymphen und Sirenen, Tod aller Kameraden und – mein persönlicher Favorit – die Wahl zwischen zwei gleichermaßen gefährlichen Reiserouten: Skylla und Charybdis.

Allerdings gibt es gerade für diese extreme Art des Reisens auch im Deutschen eine spezielle Bezeichnung: Fahren mit der Deutschen Bahn. 

In einem seltenen Moment von Klarsicht hat diese sich übrigens, als sie ihren Slogan modern, d.h. englisch propagieren wollte, für das genau passende Wort entschieden: „Travelling with Deutsche Bahn“. Ihre ICEs „Trepalia“ zu nennen, wäre der nächste Schritt.


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (02.08.24, 04:22)
Es stimmt, dass das Englische hier ausnahmsweise mehr differenziert als das Deutsche. "voyage" wird für Seereisen verwendet. Außerdem gibt es noch den Ausdruck "trip", der als Anglizismus im Deutschen auch im übertragenen Sinne verwendet wird.
Die Deutsche Bahn hat sich in Privatisierung, Technisierung und Marketing im wahrsten Sinne des Wortes verrannt. Sie ist kein zuverlässiges Reiseinstrument mehr.

Kommentar geändert am 02.08.2024 um 04:27 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 02.08.24 um 22:52:
Das Marketing fand ich schon seit "Alle reden vom Wetter - wir nicht" merkwürdig. Heute: 1,2 Milliarden Euro Verlust im ersten Halbjahr. aber das wird schon (von wem?) beglichen.
Nein, die Bahn ist kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr. Dabei bin ich früher gerne und oft mit ihr gefahren - heute nur noch, wenn es sein muß.

 Graeculus antwortete darauf am 03.08.24 um 14:11:
In einem anderen Forum hat ein filix sogar das Proömium der "Odyssee" passend nachgedichtet:

Singe mir, Muse, die Fahrten des schwer verspäteten Gastes,
Welcher so weit geirrt im Chaos von Ausfall und Störung
Vieler Bahnhöfe Steige durchhetzt und Warten gelernt hat,
Und vor defekten Aborten unnennbare Leiden erduldet.

https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=10560#5

 Graeculus schrieb daraufhin am 04.08.24 um 14:30:
filix hat das noch fortgesetzt, und es heißt jetzt, ganz im Stile von Homers "Odyssee":

Singe mir, Muse, die Fahrten des schwer verspäteten Gastes,
welcher so weit geirrt durchs Chaos von Störung und Ausfall,
vieler Bahnhöfe Steige durchhetzt und Warten gelernt hat,
und vor defekten Aborten unnennbare Leiden erduldet,
seinen Sitzplatz zu retten und Stunde, nein, Tag bloß der Ankunft,
erste Klasse zu zahlen bereit, wär im Zug doch ein Schaffner.
Aber Termine rettet er keine, nicht die Gefährten,
denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren! Welche dem Fahrplan des hohen Streckenbeherrschers
Glauben schenkten, siehe, sie verpassten den Anschluss,
liegengeblieben nahm die Lok ihnen den Tag der Zurückkunft.
Klage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.
Grimmig fallen des Reisenden Blicke auf rostige Schienen,
langsam ziehen Baustellen an den Fenstern vorüber.
Schland ist im Argen wie die Geleise, die es durchziehen,
denkt er im Großraum, sie sparen alles kaputt und lügen.
Alle die andern, so weit sie dem Elend entkamen,

waren lange daheim, per Flugzeug und Auto - Fossile!
Er allein, der nachhaltig Heimat und Gattin ersehnte,
steckte fest ohne Mobilnetz auf offener Strecke …

 AchterZwerg (02.08.24, 07:24)
Allerdings gibt es gerade für diese extreme Art des Reisens auch im Deutschen eine spezielle Bezeichnung: Fahren mit der Deutschen Bahn.


Ich kann das nur bestätigen! 8-) 
Unlängst hörte ich in der TV, dass ihr Ziel, eine Zuverlässigkeit von 75 %, nicht erreicht werden konnte.
Stimmt ebenfalls.
Nach meinen zahlreichen Erfahrungen mit dem D-Ticket sind es genau 50 %: 

Entweder die Hin- oder die Rückfahrt klappt!

Kommentar geändert am 02.08.2024 um 07:25 Uhr

 Graeculus äußerte darauf am 02.08.24 um 22:54:
AchterZwerg, ich widerspreche Dir ungerne, aber ich kann mich an eine Fahrt ohne erhebliche Komplikationen nicht mehr erinnern, sei es Hin- oder Rückfahrt.
Dazu muß ich sagen, daß dorfbedingt jede Fernreise bei mir mit vier oder fünf Umstiegen verbunden ist, und da wirkt sich jede Verspätung anschluß-killend aus.
Terminator (41)
(02.08.24, 17:02)
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 Graeculus ergänzte dazu am 02.08.24 um 22:57:
Im Englischen gibt es immerhin das Adjektiv "odyssean", aber ebensowenig wie im Deutschen ein Verb. Dennoch ist Dein Vorschlag unmittelbar verständlich - prima facie und für den erfahrenen Bahnfahrer auch in seinem tieferen Sinn.

 eiskimo (15.08.24, 12:04)
Ekki hat mir gerade die Seereisen madig gemacht, Du verdirbst einem jede Lust auf unsere DB, ich selber finde Wohnmobile höchst fragwürdig  - was bleibt?
Wie auch immer: Ein sehr gut geschriebener Text!

Kommentar geändert am 15.08.2024 um 12:05 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 15.08.24 um 14:02:
Es bleiben a) das Fahrradfahren oder b) die Qual. Manche Leute wandern auch. Doch wie der Ötzi zeigt, ist selbst das nicht ungefährlich.

Danke, eiskimo!
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