Ton und Laut

Essay zum Thema Bewusstsein

von  LotharAtzert

Das Angerufene hat ohne die Anrufung keine Gegenwart.

 

„Sie können das nicht alles auf einmal behalten. Wenn Sie etwas mitnehmen aus dem Seminar, ist das schon gut “ sagte er öfters für die Neuen und es stimmte. Viel später, bei irgenwelchen Ereignissen stieg es wieder hoch aus dem Unterbewußtsein. Oder, da alles protokolliert wurde, man kaufte den Seminarband und las es in Ruhe noch einmal. Das galt insbesondere für mich, denn das Gehörte verschwand oft augenblicklich wieder und erst beim Lesen in der eigenen Stube verstand ich die Zusammenhänge mit anderem. So ging es mir auch mit dem Folgenden. Ich spürte, daß es etwas besonderes, schwer zu Artikulierendes war, doch da es immer weiter ging mit Belehrungen, versank das jeweils Gehörte erst mal wieder  und ich mußte ein ganzes Jahr warten, bis der Seminarband erschien:

 

„So bleibt dem Verdrängten nur der Laut ohne Antwort. Der Laut ist die Anrufung der Welt, wie sie sich in ihren Gestalten anbietet. Und die Gestalten lassen sich auf dem Laut nieder und werden zu Worten, in der Gesamtheit des Angerufenen zur Sprache. Das heißt, das Angerufene wird durch den Laut Gegenwart. Das Angerufene hat ohne die Anrufung keine Gegenwart.“

W.D. Band 15 „Die verlorene Grenze“ S. 169

 

Nie habe ich das mit dem Laut irgendwo anschaulicher gehört oder gelesen, was zur Folge hatte, daß ich das Artikulierte jetzt nicht mehr bloß oberflächlich (intellektuell) verstand sondern war geradezu enthusiastisch, gab es doch meinem Empfinden die Gewißheit, auf dem richtigen Weg zu sein.

Das „ … in der Gesamtheit des Angerufenen zur Sprache“ war klar, aber galt es auch für die Singvögel?

Was das untereinander Finden, Paaren und Nestbau angeht, so genügts, eins oder zwei Liedchen zu trällern und … die Nebenbuhler sind auch schon alle da und aus dem Trällern wird schnell Kampfsingen um die Fortpflanzung, doch da heißt es noch „Wettstreit“ und, naja, der Rest war bei Menschen lange auch nicht anders.

 

Heute ist das nicht mehr oder doch kaum noch möglich. Gestalten bieten sich seltener an, Gestelle und Gestelze haben die Lücken ersetzt. Als Zeichen der Verdrängung betrachte man nur mal  Begriffe wie  Singlebörse. Das brauchten wir zu unserer Zeit noch nicht. Da gabs ein Fest und da fanden sich Schicksale ein und man hielt es für „normal“, während man tanzte und lachte, aber ich kannte damals schon den Unterschied von natürlich und normal als den industriell genormten Teilen. Das Normale ist genormt, ohne Eigenleben, ohne die natürliche Abweichung. Generation für Generation wird das Geschlechtliche genormter, mehr und mehr von KI gesteuert für „Börsianer“, doch künstliche Intelligenz ist ursprungslos. Und was keinen Ursprung hat, bleibt ungeboren.

 

Die Poesie versank durch das aufkommende Industrienormendiktat schon Ende des 19. Jh.. Dafür konnten sich die sich durchsetzenden Pöbelbürger bald „alles“ leisten, während die Vielfalt schwand. So leuchteten die wenigen Rufer natülich umso bemerkenswerter in den Raum. Aber die Entfernungen  zwischen Ruf und Anhörung wuchsen und wachsen bis heute, bei immer mehr Arten ruft einer vergeblich.

 

Was kann der Sinnende, was kann ich noch tun im sich verfinsternden  Zeitalter, hab ich doch nichts gelernt, außer Anrufen, Hören, Bangen, abermals und wieder. … Bewußtmachen, artikulieren, ja …doch das karges Nest bleibt auch diese Nacht wieder kalt.

 



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