Lieber Borkenkäfer
Text
von Isensee
Der Speisesaal war ein gelber Kasten mit Kiefernmuster. Der Tischläufer roch nach Kalbsleberwurst und febrilem Polyester. Schäumender Teppich. Auf den Tischen schief gelegte Gabeln. Draußen der Harz – ein gefleddertes Gebirge, als hätte jemand versucht, einen Berg zu schälen und die Haut vergessen. Grau. Braun. Stumm.
Nur das gelegentliche Klackern einer übermotivierten Nordic-Walkerin, deren Waden der Wirklichkeit trotzten, zerschlug die stille Fläche wie ein winziger Krieg. Ich saß am Fenster, kaute an einem Brötchen von der Konsistenz zerknüllter Zettel und ließ den Blick gleiten. Entlaubte Fichten reckten sich wie magerkranke Soldaten in einem verlorenen Reich.
Der Himmel war ein graues Geschirrtuch.
Alles wirkte wie das Nachspiel einer Klimakonferenz, bei der alle gestorben sind, bevor sie zu Wort kamen. Und da:
Neben mir.
Ein Rascheln in Softshell.
Ein Parfum, das nach Altöl und Bienenstich roch.
Ein Atem.
Ein Mensch.
Er setzte sich neben mich, wie ein Staat. Ein Mann in funktionaler Kleidung. Kein Alter. Nur Meinung. Das Gesicht: kantig, als hätte man es aus einem Kalender gerissen.
Das Haar: diszipliniert.
Der Blick: wie ein Pistolenschuss auf eine Landkarte.
Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Germania lebt – und hat heute Rührei."
Seine Haare lagen wie Zitatzeichen auf seinem Schädel. Er gabelte sich Gürkchen auf, als würde er die Geschichte neu sortieren.
Kalendergesicht (nickt): „Wissen Sie, die Deutschen… die wandern zu wenig in sich selbst.“ Ich antwortete nicht, ich wollte mein Müsli essen, nicht diskutieren. Doch er fuhr fort, wie einer, der mit seinem eigenen Echo Ringelpiez spielt:
-Gesicht: „Diese Wälder – man spürt es doch. Die Verwurzelung fehlt. Der Borkenkäfer ist ein Einwanderer, wissen Sie? Ein ökologischer Migrant mit Multiplikationstalent. Das ist alles… kein Zufall.“
Ich sah hinaus. Ein Ast fiel. Ein Vogel flog rückwärts in den Tod. Ich dachte kurz über Erbsen nach. Ob sie wohl spüren, wenn man sie kaut.
Ich: „Glauben Sie, der Käfer hat einen Integrationsbeauftragten?“
Er lachte. Also: so eine Art Lachen. Wie ein Husten mit Haltungsschaden. Dann holte er einen Löffel Quark und flüsterte ihm Worte zu, als wäre er sein Enkel.
-Gesicht: „Wir brauchen mehr Identität. Auch auf dem Buffet. Schauen Sie:
Die Ananas da – was soll das? Tropenfrucht? In Thüringen? Das ist doch Banane.“ Ich sah ihn an. Dann das Buffet. Und dachte plötzlich an S. Wie sie wohl diesen Ort beschrieben hätte? Wahrscheinlich als Knotenpunkt für Menschen, die sich beim Eincremen die Nationalhymne summen. Eine Schale mit Salami, die nach Misstrauen roch. Ein Schild „vegan“ in Frakturschrift. Der Toaster summte wie ein Alt-Right-Blog. Ich wollte fragen, ob er glaubt, dass die Sonne ein deutscher Stern sei, aber da passierte es: Eine Frau mit Wolf-Ohrringen stürmte auf ihn zu. Hinter ihr ein junger Mann mit Hufeisen-Tattoo und Augen, die randvoll mit Ja waren. Ein Foto! Für meinen Telegram-Status!“ Er lächelte. Und da war es wieder – dieser Ausdruck, als wäre er die biologische Wiedergeburt eines Geschichtslehrers, der zu oft „freiwillig“ in den Osten versetzt wurde. Ich stand auf. Zog meine Jacke an. Der Harz wartete. Draußen stank es nach feuchtem Moos. Ich atmete tief ein. Ein Käfer krabbelte über meinen Schuh. Er sah aus wie ein General, der den Krieg überlebt hatte, aber nicht die Nachkriegszeit. Ich stieg bergauf. Einfach weiter. Und irgendwann war da nur noch Wind. Und ein Satz in meinem Kopf, der sich wiederholte: „Lieber Borkenkäfer“