Tag eines neuen Bürgergeldempfängers

Text

von  Isensee

06:12 – Wach. Kein Kaffee. Nur lauwarmes Leitungswasser wie Schuld. Ich ritze mir in Gedanken: „Es beginnt.“ Kein Lächeln. Nur der erste Biss in die Selbstverachtung.

06:45 – Fenster auf. Luft wie abgestandene Versprechen. Der Staub riecht nach totem Zucker.

07:18 – Magen brüllt. Tier. Nicht mein Freund. Nicht mein Körper. Ich nenne das Mut, aber es ist bloß: Wegrennen nach innen.

07:30 – Katze miaut. Ich beneide sie um ihre Primitive Ehrlichkeit.

08:15 – Kaffeeduft wie ein Fausthieb ins limbische System. Gedanken: Zigaretten. Sex. Kartoffelgratin. Alles, was nicht Wasser ist. Alles, was Mensch war.

08:50 – Boden. Ich. Kühlschrank summt. Ich verstehe ihn.

09:10 – Gedanken aufschreiben, durchstreichen, aufessen. Der Stift ist ein Grabstein. Der Arm: ein Mahnmal für Kontrolle.

09:40 – Mein Herz spricht in Morse. Ich verstehe kein Wort. Aber ich höre zu.

10:12 – Ich träume vom Beißen. In Äpfel. In Brote. In Fleisch. Ich wache auf – Zähneknirschen. Google: „Zahnschäden durch Knabbern“. Ergebnis: Ich.

10:35 – Nachbarin kocht Knoblauch. Ich rieche Schuld und Begehren in einem Topf.

11:15 – Heißdusche. Haut rot. Brennt wie Beichte. Ich wasche mich von mir frei.

12:00 – Fenster geputzt. Weil meine Augen draußen nichts mehr finden.

12:40 – Bachmann spricht. Ich antworte. Dialog mit Gespenstern. Endlich kein Monolog mehr.

13:05 – Küchenlicht flackert. Ich nenne das Solidarität.

13:30 – Tee kalt. Ich meide Räume wie andere Menschen. Sitze in Ecken. Ich meide das Fenster. Ich meide mich.

13:55 – „Ich bin noch da.“ – durchgestrichen. Wahrheit ist schwer zu lesen.

14:15 – Kopfschmerzen oder Gedanken? Ich flüstere mit mir selbst. Jeder Atemzug ein Alibi.

14:50 – Schmerzen wecken. Kalter Schweiß, warme Angst.

15:20 – Ich lache. Laut. Zu laut. Ich bin peinlich für mich selbst.

16:10 – Spiegel. Gebrochen. Ich erkenne: nichts.

16:45 – Kindheitstraum: Kuchen. Streusel. Ich wache auf. Puderzucker im Phantommund. Erbarmungslos.

17:05 – Briefkasten: Werbung. Ich feiere das Schweigen der Welt.

17:20 – Spiegel verhängt. Ich will nicht Zeuge meiner Selbst sein.

17:45 – Stromausfall. Dunkelheit. Ich danke ihr. Sie ist endlich ehrlich.

18:05 – Zittrige Schrift: „Ich existiere außerhalb von Hunger.“ Dann kaue ich auf dem Satz. Ich will mir einverleibt sein.

18:30 – Dusche läuft über. Ich vergesse Wasser. Ich vergesse Zeit.

18:52 – Herz doppelt. Oder Nachbar. Oder Echo. Alles gleich.

19:15 – Halbzeit. Verrosteter Motor. Noch funktional, aber nur aus Trotz. Gerüche sind Messer. Mein Bett stinkt nach mir.

19:35 – Fensterbank geputzt. Hände blutig. Ich nenne das Reinigung.

20:00 – Erwacht in Stillstand. Zeit ist nicht mehr. Ich auch nicht.

20:10 – Wand. Gesicht. Ich frage nicht, ob es echt ist. Ich frage, ob es bleibt.

20:25 – Briefe an Geister. Der an meinen Vater beginnt: „Ich wollte dich nie. Jetzt will ich dich mehr als alles.“

20:40 – Körpergeruch wie Metall. Ich wasche mich mit Kälte. Bin kurz wieder Hülle.

20:55 – Ich zähle Schritte. 12 zur Küche. 7 zum Fenster. Ich nenne das: Kartografie der Isolation.

21:10 – Ich lache. Ich schäme mich. Ich bin ein Zitat meiner selbst.

21:25 – Atmung als Tatverdacht. Ich kontrolliere mich. Ich falle durch.

21:40 – Ich schreibe: „Du bist nicht mutig. Du bist feige – aber systematisch.“

21:55 – Licht tut weh. Sonnenbrille im Dunkeln. Ich lache. Ich bin Parodie. Ich bin Prophet.

22:10 – Wörter weg. „Gabel“ vergessen. Finde „Stichwerkzeug“. Ich spüre Stolz. Ich bin jetzt Erfinder.

22:25 – Nick Cave. Musik wie Sargdeckel. Ich tanze im Kopf. Der Körper streikt. Ich falle ins Bett wie in ein Grab.

22:40 – Zeit kaputt. Morgen ist 17 Uhr. Ich frage nicht nach Richtigkeit.

22:55 – Pizzageruch. Ich starre auf Straße wie auf einen Altar. Ich ziehe den Vorhang wie ein Beichttuch.

23:10 – Ich schreibe „Abgrund“ 34 Mal. Ich zähle. Ich nenne das Ordnung.

23:25 – Essensphantom: Kauen im Schlaf. Textur ohne Geschmack. Ich kaue Erinnerung.

23:40 – Brief an mich: „Du hast’s geschafft. Wer bist du jetzt?“ – Keine Unterschrift. Kein Ich.

23:55 – Brühe. Langsam. Geschmack wie Rückkehr. Leben auf Raten. Hoffnung mit Nebenwirkungen.



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Kommentare zu diesem Text


 Jack (22.05.25, 03:37)
Die Tyrannei der Uhr ist für einen Arbeitenden wie feudale Herrschaft und für einen Arbeitslosen wie Sklaverei.

Sich ständig vor der Uhr zu rechtfertigen, warum du existierst, ist vollendete Dehumanisierung. Der Arbeitslose ist ein Mensch und gilt weniger als ein Objekt.

 Saira (22.05.25, 12:44)
Moin Isensee,
 
ich habe deinen Text mehrmals gelesen und versucht, mich in die Welt des Protagonisten hineinzufühlen, in seine Einsamkeit und innere Leere. Es ist, als hätte er nicht nur sein Selbst verloren, sondern auch seine Würde. Stattdessen spürt er ein neues Empfinden: Schuld.
 
Selbst kleine Dinge im Alltag werden zu großen Herausforderungen. Sogar Kaffee oder Essen bekommen eine ganz neue Bedeutung. Es wirkt so, als würde der Protagonist ständig mit sich selbst kämpfen – mit Hunger, mit Scham und mit dem Gefühl, nicht mehr richtig dazuzugehören.
 
Besonders berührend finde ich, dass alltägliche Sinneseindrücke, wie der Geruch von Kaffee oder das Summen des Kühlschranks plötzlich für Sehnsucht und Einsamkeit stehen. Dein Text macht klar: Armut bedeutet nicht nur materielle Entbehrung, sondern auch wenig Hoffnung und Selbstwertgefühl zu haben.
 
LG
Saira

 Augustus (22.05.25, 19:24)
Bürgergeldempfänger sind vorweggenommene Renter. Bei der detaillierten Zeitanalyse kann es sich durchaus auch um Renter handeln.
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