Literarische Rätsel. In Trägheit versunken
Ansprache zum Thema Charakterisierung/ Charakteristik
von EkkehartMittelberg
Kommentare zu diesem Text
Ich fand der Roman gut geschrieben, obwohl der Protagonist O. mich schier zur Verzweiflung gebracht hat. Passiver Widerstand gegen die Welt - das kann so gemeint sein.
Ich liebte ihn gleich!!! Ich bin auch faul
Ein Seelenverwandter.

Hier ein Auszug aus dem Roman ("O.s Traum"), welcher die Stimmung des Ortes, an dem O. lebt, gut wiedergibt:
Sie brachten sich niemals durch irgendwelche nebelhaften geistigen oder moralischen Fragen in Verwirrung; darum erfreuten sie sich auch immer des Frohsinns und einer blühenden Gesundheit, darum lebten sie dort so lange; die Männer erinnerten mit vierzig Jahren an Jünglinge; die Greise kämpften nicht mit einem schweren, qualvollen Tod, sondern starben gleichsam verstohlen, erstarrten still und hauchten unmerklich ihren letzten Seufzer aus, nachdem sie unerhört lange gelebt hatten. Darum heißt es auch, daß die Menschen früher kräftiger waren. Ja, sie waren in der Tat kräftiger. Früher beeilte man sich nicht, dem Kinde den Sinn des Lebens zu erklären und es dazu wie zu etwas sehr Kompliziertem und Ernstem vorzubereiten; man quälte es nicht mit Büchern, welche im Kopfe eine Menge von Fragen erzeugen, die am Hirn und Herzen nagen. Die Norm des Lebens war fertig und war ihnen von den Eltern beigebracht worden, die sie ebenfalls fertig vom Großvater und dieser vom Urgroßvater mit dem Vermächtnis übernommen hatten, über deren Unberührtheit und Heiligkeit wie über das Feuer der Vesta zu wachen. Wie alles bei Lebzeiten der Großväter und Väter getan wurde, so wurde es auch unter Ilja Iljitschs Vater und so wird es vielleicht bis heute in Oblomowka getan.
Worüber hatten sie denn zu sinnen und sich zu erregen, was zu ergründen und welche Ziele zu erreichen? Das war alles unnötig. Das Leben rann wie ein ruhiger Fluß an ihnen vorbei, sie brauchten nur am Ufer dieses Flusses zu bleiben und die unvermeidlichen Erscheinungen zu beobachten, welche ungerufen der Reihe nach vor einem jeden von ihnen erstanden. [...]
Worüber hatten sie denn zu sinnen und sich zu erregen, was zu ergründen und welche Ziele zu erreichen? Das war alles unnötig. Das Leben rann wie ein ruhiger Fluß an ihnen vorbei, sie brauchten nur am Ufer dieses Flusses zu bleiben und die unvermeidlichen Erscheinungen zu beobachten, welche ungerufen der Reihe nach vor einem jeden von ihnen erstanden. [...]
Ich bin auch faul
Euer Wohlgeboren belieben zu scherzen, nicht wahr?
Wolfgang, ich vermute, dass dich O. durch Leistungsverweigerung zur Verzweiflung gebracht hat. Mir ging es ähnlich. Das lässt Rückschlüsse auf unsere Sozialisation zu.
Nein, Graeculus - ICH bin FAUL. So ein Leben auf dem Sofa, das lasse ich mir auch gefallen.
O's Traum wird in der Sekundärliteratur häufiger zitiert. Er ist typisch für den Stil des Autors und also von dir gut ausgewählt.
Du und faul, Cori. Mir scheint eher, dass du den Roman schätzt, weil sich Gegensätze anziehen.
Es ist schon eine Weile her, daß ich diesen Roman gelesen habe. In meiner Erinnerung hat O. sich immer wieder allerlei vorgenommen und dann doch nicht die Energie aufgebracht, seine Absicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Es war diese Diskrepanz, die mich aufgeregt hat, denn nach dem vierten Fall ahnte ich, wie der fünfte verlaufen würde ... und habe mir die Haare gerauft.
(So erlebe ich Saudade nicht, jedenfalls nicht in der Rolle, in der sie hier auftritt. Oder ist diese selbst eine literarische Kunstfigur, während sie in Wahrheit ganztags auf dem Sofa sitzt, die Füße hochlegt und die Socken qualmen läßt? Nein, denn dann kämen ja nichtmal ihre Texte zustande.)
(So erlebe ich Saudade nicht, jedenfalls nicht in der Rolle, in der sie hier auftritt. Oder ist diese selbst eine literarische Kunstfigur, während sie in Wahrheit ganztags auf dem Sofa sitzt, die Füße hochlegt und die Socken qualmen läßt? Nein, denn dann kämen ja nichtmal ihre Texte zustande.)
Antwort geändert am 21.06.2025 um 01:04 Uhr
Herrschaften, ich bin aktiv, ja, setze durch, mache und tue, aber im Geiste will ich faul sein und manchmal, wenn ich faul sein darf, dann bin ich es, so wie er, ganz gleich.
Im Ernst, O. erachte ich für schwer depressiv und ich denke auch, das war die erste Darstellung einer schweren Depression und genau das ist das Interessante.
Im Ernst, O. erachte ich für schwer depressiv und ich denke auch, das war die erste Darstellung einer schweren Depression und genau das ist das Interessante.
Cori, das mit der Depression ist eine interessante Version. Hätte der Autor das im Sinne gehabt, dann hätte er ausdrücken wollen, dass der russische Feudalismus, der Großgrundbesitzer zu kleinen Herrgöttern machte, durch Überfluss Depressionen hervorbringen würde. Es wäre dann eine Systemkritik, an der sich ganz Russland beteiligt hätte.
Ausschließen kann man diese Version nicht.
Ausschließen kann man diese Version nicht.
Den O. als depressive Persönlichkeit zu verstehen, ist ein interessanter Ansatz.
Wenn man allerdings sagt, dies sei die erste Darstellung einer schweren Depression, sollte man bedenken, daß die Depression früher Melancholie oder Schwermut hieß, und da gibt es schon ältere Darstellungen, schon seit Hippokrates. Ich nenne mal Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Aus dem 17. Jhdt.
Wenn man allerdings sagt, dies sei die erste Darstellung einer schweren Depression, sollte man bedenken, daß die Depression früher Melancholie oder Schwermut hieß, und da gibt es schon ältere Darstellungen, schon seit Hippokrates. Ich nenne mal Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Aus dem 17. Jhdt.
Antwort geändert am 21.06.2025 um 12:38 Uhr
Das schöne Wort "Schwermut" hat sich wohl aus unserem Sprachgebrauch verabschiedet (wenn ich mich nicht irre), und "Melancholie" bedeutet heute im Verhältnis zu "Depression" was?
Ich halte Melancholie für eine wehmütige Stimmung, die der Melancholische genießt.
Mit den Darstellungen der Depression hat Graec natürlich recht und siehe auch den Werther, Liebeskummer bis hin zum Suizid, das ist Schwestform. Was ich jedoch im Sinn hatte, ich las oder hörte, weiß nicht mehr O. und das war mein erster Gedanke. Vorallem so eine genaue Darstellung der Antriebslosigkeit, die alles kaputt macht und zeigt, was das mit einem macht. Ihr habt natürlich auch die vermutliche Intention herausgelesen, die bei jedem Russen zu lesen ist: Kritik am System. Aber, deshalb mag ich sie so gerne literarisch, es verlaufen stets mehrere Handlungsstränge und offenbart das Ganze: Liebe, Tod, Teufel, Gesellschaft, Systeme, Landwirtschaft (großes Thema) = Grundbesitz, Krieg, Politik. Mir scheint, das ist ein Sog, total plastisch. Im Übrigen, die Antriebslosigkeit könnte man auch als Starre sehen, das ganze System war (war =räusper) starr.
Antwort geändert am 21.06.2025 um 10:59 Uhr
An Ekkehart:
So wird der Begriff wohl heute gebraucht, also eine relativ nette Verwandte der düsteren Schwester Depression.
An Saudade:
Ich merke, daß ich mir den Roman nochmal vornehmen müßte; die Lektüre ist schon so lange her.
So wird der Begriff wohl heute gebraucht, also eine relativ nette Verwandte der düsteren Schwester Depression.
An Saudade:
Ich merke, daß ich mir den Roman nochmal vornehmen müßte; die Lektüre ist schon so lange her.
Unbedingt! Ich war begeistert!
Moin Ekki,
deine Beschreibung macht deutlich, dass O. von I.G. viel mehr ist als eine Karikatur des Faulenzers: In seiner Lethargie steckt Ironie, Gesellschaftskritik und vielleicht sogar eine stille Form des Widerstands gegen den ständigen Leistungsdruck. Die Kontraste zwischen seiner jugendlichen Hoffnung, der Liebe zu Olga und der späteren Apathie zeigen, wie vielschichtig und lebendig literarische Figuren sein können.
Herzliche Grüße
Sigi
deine Beschreibung macht deutlich, dass O. von I.G. viel mehr ist als eine Karikatur des Faulenzers: In seiner Lethargie steckt Ironie, Gesellschaftskritik und vielleicht sogar eine stille Form des Widerstands gegen den ständigen Leistungsdruck. Die Kontraste zwischen seiner jugendlichen Hoffnung, der Liebe zu Olga und der späteren Apathie zeigen, wie vielschichtig und lebendig literarische Figuren sein können.
Herzliche Grüße
Sigi
Liebe Sigi,
mit der "stillen Form des Widerstands gegen den ständigen Leistungsdruck" erweiterst du die Palette möglicher Interpretationen des O., obwohl Gontscharow daran wahrscheinlich nicht gedacht hat.
Es ist interessant, wie der Wandel der Zeit der Interpretation von Texten Möglichkeiten hinzufügt, die der Autor noch nicht im Blick hatte.
Herzliche Grüße
Ekki
mit der "stillen Form des Widerstands gegen den ständigen Leistungsdruck" erweiterst du die Palette möglicher Interpretationen des O., obwohl Gontscharow daran wahrscheinlich nicht gedacht hat.
Es ist interessant, wie der Wandel der Zeit der Interpretation von Texten Möglichkeiten hinzufügt, die der Autor noch nicht im Blick hatte.
Herzliche Grüße
Ekki