Alle 9.535 Textkommentarantworten von Graeculus

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Hier ist das zweite (dritte) Beispiel: Rudolf Borchardt (1877-1945) Sonett auf mich selbst (1902) Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich saß, In einen Spiegel blickt ich heut hinein Und wußte nicht von mir, und sah mit Pein Das Antlitz meines Feindes aus dem Glas Emporgesandt: von fleckiger Schatten Schein Die Lippe überwildert, schien etwas Dumpf hinzuknirschen zwischen Angst und Haß: Ich sollt es sein; und möchte dies nicht sein! Wir sind nicht, was wir sind; der Himmel, kaum Vom Meer zu kennen, schleift mit Dunst beschwert Und brütet Auswurf: aber gieße Traum In deinen Becher; und mit Nordwind gärt Die wundervolle See, und wildem Schaum, Durch den das heilige Schiff mit Helden fährt. (Rudolf Borchardt: Gedichte. Textkritisch revidierte Neuedition der Ausgabe von 1957. Hrsg. von Gerhard Schuster und Lars Korten. Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 109) Selbstzerstörung!"

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Großartig! Kannte auch ich nicht! Danke! Jetzt kann man, frisch motiviert, dem Thema in der Literaturgeschichte nachgehen. Hier Caligulas Dialog mit seinem Spiegelbild gemäß Albert Camus: VIERZEHNTER AUFTRITT Er dreht sich um sich selbst, geht mit irrem Blick zum Spiegel. CALIGULA: „Caligula! Auch du, auch du bist schuldig. Ein bißchen mehr, ein bißchen weniger. Was hat das schon zu besagen! Aber wer wagte es, mich zu richten in dieser Welt ohne Richter, da niemand ohne Schuld ist!“ Mit dem Ausdruck der tiefsten Verzweiflung, während er sich an den Spiegel preßt. „Du siehst es wohl, Helicon ist nicht gekommen. Ich werde den Mond nicht besitzen. Aber wie bitter ist es, recht zu haben und den Weg zu Ende gehen zu müssen. Denn ich habe Angst vor der Vollendung. Waffenlärm! Die Unschuld bereitet ihren Triumph vor. Warum bin ich nicht an ihrer Stelle! Ich habe Angst. Welch ein Ekel, dieselbe Feigheit in der eigenen Seele zu verspüren, die ich bei den anderen verachtet habe. Aber das tut nichts. Auch die Angst ist nicht von Dauer. Ich werde die große Leere zurückgewinnen, in der das Herz Ruhe findet.“ Er tritt ein bißchen zurück, dann steht er wieder vor dem Spiegel. Er scheint ruhiger. Er hebt von neuem zu sprechen an, doch leiser und eindringlicher. „Alles sieht so verworren aus, Und doch ist alles so einfach. Wenn ich den Mond bekommen hätte, wenn die Liebe genügte, wäre alles anders. Aber wo diesen Durst löschen? Welches Herz, welcher Gott besäße für mich die Tiefe eines Sees?“ Er kniet nieder und weint. „Nichts in dieser Welt, nichts im Jenseits, das meinem Maß entspräche! Und doch weiß ich, und du weißt es auch“ – er hebt weinend die Hände zum Spiegel – „daß es genügte, wenn das Unmögliche möglich würde. Das Unmögliche! Ich habe es an den Horizonten der Welt gesucht, an den Grenzen meiner selbst. Ich habe meine Hände ausgestreckt.“ Schreiend: „Ich strecke meine Hände aus, und immer begegne ich dir, immer dir, mir gegenüber, und ich bin voll von Haß gegen dich. Ich habe nicht den Weg eingeschlagen, den ich hätte einschlagen sollen, ich gelange nirgendwohin. Meine Freiheit ist nicht die richtige. Helicon! Helicon! Nichts, immer noch nichts. Oh, diese Nacht lastet schwer! Helicon wird nicht kommen: wir werden auf immer schuldig sein. Diese Nacht lastet schwer wie der Schmerz der Menschen.“ Waffenlärm und Geflüster wird hinter den Kulissen vernehmbar. HELICON erscheint im Hintergrund: „Sei auf der Hut, Gaius! Paß auf!“ Eine unsichtbare Hand erdolcht Helicon. Caligula steht auf, ergreift einen niederen Schemel und nähert sich schwer atmend dem Spiegel. Er beobachtet sich, simuliert einen Sprung nach vorne und schleudert angesichts der entsprechenden Bewegung seines Doppelgängers den Schemel mit aller Wucht in den Spiegel, während er schreit: CALIGULA: „In die Weltgeschichte, Caligula, in die Weltgeschichte!“ Der Spiegel zerbricht, und im gleichen Augenblick dringen durch alle Türen die bewaffneten Verschwörer. Caligula bietet ihnen mit irrem Lachen die Stirn. Der alte Patrizier fällt ihm in den Rücken, Cherea trifft ihn mitten ins Gesicht. Caligulas Lachen verwandelt sich in Gurgeln. Alle hauen auf ihn ein. Mit einem letzten Röcheln brüllt Caligula lachend und ächzend zugleich: „Je sui encore vivant - Noch lebe ich!“ Vorhang (Albert Camus, Dramen: Caligula. Reinbek 8. Aufl. 1970, S. 72 f.) Das kommt den Gedanken eines Mörders nahe, gelt? Ein anderes Beispiel, das mir vorschwebt, suche ich noch. Antwort geändert am 04.03.2020 um 15:14 Uhr"

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Ob der Hingerichtete mit der Veröffentlichung einverstanden war, das wissen wir nicht. Kafka war mit der Veröffentlichung seiner Werke, wie man weiß, definitiv nicht einverstanden. Was folgt daraus oder sollte daraus folgen oder hätte daraus folgen sollen? Die Kuratierung der Ausstellung geht noch komplett auf Lindbergh zurück. Damit auch die Verantwortung für die Veröffentlichung des Videos. Aber Du hast die Ausstellung nicht gesehen?"

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Wir? Wir, die wir die Ausstellung besucht und anschließend darüber gesprochen haben - auffallenderweise fast nur über dieses Projekt, kaum über Lindberghs private Photos von Supermodels. Naomi Campbell erschien uns auch ungeschminkt nicht annähernd so faszinierend wie dieser Mörder und was er aus der Szene machte. Letzteres ist vermutlich eine relevante Zusatzinformation. Ersteres, so habe ich mir gedacht, kann man sich als Leser denken."

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Bevor sie losmalen bzw. mit der Skizze beginnen? Das ist sinnvoll, wenn sie vorher erstmal nur schauen. Sobald man dabei etwas tut, z.B. Mitesser ausdrücken, entsteht eine ganz andere Situation, denn die Konzentration richtet sich dann aufs Technische statt auf die Frage: Wer bin ich?"

04.03.20 - Kommentarantwort zum eigenen Text  Spiegel-Meditation: "Wir, die wir die Ausstellung besucht und über sie gesprochen haben, können uns nicht zu der Annahme entschließen, der Mörder (Elmer Carroll) habe zufällig eine halbe Stunde in einen Spiegel geschaut, der zufällig ein Einweg-Spiegel war, und zufällig habe Lindbergh davon gewußt und rechtzeitig eine Kamera installiert. Da erscheint es uns wahrscheinlicher, daß Carroll der Monotonie seines Lebens in der Todeszelle wenigstens zeitweise durch die Teilnahme an einem Kunstprojekt entkommen wollte. Du wirst inzwischen gelesen haben, daß für Peter Lindbergh dieses Projekt eingebunden war in eine intensive Auseinandersetzung mit der Todesstrafe und der Analyse von ca. 300 Gerichtsprozessen mit Todesstrafe wegen Mordes. Mir gefällt an dem Projekt, daß Lindbergh uns nicht - wie sonst leider üblich - sein moralisches Urteil gleich mitliefert, sondern uns nur zu einer eigenen Urteilsbildung motiviert. Den Sokrates-Fall als Vergleich hinzuzuziehen, ist deshalb problematisch, weil einerseits Sokrates kein Mörder war und andererseits über seine Gedanken beim Sterben keine eigenen Aussagen vorliegen, sondern nur die dreier anderer Autoren (Platon, Xenophon und Teles), die in ihrem Inhalt und ihrer Tendenz sehr unterschiedlich ausfallen. Da weiß man nichts Genaues."

04.03.20 - Diskussionsbeitrag zum Text  Sich selbst abschaffen - deutsche Primärtugend triumphiert wieder einmal! Kollage zur Suizidfreigabe von  pentz: "Das 5. Gebot lautet übrigens: "Morde nicht," allenfalls: "Du sollst nicht morden". "Du sollst nicht töten" ist eine Fehlübersetzung, wie man auch ohne Hebräischkenntnisse leicht überprüfen kann, wenn man liest, daß in der Thora anschließend für allerlei Delikte die Todesstrafe vorgeschrieben wird. Weder die Thora noch das Neue Testament noch der Koran verbieten an irgendeiner Stelle den Suizid."

04.03.20 - Diskussionsbeitrag zum Text  Sich selbst abschaffen - deutsche Primärtugend triumphiert wieder einmal! Kollage zur Suizidfreigabe von  pentz: "Das klingt, mit Verlaub, alles arg wirr. Daß in Polen die Exekutive die Jurisdiktive unter ihre Kontrolle bringt, erscheint Dir richtig, weil in Deutschland die Jurisdiktive die Legislative gemaßregelt hat? (was übrigens im Falle des Bundesverfassungsgerichts eine von dessen im Grundgesetz festgelegten Funktionen ist) Daß Dir die Ausweitung der Palliativmedizin humaner erscheint als die Freigabe der Beihilfe zum Suizid, bleibt dir unbenommen. Niemand zwingt Dich oder sollte dich zwingen dürfen, Suizid zu begehen und dabei die Assistenz eines Arztes in Anspruch zu nehmen. Das mußt Du nicht tun. Das von Dir favorisierte Gesetz aber machte diese Deine für human gehaltene Einstellung zur verbindlichen Norm für alle anderen. Es hat, zum Beispiel, meine persönliche freie Entscheidung eingeschränkt in einer Frage, die Dich und den Staat (und die Kirchen!) einen feuchten Staub angeht: ob ein seiner Sinne mächtiger Mensch lieber leben oder tot sein möchte. Was ich bekämpfe, ist diese patrimoniale Gesinnung, die einige, gewöhnlich selbsternannte Tugendwächter dazu bringt, anderen, mündigen Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Selbstverständlich nur "zu deren Bestem". Dagegen hat das BVerfG ein Zeichen für einen liberalen Staat gesetzt, in dem jeder Mensch zunächst Herr seines eigenen Leibes ist. Wenn man nicht einmal darauf ein Recht haben soll, worauf dann? Mit dieser Liberalität hapert es im konservativ-klerikalen Polen."

03.03.20 - Diskussionsbeitrag zum Text  Edirne von  loslosch: "Antiker Name: Hadrianopolis. Sicherlich ist es auf verschlungenen Wegen von da via Adrianopel zu Edirne gekommen."

02.03.20 - Diskussionsbeitrag zum Text  Barfuß oder Lackschuh? von  Bluebird: "Zu einfach? Kann man bei einem allmächtigen Wesen zwischen einfacheren und schwierigeren Aufgaben unterscheiden? Eindeutiger wäre es für uns gewesen, aber nicht so witzig. Hat Gott Humor? Kann Gott lachen?"

Diese Liste umfasst nur von Graeculus abgegebene Antworten bzw. Reaktionen auf Kommentare zu Texten. Eigenständige Textkommentare von Graeculus findest Du  hier.

 
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