Unlängst stellte Professor Graeculus die Frage nach der richtigen Deutungsmethode und ich antwortete mit dem Vergleich eines Pirschenden, der, indem er das Angepirschte erreicht, definitiv weiß, daß er die Spuren zuvor richtig deutete, da er im Falle einer falschen Deutung sein Ziel aus den Augen verlöre und solange weiter in die Irre gänge, bis er sein Irren einsähe. So etwas kann, im Falle des "Überzeugtseins" von der eigenen Unfehlbarkeit, bis zur Erschöpfung dauern.
Beim Spurenlesen handelt es sich um das gleiche Lesen, wie beim Lesen von Texten - man muß die Schriftzeichen kennen, um die Worte zu verstehen. Doch reicht das noch nicht aus, da dieselben Worte von der Menge unterschiedlich, ja teilweise willkürlich und widersprüchlich interpretiert werden.
Es kann also beim Pirschen nicht um Interpretation gehen, sondern um das Hineinversetzen in das, was die hinterlassene Spur dem Aufmerksamen über das flüchtige Objekt erzählen kann. Hierzu ein Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld:
In unserem Haus gibt es eine Kellertür, die, sofern kein Bewohner sich unter Tage aufhält, abgeschlossen ist, wobei der Schlüssel im Schloß stecken bleibt. Irgendwann einmal fiel mir auf, daß offenbar jeder Hausbewohner eine andere Schlüsselstellung beim Abschließen bevorzugt: der eine schloß zweimal ab, der andere drehte den Schlüssel bis zur Arretierung des ersten Verschlussbolzens, ein Dritter - ich - nur so weit, wie eben zur Absperrung nötig - ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muß ...
Zufall? - Wohl kaum! - jeder folgte strikt seiner Gewohnheit, wie jene der Anweisung aus ihrem Unbewußten.
Ab diesem Zeitpunkt wusste ich also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wer zuletzt im Keller war. Das mag soweit nicht besonders interessant erscheinen. Was sich allerdings änderte, wenn beispielsweise jemand vergaß, das Licht auszumachen, was ja bekanntlich unnötigen Strom verbraucht, der Geld kostet und wir doch alles arme Leute waren. Nun wusste ich ob meiner Beobachtung, wer es versehentlich angelassen hat und konnte es der Person im Wiederholungsfalle schonend mitteilen.
Das funktioniert natürlich nur so lange, wie unsere Handlungen vom Unterbewußten diktiert werden. D.h. solange es den Bewohnern selbst nicht bewußt ist, werden sie es beibehalten. Sobald aber einer sich dessen bewußt wird, kann er die Muster abstreifen, was ein Zurückverfolgen erschwerte, aber zugleich das Pirschen subtiler werden läßt - mit dem einen wächst ja auch das andere.
Mit anderen Worten: ein Spurenlesen in der Natur ist insofern einfacher, da jener die Kunstgriffe des bewußten Täuschens fremd sind. Das trifft selbst für ein Chamäleon zu, das natürlicherweise mit seinem Untergrund durch farbliche Anpassung verschmilzt, jedoch die Wut auf einen Nebenbuhler farblich nicht verbergen kann. Es gehört zu seiner Natur, was der Schüler beim Pirschen alles berücksichtigen muß.
Die Schlüsselstellung an der Kellertür war nur ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel. Tatsächlich sind lesbare Zeichen überall dort, wo Mangel an Bewußtsein herrscht. Nur gehört zum Lesen und Deuten eine Art passive Haltung. Dh. es ist das innere Schweigen zu kultivieren, so daß die Dinge ins Bewußtsein des Pirschenden aufsteigen können. Jedes Zeichen oder Signum ist die Hinterlassenschaft eines Nichtanwesenden. Es erzählt folglich dem, der seine Bedeutung empfängt, nicht nur, welchen Weg das Flüchtige nahm, sondern auch, um was es sich handelt, was es tat usw. Immer vorausgesetzt, man versteht sich auf's geräuschlose Heranpirschen.
Und je erfahrener der Pirschende wird, umso weniger Zeichen braucht er für's genaue Schlüsse ziehen. Beim Textlesen, beim Musikhören, bei allem - dem Erfahrenden genügen dabei immer weniger Worte, weniger Töne, um zu erkennen, welcher Geist wohin, wie und warum verduftet ...
Nun mag es viele Arten des Pirschens geben. Je nach Anlage des Jägers, je nach Hunger. Sie sehen, ich pirsche mich vorsichtig, fast lautlos heran ans Thema. Damit das scheue Wild nicht schon vorzeitig Witterung aufnimmt ...
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