Weggehen 14

Text zum Thema Krieg/Krieger

von  Ganna

Vor meiner Geburt lag eine dunkle Zeit, wie ein schwerer Klumpen. In dieses Dunkel ließ mich niemand blicken und ich brauchte lange Zeit, bis ich heraus bekam, was davor geschehen war. An der Hand meiner Oma lief ich an Ruinen vorbei.
Mit weit in den Nacken gelegtem Kopf betrachtete ich die halben, stehengebliebenen Häuser. In zweiten und dritten Etagen klebten  Waschbecken an Wänden und Wind bewegte Fetzen von Tapete. Dort hatten Menschen gewohnt, ganz offensichtlich. Doch warum waren die Häuser kaputt? Was wurde aus den Menschen, die in ihnen gewohnt hatten? Wo waren sie? Niemand sprach über das, was passiert war. Warum sprach niemand darüber? Es war etwas Entsetzliches geschehen und alle schwiegen.
Als kleines Kind war ich nicht würdig, in Gespräche mit einbezogen zu werden. Aber auch ohne mich ließen sie die Vergangenheit unberührt. Wie ein dunkles Vakuum lag sie da, dunkel, ganz, ganz dunkel. Das, was geschehen war, war so schrecklich gewesen, dass niemand es in Worte fassen konnte, doch es lastete wie ein schwarzer Schatten auf dem ganzen Leben.

Meine Mutter stand am Fenster und sagte plötzlich erschrocken: Jetzt ist der Kleine mitten in die Scherben gefallen. Ich wollte auch sehen, was passiert war. Er ging mit seinem Vater spazieren und ist hingefallen, ergänzte sie. Weil ich nicht aufhörte zu schreien, ich will es sehen, stellte sie mir den Stuhl ans Fenster und hob mich hinauf. Doch Vater und Kind waren längst weiter gegangen und ich blickte nur auf das große Loch hinter dem Haus, dorthin, wo die Schuttberge lagen und Glasscherben in der Sonne glänzten.

Die zwei Kriege des letzten Jahrhunderts haben Europa geprägt und in weiten Teilen traumatisiert. Dieses Trauma wirkt bis heute durch jeden Menschen hindurch. Der Mensch glaubt oft, er kann dem entgehen, indem er ein erfolgreiches, materiell abgesichertes Leben lebt, sich unauffällig und anständig verhält, menschlich seinen Mitmenschen gegenüber. Das scheint mir ein Trugschluss zu sein. Was nicht aufgearbeitet ist, drängt auf dunklen Kanälen nach außen und verschafft sich Geltung. Es verschafft sich Geltung im individuellen Leben jedes Einzelnen. Und jeder Einzelne wird damit auf seine Weise konfrontiert und lebt es aus, ob es ihm bewusst ist oder nicht.

Mein Großvater musste als Soldat durch beide Kriege gehen. Er überlebte sie wie durch ein Wunder, doch er verwahrte alle schrecklichen Erlebnisse in sich. Nichts drang nach außen. Nur ein einziges Erlebnis erzählte er mir, wie er während des ersten Krieges seinen Glauben an Gott verlor. Als er im Kugelhagel auf ein am Feldrand stehendes Kruzifix blickte, dachte er, Gott, wenn es dich gäbe, würdest du solches nicht erlauben.

Alle Männer in meinem Umfeld kamen aus dem Krieg, Onkel Gerhard zeigte eine tiefe Narbe am Bauch, die ich immer sah, wenn er vor seiner Datsche beim Kaffeetrinken in der Sonne saß. Auch er erzählte nichts. Doch er war es, der uns Kindern Holzgewehre schnitzte, mit denen wir uns im nahegelegenen Wald bekriegten.
Als wäre es das Normalste der Welt, ob an Wandertagen in der Schule oder mit anderen Kindern nachmittags auf dem Hof, bauten wir Barrikaden und schossen auf Gegner.

Meine Oma überlebte zwei Kriege mitten in der großen Stadt. Sie war die Einzige, die manchmal erzählte, vom Hunger und den Bombenangriffen, von den Abtransporten der Juden und den Verwundeten.
Wenn sie ihren Enkelkindern eine Freude machen wollte, stopfte sie uns mit Kartoffelpuffer voll.  Sie rieb Kartoffeln, bis die große, weiße Emailleschüssel gefülltl war, gab Mehl und Eier dazu und briet den Teig zu goldgelben, knusprigen Puffern, die wir mit Zucker und Zimt oder mit Apfelmus aßen, bis wir Bauchschmerzen bekamen. Es gab durchaus nicht jeden Tag solch leckere Sachen und nicht oft konnte man essen, so viel wie man wollte.
Bis 1958 wurden Lebensmittel rationiert, Eier, Butter, Zucker, Fleisch und Wurst gab es auf Marken. Das bedeutete, jedem wurde eine Karte mit Abschnitten zugeteilt und wer ein Stück Butter kaufte, musste dieses bezahlen und einen Abschnitt abgeben. Waren alle Abschnitte auf der Karte verbraucht, gab es auch keine Butter mehr oder keinen Zucker oder keine Eier. Ob diese Sachen aber überhaupt zu bekommen waren, dafür gab es keine Garantie.
Während uns beim Kartoffelpufferessen fast die Bäuche platzten, erzählte Lucie vom Kohlrübenwinter während des ersten Weltkrieges, wo es einfach nur Kohlrüben zu essen gab. Alles wurde aus der Rübe hergestellt, Gemüse, Suppe, Fleischersatz, Kohlrübenmarmelade und Kohlrübenbrot, das mit Sägemehl getreckt wurde. Das hörte sich nicht gut an.
Auch der zweite Krieg brachte den Hunger. Meine Oma sammelte Brennnesseln und Melde und bekam manchmal eine Möhre von der Nachbarin geschenkt für ihr Kind, das mit einer Herzkrankheit im Bett lag.
Wie eine Löwin kämpfte sie um das Überleben ihres einzigen Kindes unter dem Bombenhagel.  Medizin gab es nicht, dafür aber grenzenlosen Hunger und viel Angst. Lucie lief zu Fuß durch ganz Berlin, um in einem Kloster um Hilfe zu bitten. Bahnen oder Busse fuhren nicht, Autos gab es so gut wie keine und viele Straßen waren infolge der Bombenangriffe zerstört. Helfen konnte oder wollte man ihr im Kloster nicht. Sie erhielt lediglich eine warme Mahlzeit und heimlich steckte sie sich die Kartoffeln für ihr krankes Kind daheim in die Manteltasche, denn etwas mitzunehmen, wurde ihr nicht erlaubt.

Der Krieg ging zu Ende und der Hunger blieb. Der Winter 1945/46 wurde zum härtesten des Jahrhunderts. Es wurde unerbittlich kalt. Heizmaterial gab es nicht, Lebensmittel ebenso wenig. Viele Menschen erfroren in Häusern, die halbe Ruinen waren, viele verhungerten. Die zersprungenen Fensterscheiben wurden durch Pappe ersetzt und die Menschen, die noch Betten hatten, lagen nachts mit Mänteln darin.
Lucie fuhr hamstern aufs Land. Dort tauschte sie ihren alten Familienschmuck gegen Kartoffeln ein. Die Bauern seien reich geworden in diesen Zeiten, sagte sie und ich wusste, das Überleben ist in Notzeiten sicherer auf dem Lande, dort, wo Menschen ihre Kartoffeln selber pflanzen und Hühner ihnen Eier schenken.

Ich lernte aus den Erzählungen meiner Großmutter, dass Zeiten veränderlich sind. Sie war durch zwei Kriege gegangen, mitten in Berlin, hatte es erlebt, wie normale Zeiten von Zeiten der Not abgelöst wurden, die dann wieder in bessere Perioden übergingen.
Nichts wird so bleiben, wie es war und wie es ist. Es wird besser und schlechter werden, bergauf und wieder bergab gehen. Sicherheit gibt es nicht und am geschicktesten verhält sich, wer für sich selber zu sorgen gelernt hat. Und die, die auf dem Lande wohnen und einen Garten bewirtschaften, werden die größeren Überlebenschancen im Auf und Ab der Zeiten haben. Tief verankerte sich diese Botschaft in meinem Inneren. Später, das war klar, würde ich auf dem Lande leben, im großen Wald und dort einen Garten haben. Das wusste ich im Alter von fünf, sechs Jahren. Ich würde unabhängig sein, mich nicht benutzen lassen für irgendwelche Kriege und mich nicht aufopfern für die Geltungssucht irgendeines Herrschers. Ich würde mich im Wald verstecken und dort würde mich niemand finden, alle Zeiten hindurch.

Aber ich lernte noch etwas anderes. Nach dem Krieg wurde das gesamte Geld abgewertet. Die Ersparnisse meiner Großeltern, mit denen sie ihrer Tochter eine gute Ausbildung bezahlen wollten, waren über Nacht dahin. Das mühsam zusammengehaltene Geld war nichts mehr wert. Auch das grub sich mir tief ein.
Es ist sinnlos, Geld anzuhäufen, eine Materie, dessen Wert sich entsprechend den Interessen der Machthaber verhält. Auch Geld verhilft zu keiner Sicherheit, es ist lediglich für das gegenwärtige Leben nützlich.

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Kommentare zu diesem Text


 unangepasste (09.06.14)
Ich mag solche Familiengeschichten, insbesondere wenn sie zu einer Betrachtung des Ganzen und zu einer Einordnung führen. In meiner Familie sprach auch nur eine Großmutter über den Krieg - bis es ihr meine Mutter verbat, da ich als Kind Alpträume davon bekam. Später wich sie Fragen eher aus und erzählte kaum noch etwas von selbst.
(Kommentar korrigiert am 09.06.2014)

 Ganna meinte dazu am 09.06.14:
...das ist schade, ich glaube, dass solche Erzählungen aus dem eigenen Erleben, gleich ob in Kriegs- oder Friedenszeiten, sehr wichtig sind für das Verständnis der Menschen untereinander...Geschichte, die wir gelehrt bekommen bleibt immer etwas Äußeres, erst wenn sie mit den persönlichen Geschichten gefüllt wird, wird sie auch lebendig...

...ich bedaure auch, meine Oma nicht nach mehr gefragt zu haben...

 Jorge (09.06.14)
Ganna beleuchtet ruhig aber eindringlich die Schrecken des ersten und zweiten Weltkrieges.
Für künftige und heutige Generationen ist es sicher schwierig, durch die Schleier des Verschweigens klare Erinnerungen zu bewahren.
Für mich, dessen frühe Kindertage durch Luftschutzbunker, Hunger und Entbehrungen geprägt wurden, ist dieser Text besonders wichtig und merkenswert.
LG
Jorge

 Ganna antwortete darauf am 09.06.14:
Lieber Jorge, ich denke, meine Schilderung ist noch sehr sanft im Verhältnis zu dem, was andere erlebt haben...ich wurde ja erst danach geboren...was muss sich Dir im Gedächtnis eingegraben haben...

LG Ganna
janna (66)
(09.06.14)
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 Ganna schrieb daraufhin am 09.06.14:
Danke, liebe Janna, ich hatte nicht erwartet, dass Leser den Text als spannend empfinden...um so mehr freut mich Dein Kommentar.

...ich denke, das Erlebte war für viele so schrecklich, dass sie es einfach verdrängen mussten, um weiterleben zu können, anders kann ich es mir nicht erklären...und doch ist es ein Verlust, die Chancen für Verständnis und Aufarbeitung wurden vielfach nicht genutzt...zu wenig...

liebe Grüße
Ganna

 susidie (09.06.14)
Informativ, ohne Pathos aber doch sehr berührend geschrieben. Interessant auch die Beschreibung was sich festsetzte in einem Kind, das diese Zeit der Kriegs- bzw. Nachkriegsjahre hautnah erlebte. Welche Prägung davon ausging, selbst dann später im Wald zu leben, sich selbst versorgen zu können usw., was ist der Wert des Geldes in unserer Gesellschaft.
Ein sehr nachdenklicher Text, gerne gelesen.
Liebe Grüße von Su :)

 Ganna äußerte darauf am 09.06.14:
...darauf kommt es mir an bei dem Text, dass in einem sehr frühen Alter die Erzählungen der Großmutter Weichen für das Leben stellten...im Zusammenhang mit dem Gesehenen...

liebe Grüße von Ganna

 Regina (25.06.14)
So war es. vom Krieg wurde kaum gesprochen. Die Frauen erzählten, was sie unternahmen um zu übreleben und, bevor wir alt genug waren, die Großeltern genauer zu fragen, waren sie gestorben.
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