Schulgeschichten. Täuschungsversuch

Erzählung zum Thema Täuschung

von  EkkehartMittelberg

Ich vermute, dass auch Sie als Schüler einmal oder mehrmals bei Klassenarbeiten einen Täuschungsversuch unternommen haben, indem Sie zum Beispiel nach der simpelste Methode versucht haben, von Ihrem Nachbarn abzuschreiben oder diesem dazu verhalfen, von Ihnen abzuschreiben. Sie wissen so gut wie ich, dass es sehr raffinierte Verfahren gibt, in der Schule eine Leistung vorzutäuschen, die man nicht auf korrekte Weise erbracht hat, und man könnte sicher ein Buch über die Methoden schreiben, mit denen Lehrer getäuscht werden. Mir geht es bei meiner Erzählung aber weniger um die Raffinesse der Täuschung als um die schlimmen Folgen, die sie für Schüler haben kann.
Nach der Versetzung ins 10. Schuljahr hatte ich in den Sommerferien am Bau gearbeitet und mir durch das Tragen zu schwerer Lasten eine Verbiegung des Rückgrats zugezogen. Um diese zu korrigieren, musste ich ein Jahr lang in einem Gipsbett schlafen. Das gelang zunächst überhaupt nicht, und ich war während des Unterrichts übermüdet und unaufmerksam. Die Folge war, dass meine schulischen Leistungen erheblich nachließen und dass meine Versetzung gefährdet war. Von meiner vorletzten Klassenarbeit in Griechisch hing sehr viel ab, denn Griechisch war Hauptfach am humanistischen Gymnasium. Ich wusste, dass wir einen Text aus Homers Odyssee übersetzen mussten und hatte deswegen einige ausgewählte Stellen aus diesem Werk zuhause freiwillig ins Deutsche übertragen, von denen ich vermutete, dass sie Gegenstand der Klassenarbeit werden könnten. Ich hatte Glück. Tatsächlich wurde eine der mir bereits bekannten Passagen ausgewählt und ich wollte mit einem glücklichen Lächeln drauflos schreiben, weil ich keine Probleme in dem Text erkannte. Doch nach kurzer Zeit bat mich ein Klassenkamerad, der zwei Bänke vor mir saß und dessen Versetzung ebenfalls gefährdet war, flüsternd um Hilfe. Ich zischelte ihm die Übersetzung einiger kritischer Teststellen zu. Unser Täuschungsversuch wurde aber von dem Lehrer erkannt und wir wurden auf die Folgen eines weiteren Versuchs hingewiesen. Mein Kamerad flehte mich jedoch weiterhin um Hilfe an, ich konnte nicht widerstehen, schrieb ihm die komplette Übersetzung auf einen Zettel und versuchte, diesen an ihn weiterzuleiten. Der aufmerksame Lehrer erwischte uns wiederum, nahm uns die Hefte ab und bewertete unsere Arbeiten wegen Täuschungsversuchs mit „ungenügend (6)“.
Normalerweise wäre damit meine Nichtversetzung besiegelt gewesen. Ich konnte mich jedoch wegen meiner zuvor erwähnten zusätzlichen Übersetzungen im Mündlichen besonders auszeichnen und kannte bei der letzten entscheidenden Klassenarbeit noch einmal die ausgewählte Textstelle. Mein Klassenkamerad konnte die mangelhaften Leistungen im Griechischen durch besondere  Qualifikationen in anderen Fächern ausgleichen und wurde ebenfalls versetzt.
Nicht immer steht so etwas Wichtiges wie die Versetzung auf dem Spiel, dass Schüler moralische Bedenken wegen „Mogelns“ unterdrücken. Mir ist von keinem meiner Klassenkameraden bekannt, dass er sie hatte. Eher war es so, dass die geschicktesten Täuscher wegen ihrer Cleverness bewundert wurden. Wenn wir auf jeden Versuch zur Täuschung verzichteten – was sehr selten vorkam – dann nicht wegen schlechten Gewissens oder deswegen, weil wir uns wegen der oben beschriebenen drakonischen Strafe fürchteten, sondern weil wir den geforderten Lernstoff beherrschten.
Ich habe auch später als Lehrer nicht versucht,  Täuschungen meiner Schüler mit dem Hinweis auf moralisches Fehlverhalten zu verhindern. Ich habe sie über die Sanktionen, die der Erlass zu Täuschungsversuchen androhte, informiert und habe während der Klassenarbeiten versucht, jedes Mogeln im Ansatz zu unterbinden, sodass ich nicht in die Situation kam, Arbeiten wegen Täuschungsversuchs als ungenügend bezeichnen zu müssen. Dabei hatte ich Glück, denn aufgrund eigener Erfahrung  hätte ich mich schwer getan, als Strafender glaubwürdig zu wirken.

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Kommentare zu diesem Text

RedBalloon (58)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.05.18:
Merci, Ralf, ich vermute, dass du die allgemeine Unschuld verkörperst, die wohl niemand bestreiten wird.
LG
Ekki
RedBalloon (58) antwortete darauf am 22.05.18:
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 TrekanBelluvitsh (22.05.18)
Warum mogeln Schüler?
Nun, allen pädagogischen Absichten zum Trotz, gilt und galt in unserem Schulsystem: "Entscheidend is aufm Platz." Also: Die Note.

Natürlich betrügt der Schüler auch sich selbst. Aber oft ist der Stoff einer Klassenarbeit ja nur ein Stoff für sich, ohne Bezug zu dem, was in dem Fach sonst noch kommt. Warum also nicht mogeln? Man bekommt eine gute Note - dadurch steht man selbst gut da, der Lehrer und auch die Eltern! - und danach juckt es niemanden mehr.

Und wenn man im Beruf erfolgreich vorankommen, ist mogeln dann sogar erlaubt. Ganz ehrlich: Dann heißt mogeln nämlich "Assistent".
;)

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.05.18:
Spassibo, Trekan, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, denn es gibt in puncto "mogeln" bei Klassenarbeiten ein komplicenhaftes Einverständnis, mit dem alle gut dastehen.
Sätzer (77)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 22.05.18:
Ja, Uwe, die Furcht vor dem Versagen ist allgemein, und das ist wohl der Grund, weshalb man Täuschungsversuchen in der Schule allgemein mit verzeihendem Verständnis begegnet.
LG
Ekki
matwildast (37)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 23.05.18:
Merci, Mati, meine Mutter war sehr leistungsorientiert und deswegen erfuhr ich von ihr keinen Trost, sondern das Verbot aller Ablenkungen von der Konzentration auf die Schule.

 TassoTuwas (22.05.18)
Hallo Ekki,
die Leistungsgesellschaft ließ schon damals grüßen.
Es wäre interessant zu erfahren wie groß, oder besser wie klein, die Zahl der Schüler ist, die nie versucht haben bei Klassenarbeiten ihr Wissen trickreich zu schönen!
Herzliche Grüße
TT
PS. Scheuermann, Gipsbett, Folter!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Merci, Tasso, die Schule der 50er Jahre war konsequenter Spiegel der Leistungsgesellschaft. Die Rate der Täuschungen bei Klassenarbeiten war auch deswegen sehr hoch, weil die Schüler mit allen Mitteln versuchten, der harten Auslese entgegenzuwirken.
Herzliche Grüße
Ekki

 loslosch (22.05.18)
das ruft in mir erinnerungen wach.

mein schüler-nachbar vor 60 jahren war im griechischen noch schwächer als ich, eigentlich glatt 5. er schrieb bei mir ab wie ein weltmeister, bekam dann note 3; ich aber eine vier. wie denn das? vennbrocks hatte zwar alle meine fehler übernommen, StR jüttner aber die meisten übersehen, bei mir (natürlich) alle gefunden.

venni flehte mich an, die "übersehenen" fehler nicht anzuzeigen. hätte ich das getan, wäre ich in der klasse "moralisch" unten durch gewesen. an den noten hätte es nichts geändert, denn jüttner hatte ja meine arbeit formal korrekt benotet. zig jahre später fiel mir ein weiteres argument ein. lehrer jü übersah beim nachwuchs von hausarzt, kohlehändler, vermessungsingenieur usw. gezielt fehler. und so wäre mir eine "beschwerde" gewaltig auf die füße gefallen.

siehe da, auch lehrer mogeln manchmal.

Kommentar geändert am 22.05.2018 um 18:56 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Danke, es ist sehr traurig, aber wohl nicht zu leugnen, dass es Lehrer gibt, die wegen kleiner Vorteile bestimmte Schüler bei den Korrekturen begünstigen. Solche Fälle werden meistens totgeschwiegen, weil die Nachweise dafür schwierig sind.

 AZU20 (22.05.18)
Ja, ich habe auch kräftig gemogelt und als Lehrer später eher weggesehen, wenn die Mogelei nicht zu drastisch war. Bei einigen Jahresarbeiten in Biologie war es allerdings zu offensichtlich, dass sie von mir bekannten Quellen abgeschrieben waren. Da hatte ich keine Wahl. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Danke, Armin, es ist bekannt, dass einige Kollegen bei Täuschungsversuchen besonders hart durchgreifen. Man wird leider nicht erfahren, ob sie damit eigenes Verhalten kompensieren. LG

 GastIltis (22.05.18)
Hallo Ecki, eine Geschichte, die einen Charakter offenlegt. Offen wie ein Klassenbuch vor der ersten Stunde. Deinen Charakter. Eine feine Geschichte, die zeigt, dass man das Leben mit ordentlichen Mitteln, quasi mit Stil, meistern kann. Hat mir zugesagt. LG von Gil.

 LotharAtzert meinte dazu am 22.05.18:
Naja, ob das was offen legt, oder man aus Kalkül offen erscheinen will, steht noch mal auf einem anderen Spickzettel, werter GastIltis. Womit ich nichts unterstellen, nur differenzieren möchte.
LG
L.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Merci, Giltis und Lothar, inwieweit es sich bei Erzählungen wie dieser um kalkulierte Offenheit handelt oder nicht, kann nur das Empfinden des Lesers entscheiden. Ich versuche mich zurückzuhalten.

 Dieter_Rotmund (22.05.18)
Interessanter finde ich das moralische Dilemma, dass Du nicht thematisiert hast: Einerseits will man sich durch Täuschungsversuche nicht gefähren, andererseits will man dem guten Freund helfen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Danke Dieter, nur sehr Leichtsinnige werden diesen Konflikt nicht wahrnehmen.

 Habakuk (22.05.18)
Du hast hoffentlich nicht gedacht, ich würde deinen Text aus dem Auge verlieren. Ich verliere nie was aus dem Auge. Zum Glück stellt sich mir bei dem Text keine Frage. Denn heute entfallen mir die Fragen, und das endet dann in einer Endlosschleife.
Ich spare mir auch das übliche Blabla und schreibe mein Blabla. Könnte jetzt natürlich anführen, dass ich in Griechisch, Englisch, Französisch, Spanisch nie gemogelt habe, nur in Latein, Russisch, Esperanto, Arabisch und Hindi.
Zurück zum Text. Falls ich mal etwas ironisch meine, zeige ich es extra an. Diese Gnade widerfährt nicht jedem.

Bei Ekkis Erzählungen weiß man immer, was man bekommt. Ekki ist halt noch von der alte Schule, darf ich ja so sagen, weiß eh jeder, wie alt wir beiden sind. Seine Prosatexte sind unverkennbar. Fast hätte ich Ekki-Stil gesagt, was ich nicht im Geringsten abwertend meine. Er bevorzugt einen getragen, gravitätischen Sprachstil, stets auf den Punkt gebracht, sachlich, korrekt in der Ausdrucksweise, schwelgt auch niemals in Adjektiven oder Adverbien, Stil und Sprache wirken kurz, knapp, prägnant, ohne in den Stakkato-Stil zu verfallen oder parataktisch bzw. hypotaktisch zu werden. Jeder Satz ist stilistisch ausgefeilt, zugespitzt und pointiert. Eine übertriebene Fülle von Stilmitteln wird vermieden. Ekki ist ein literarischer Pragmatiker, der das tut, was nötig ist und funktioniert, will sagen, wo ich liebend gern daneben greife, und sei’s in die Scheiße, hat er alles in der Hand. Er ist halt kein Risikosportler. (Ironie, halb)
Man kann sich bei seinen Prosatexten also beruhigt eine Kiste Bier daneben stellen. Wenn die Kiste leer ist, ist der Text zumeist auch zu Ende. (Ironie)
Last, not least, seine Texte sind immer grammatisch und grammatikalisch unverschämt korrekt. Nun ja, Lehrer halt.
Ich könnte jetzt noch 100 Sachen anfügen, die ich besser für mich behalte (Ironie), aber zum Ende noch eine Bemerkung. Mein Text gestern hat dir nicht gefallen, hast aber wegen der Wortakrobatik eine Empfehlung ausgesprochen. Was ich von Empfehlungen halte, sag ich jetzt nicht. Ein guter Kommentar ist alles. Mit Wortakrobatik kann der Text nicht dienen. Muss er auch nicht.
Diesen Kommentar könnte ich in Zukunft eigentlich unter jeden deiner Texte schreiben. Wehe, einer klaut was davon. Dann werde ich ungemütlich. Und was das bedeutet, ...
Ich drücke jetzt mal dieses ominöse „Gefällt mir“, weil du das gestern auch gemacht hast. (Ironie) Ein wenig zumindest.
In dem Sinne.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Lieber Habakuk,
nur wenige erhalten solch amüsante, mit feiner Ironie spielende und dazu noch sachlich weitgehend zutreffende Kommentare wie diesen. Grazie especiale.
Hilde (62)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Liebe Hilde,
ich danke dir selbstverständlich für deine Empfehlung und Favorisierung. Noch wichtiger ist mir , dass du die Klarheit und Verlässlichkeit meines Stils herausstellst. Ich weiß, dass es in der Dichtung die Koexistenz unterschiedlicher Stile geben muss und freue mich besonders, dass du, die auch die verschlüsselte Diktion beherrschst, meine Art zu schreiben würdigst.
Liebe Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Wa Bash, ich danke besonders für deinen Hinweis, dass für manche das Mogeln keine Frage deer freien Entscheidung ist, sondern dass sie es nötig haben.
Sabira (58)
(22.05.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.05.18:
Grazie, liebe Sabira, du lenkst noch einmal darauf zurück, wie Lehrer mit dem Mogeln umgehen sollten. Je besser sie ihre Klassenarbeiten vorbereiten, desto weniger verführen sie ihre Schüler zum Mogeln, weil sie sich den Anforderungen gewachsen fühlen.
LG
Ekki

 harzgebirgler (08.06.21)
zu prüfungen hat kleist einst was geschrieben -
es ist mir in erinnerung geblieben
und empfiehlt sich bis heute zu lesen für jeden:
"Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden".

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.06.21:
Oh ja, Henning, diesen Aufsatz kenne ich und ich muss sagen, ich habe es oft genau so erlebt, wie von Kleist beschrieben.

LG
Ekki
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