Ich verstehe immer nur Bahnhof

Kurzprosa zum Thema Traum/ Träume

von  Moja

Auf der Rückfahrt, von einem Vorortbahnhof in Russland, ist die Verbindung nicht so glücklich. Wir warten seit Stunden. Kein Mensch auf dem Bahnsteig. Es herrscht ausgesprochen schönes Wetter an diesem Tag. Wind weht, Bäume rauschen auf. Ein Zug fährt ein. Der Zugführer, ein blonder Äthiopier, steigt kurz aus, wirft einen flüchtigen Blick auf das Abstellgleis, dann fährt der leere Zug Richtung Moskau ab. Was ihn wohl hierher verschlug, ob er Familie, Frau und Kinder hat, überlege ich.

Jetzt fällt mein Blick auf das Abstellgleis, auf den Zug mit den offenen Türen. Wir schlendern hin und steigen ein. Der Zugkorridor, übrigens, ist eine Erfahrung für sich. Er ist mindestens drei Meter breit. Man könnte Betten aufstellen. Da treten aus einer Zugtoilette zwei Männer heraus. Sie schenken uns keine Beachtung. Und wir gehen einfach weiter. Überall leere Abteile. Zwei Waggons weiter verschwinden zwei Männer hastig auf der Toilette. Anscheinend kümmert das niemand. Ich hatte mehr Kontrolle erwartet. Überdrüssig steigen wir wieder aus.

Am Ende des Bahnsteigs hinter einem Tresen sehe ich sie stehen. Zwei Bahnbeamte in Uniform mit Schirmmützen. Sie wirken freundlich. Mir fällt kein Brocken Russisch ein, also spreche ich sie auf Englisch an. „Are you in pension?“, fragt der Beamte zurück. Sehen wir etwa wie Rentner aus? „Yes, we are retired!“, gebe ich verstimmt zu. Er lächelt erfreut. In der Bahnhofshalle, er zeigt nach unten, würden wir eine Physication erhalten. Ich verstehe nicht, was soll das sein? „The train goes to Hamburg“, sagt er. „That‘s okay!“, sage ich froh. Aber auf jede Frage, die ich dann noch stelle, zucken sie mit den Schultern. Kein Fahrplan, keine Anzeigetafel, mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Fährt überhaupt ein Zug nach Berlin? „Thank you very much!“, murmele ich nachdenklich. Und höflich, wie ich nun mal bin, drehe ich mich noch einmal um und rufe ihnen zu: „Большое спасибо, до свидания!“ – Ich erwache in Berlin, ungelogen, am 17. Mai.

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Kommentare zu diesem Text

Fisch (55)
(21.05.20)
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 Moja meinte dazu am 21.05.20:
Ich gestehe: Der Äthiopier war platinblond, raspelkurzes Haar - im Traum weiß ich so etwas einfach!
Ob ER aber nun eine Sie war, zumal ich am 17.5. erwachte, wenn auch gewiss nicht 1994, dass überlasse ich russischen Fischen und Bahnhofsvorstehern vom Abstellgleis...

Winke, winke!
Moja
Fisch (55) antwortete darauf am 21.05.20:
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 Moja schrieb daraufhin am 21.05.20:
Schon überzeugt!
Sollte ich mir einen Angeln?

 EkkehartMittelberg (21.05.20)
hallo Moja,
es ist das Wesen von Träumen, dass man oft nur Bahnhof versteht, aber manchmal viel mehr und deswegen möchte ich Traumreisen nicht missen.
Liebe Grüße
Ekki
Sätzer (77) äußerte darauf am 21.05.20:
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 Moja ergänzte dazu am 21.05.20:
Danke, Ekki, eine Traumreise ist eben auch eine Reise im Kopf.

Ich grüße herzlich zurück - nun wieder aus Berlin...
- und Sätzer natürlich auch!

Moja

 Graeculus (21.05.20)
Viele fremde Länder tauchen auf in Deinen Träumen. Vermutlich paßt das zu Deinem Leben.

 Moja meinte dazu am 22.05.20:
Tatsächlich bin ich viel gereist und lebte in anderen Ländern, vermutlich spiegelt das Unterbewusstsein im Traum auch die innerliche Bewegung wieder.

Lieben Gruß,
Moja

 IngeWrobel (21.05.20)
Das ist für mich eindeutig ein "Corona"-Traum. Ich könnte jetzt einzelne Wörter herauspicken, die für mich einen Bezug haben ... das ist aber für niemanden wichtig, finde ich. Einzig das positive Ende dieses Trips: Manche Auflagen wurden ja ab 17. Mai gelockert.
Ein zweiter Gedankenstrang wäre möglich, der den ersten nicht ausschließt, sondern parallel läuft: § 175, die zwei Männer, die auf die Toilette verschwinden, HIV = Virus → Corona = Virus.
Ich hatte kürzlich einen Corona-Traum mit zwei Menschengruppen: eine Gruppe virusfrei, die andere infiziert. Ich stand dazwischen, glaubte, gesund zu sein aber war dann plötzlich doch krank. Zum Glück wachte ich an der Stelle auf. Auch Du bist ja aus dem Wirrwarr zum Glück wieder heil zuhause angekommen.
Corona beschäftigt uns – ob wir das wollen oder runterspielen. Unser Unterbewusstsein hilft uns mit den Träumen, besser klar zu kommen.
Liebe Grüße
und sanfte Träume!
Inge

 Moja meinte dazu am 22.05.20:
Darauf wäre ich nicht gekommen, liebe Inge, obwohl Corona sich langsam auch in meine Träume einschleicht.

Im Traum dachte ich über Tabuisierung von Homosexualität in Russland nach, zumindest auf dem "Abstellgleis" waren die Männer keinen Repressalien ausgesetzt. Erst beim Erwachen stellte ich den Bezug zum Datum und dem § 175 her - und wunderte mich, dass mich dieses Thema beschäftigte.

Am meisten beschäftigte mich die Frage, was eine "physication" ist, auf Deutsch: Physik. Da verstand ich nur - Bahnhof!
Weiter geht’s ganz real, da bin ich froh drüber!

Herzliche Grüße an Dich,
Moja

 ViktorVanHynthersin (22.05.20)
Freud hat heute seinen Brückentag, deswegen nur ein: "Bol'shoye spasibo, do svidaniya!“
Herzlichst
Viktor

 Moja meinte dazu am 22.05.20:
Eto ochen' khorosho!

Priwjet,
Moja

 BeBa (31.05.20)
Hier fiele mir auch kein Wörtchen Russisch mehr ein, obwohl ich mir all das damals im Russisch-Leistungskurs so intensiv "eingepaukt" habe.

Sehr gern gelesen,
BeBa

 Moja meinte dazu am 31.05.20:
Sprachen, die man nicht nutzt, verflüchtigen sich schnell - so kommt es mir vor.

Danke, BeBa!

Moja grüßt
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