Wenn ein Michel H. vor der Tür erscheint

Geschichte zum Thema Mitleid

von  eiskimo

Vor unserer Tür, da campiert Michel Houellebecq. Das muss er sein: Diese hagere Figur, die langen Haare, schon etwas schütter, und die ganze Nummer, die er da abgibt – nee, das ist er!

Er fährt einen alten Peugeot 206, und ganz offensichtlich sucht er den Stoff für einen neuen Roman. Undercover.

Den silberfarbenen Kleinwagen, den hat er bewusst halb in unserer Einfahrt gestellt. Die ist zur Straße hin leicht abschüssig. Er ist da sehr umständlich und mit laut aufheulendem Motor rückwärts hochgefahren. Wir konnten ihn weder überhören noch übersehen.

Dann hat er aus unserem Vorgarten einen dicken Stein genommen und als Bremsklotz vor das uns zugewandte Hinterrad gelegt. Danach ging er zur verdeckten Seite seines Autos, und dann hörten wir es plätschern. Ganz schön frech, dachte ich.

Wieder zurück auf unserer Seite, öffnete der ungenierte Pinkler die hintere Tür und holte einen Wasserkanister und ein Handtuch heraus. Damit hat er sich ausgiebig die Hände gewaschen und abgetrocknet.

Im Wageninneren erkannten wir Hemden und Anzugjacke, die im Fond an der Seitentür aufgehängt waren. Auf dem Sitz davor lag ein Koffer, daneben eine Kiste mit Töpfen und einem Becher.

Houellebecq schlich dann um sein Auto, öffnete die Fahrertür, holte eine größere Brieftasche hervor und ging dann zum Dorf.

Die Türen seines Peugeots hatte er offen gelassen. Gelegenheit, dass ich näher an das Auto herangehen und es genauer in Augenschein nehmen konnte. Alles sehr ordentlich und aufgeräumt. Da war kein Junkie oder verwahrloster Späthippie unterwegs – das hatte Stil.

Houellebecq kam zurück. Er war beim Bäcker gewesen und brachte ein Paket mit Kuchen ans Auto. Er öffnete die Kofferarumhaube und legte den Kuchen sorgfältig auf die Ablage. Dann holte er in langsamen, aber sehr zielgerichteten Gesten Kochtopf, Wasserkanister und Campinggas-Kocher aus dem Auto, baute alles in Ruhe daneben auf und machte dann Wasser heiß.

Mit dem kochendem Wasser brühte er sich dann einen Kaffee auf, den er neben seinen Kuchen stellte. Dann suchte er an der hinteren Seitentür noch ein Löffelchen, mit dem er dann seinen Kaffee vorsichtig umrührte. Es war bestes Kino, aber Doku und Slow Motion.

„Sollen wir ihm nicht unser Gartentischchen und einen Stuhl anbieten?“ fragte mich meine Frau, die kurz auf diese merkwürdige Szenerie geschaut hatte.

„Nix da,“ zischte ich, „da steht Houellebecq und will uns in seinen nächsten Roman hineinlocken. Ha, schafft er aber nicht!“

Und dann machte ich meiner Frau klar, dass der Franzose sicher noch mehr an Provokationen für uns auf Lager hätte – die solle er ruhig erst mal darbieten.

Wir mussten nicht lange warten, denn unser Freund beendete sein Kaffee-Päuschen, indem er alle Requisiten nicht nur ausgiebig spülte, sondern auch der Reihe nach wieder in sein Auto räumte. Ich hatte mir deweil einen Stuhl geholt, um diesen Zeitlupen-Film auch weiter entspannt verfolgen zu können.

Aber was heißt hier entspannt: Houellebecq war nun offenbar gestärkt genug, um die nächste Stufe seiner Exhibition zu zünden. Er zog sich aus.

In aller Gemütsruhe holte er die Fußmatte aus dem Beifahrer-Abteil, streifte seine Schuhe ab, stellte erst sich und dann die Schuhe auf die Matte, ließ seelenruhig seine Hosen runter, zeigte uns ausgiebig seine gepunktete Boxershorts, um dann im Auto umständlich sein neues Beinkleid herauszukramen.

Was soll ich sagen? Ein Mickermännchen, dieser Houlebecq, fürwahr kein erotisierender Anblick.

„Wenn er blank zieht, rufst du die Polizei!“ forderte meine Frau, die sich Kopf schüttelnd neben mich gesellt hatte.

„Das will er doch nur!“ entgegnete ich. „Der will uns zu irgendwelchen spießigen Reaktionen verleiten, um Stoff zu haben. Ausweitung der Kampfzone, sag ich nur. Wahrscheinlich geht es jetzt um Armut, um Leute, die in ihren Autos leben müssen, weil die Mieten zu hoch sind – und wir hier sollen jetzt authentisches Material liefern.“

„Nicht, dass er noch irgendwo eine Kamera laufen hat,“ unkte meine Frau. „Dann sieht man uns morgen auf seinem Blog.“

Houellebecq wechselte derweil auch sein Hemd, nicht ohne die abgelegten Kleidungsstücke sauber zusammengelegt zu haben, natürlich provozierend langsam, wobei er sich jedesmal tief in seine Kleinwagen versenken musste.

Der Hinweis auf eine mögliche Kamera hatte mich etwas fuchsig werden lassen – das wollte ich doch genauer wissen.

Also verließ ich kurzentschlossen meinen Beobachterposten und ging mutig auf unserem Monsieur H. zu. Der hatte inzwischen seine frischen Klamotten an und stand neben seinem Peugeot an der Beifahrertür. Er bückte sich, um im Spiegel den Sitz seiner Kopfbedeckung zu justieren, ein unförmiger Filzhut, den er sicher vier, fünf Mal neu in Position brachte. Dass ich inzwischen neben ihm stand, bemerkte er gar nicht.

Sollte ich ihn bei seiner minutiösen Anprobe aufschrecken? Ich zögerte, war mein Gegenüber doch schon weit über Sechzig. Nicht dass ich ihn jetzt zu Tode erschreckte. Das fehlte noch, dass mir dieser schräge Vogel da in seine Elementarteilchen zerfiel – just vor unserer Haustür.

„Den Stein lege ich morgen wieder zurück!“ hörte ich ihn plötzlich sagen. Er hatte mich wohl im Spiegel gesehen. „Mein Auto springt nicht an, darum musste ich es hier auf dieser Schräge abstellen.Es ist über sechzehn Jahre alt, Anlasserprobleme. Das haben wir Menschen ja auch schon mal, haha. Jedenfalls kann ich im zweiten Gang dann den Motor starten.

Ich war perplex. Ich war umso perplexer, als ich seinen Mund sah. Die Zahnlücke. Nein, dieser Mann war nicht Houellebecq. So ein Gebiss, das tut sich keiner freiwillig an, auch nicht undercover. Schade, dachte ich nur. Die Möglichkeit einer Insel war damit vertan.

Aber sollte ich dem Besucher nun gleich die Unterwerfung androhen, nach dem Motto „Räumen Sie sofort die Hofeinfahrt – ich will vor meinem Haus keine fahrenden Leute?“

Nein, das konnte ich nicht. Die Roman-Idee von den Menschen, die tatsächlich in ihren Autos wohnen und auf Parkplätzen nächtigen, die war mir noch präsent. Und wenn der gute Mann da sich so eingerichtet hatte mit dieser Ordnung auf engstem Raum, dann Chapeau!

So war unser Besucher auch noch abends da. Er hatte seinen Dorfbesuch im neuem Outfit beendet. Wir sahen ihn dann bei Dunkelheit mit der Stirnlampe an seinem Auto hantieren. Pedantisches Aufräumen. Die Türen schlug er mit sanftem Druck und kaum hörbar zu. Fast eine Art Film Noir.

Als wir am nächsten Morgen aus dem Fenster schauten, war der Peugeot weg. Den Stein hatte unser Besucher brav ins Beet zurückgelegt.
Bon voyage, Monsieur Houellebecq!



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (22.08.22, 15:13)
Einen (Spiel-)Film zum Thema gibt es schon, er heißt Nomadland.

 eiskimo meinte dazu am 22.08.22 um 16:45:
Kenn ich leider nicht, spielt sicher in den USA, da wohnen wohl Tausende in Ihren Autos....

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 22.08.22 um 16:55:
Der lief über Wochen und Monate hierzulande im Kino, bis etwa Ende Juli diesen Jahres.

 Graeculus (22.08.22, 15:15)
Zuzutrauen wär's dem Houellebecq ja. Aber daß man ihn gerade an seinen Zähnen erkennt, fast wie die Polizei bei einer rätselhaften Leiche!
Ich hätte ja aufs Rauchen geachtet und wie er die Zigarette dabei hält.

Unterhaltsam!

 eiskimo schrieb daraufhin am 22.08.22 um 16:04:
Das mit dem Rauchen wäre ein wichtiges Beweismittel gewesen. Aber bei der ganzen Performance haben wir gar nicht mehr vor Augen gehabt, dass H. ja Kettenraucher ist.
Wir hätten ihn eigentlich da schon riechen müssen...

 Quoth (26.08.22, 12:41)
Ist doch klar, wer das war - zumal er ja Deutsch sprach: Jürgen Vogel! Gruß Quoth
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