OSKAR - GEZEUGT VON NAZIVATER IM ZWEITEN WELTKRIEG

Erzählung zum Thema Achtung/Missachtung

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  GROßE ERZÄHLUNGEN

Vorwort

 

Im Juli 2012 wäre Oskar 71 Jahre alt geworden. Ich traf ihn an mehreren Sonntagen des vergangenen Sommers im Garten der Seniorenresidenz Villa Ahorn, an einem Nebenlauf der Alster gelegen. Altersheim dürfen derartige Bewahranstalten heute nicht mehr genannt werden.

Er erzählte mir Ausschnitte aus seinem Leben und ich habe seine ungewöhnliche Geschichte aufgeschrieben. Zu den ersten sieben Jahren konnte er nicht viel sagen, da er davon kaum mehr etwas wusste. Ich habe bei einer noch lebenden älteren Cousine recherchiert, denn die ersten Lebensjahre waren für seine spätere Entwicklung, wie für jeden Menschen, entscheidend wichtig. Nach dem Treffen mit dieser Dame ging ich, bevor ich den Text in den PC tippte, durch meine Wohnung und strich mit den Händen über all die unbenutzten Gegenstände, die einmal so etwas wie ein neues Leben möglich erscheinen ließen. Diese körperlichen Dinge waren mir zum Zeitpunkt des Erwerbes jeweils sehr wichtig, da ich mir am besten über Anschauen und Ertasten sinnliche Eindrücke verschaffen konnte. Ich wurde vor meinen Besuchen von Oskar immer wieder von einer Mischung aus Melancholie und Erwartung erfasst, so als würde die Gegenwart meines Betastens der Gegenstände und des bevorstehenden Treffens auf einen kurzen Augenblick zusammenschrumpfen, getrennt vom Vergangenen und Zukünftigen.


 

Inhaltsverzeichnis

 

1.         Oskars Geburt und die ersten Jahre

2.         Vom ersten Treffen – Der harte Vater

3.         Vom zweiten Treffen – Elvira, die erste Liebe

4.         Vom dritten Treffen – Trennung von Gianna

5.         Vom vierten Treffen – Sinnliche Genüsse mit Marie

6.         Vom fünften Treffen – Teufel Alkohol

7.         Vom sechsten Treffen – Sauforgie mit Hannes und die Frauen

8.         Vom siebten Treffen – Ehe mit Annette

9.         Vom achten Treffen – Ehekrise

10.     Vom neunten Treffen – Familientragödie und eine unerwartete Begegnung

11.     Vom zehnten Treffen – Einsamkeit

12.     Exitus

 


1. Oskars Geburt und die ersten Jahre

 

Am 22. Juni 1941 wurde die Sowjetunion von Nazideutschland angegriffen. Das Reich wollte mehr Lebensraum für ihre Arier schaffen.

 

Oskar wurde Ende 1940, im Zweiten Weltkrieg als Fötus wild herumgeschleudert. Seine Mutter lebte als Tochter eines Gutsbesitzers, der auch Bürgermeister eines Dorfes in der Nordheide war. Sie war sehr privilegiert und konnte sich zweier Pferde des Gutshofes für Ausritte in die Wälder bedienen. Nach der Heirat lebte sie mit ihrem Ehemann im feudalen Gutshaus. Sie versuchte ihren Fötus in wilden Ritten abzutreiben, denn sie wollte keine Kinder, schon gar nicht in dieser Nazizeit. Seine Nabelschnur wickelte sich wegen der Drehungen im Leib der Mutter zweimal um den Hals und drohte ihn zu strangulieren. Mit beginnendem Gehirnwachstum im siebten Monat entwickelte sich vermutlich schon im Mutterleib ein unangenehmes Angstgefühl, so dass Oskar den achten und neunten Monat seines pränatalen Daseins einfach unbewusst ausblendete, um zu überleben, was er dann mit einem Urschrei bestätigte. Wahrscheinlich führte das auch dazu, dass er im späteren Leben physisch kämpfen lernte und ein begnadeter Sportler wurde, denn die mühsame Arbeit durch den engen Geburtskanal unter diesen Bedingungen hatte erste Prägungen hinterlassen. Blau angelaufen betrat er 1941 die Welt, allerdings mit einer gewissen Urangst im Gepäck.

Die Erziehung wurde vor allem vom Vater, der eigentlich zehn Kinder den Nazis zur Verfügung stellen wollte, sehr streng reglementiert. Schläge, für die er sich zuständig erklärte, waren bei Regelverletzungen an der Tagesordnung. Mutter hielt sich da heraus. Wenigstens sein einziger Sohn sollte ein brauchbares Mitglied im Sinne des Nationalsozialismus werden. Mutter war von ihrer Grundhaltung eher gegen die Nazis eingestellt und wollte keine weiteren Kinder für dieses Pack in die Welt setzen.

 

 

2. Vom ersten Treffen – Der harte Vater

 

1948 spitzten sich die alliierten Gegensätze nach dem Kriegsende in der deutschen Frage zu, eine Währungsreform und die Berlin-Blockade bestimmten das politische Geschehen. Der Schrecken wurde in den Familien weitgehend verdrängt. Man war mit der Beschaffung von Arbeit, Nahrung und Brennmaterial ausgelastet.

Oskars Vater arbeitete inzwischen für wenig Geld als Chirurg im evangelischen Krankenhaus der naheliegenden Kreisstadt. Vor dem Essen wurde immer gebetet und dann sollte schweigend gespeist werden. So auch am Donnerstag, dem siebten Geburtstag seines immer noch einzigen Sohnes. Der Beginn seines achten Lebensjahres blieb besonders intensiv in Oskars Erinnerung haften. Nach dem Gebet wurde zunächst wortlos gegessen, bis Vater das Schweigen brach:
„Oskar, setz´ dich ordentlich hin!“
Oskar richtete sich auf. Etwas später wieder der Vater:
„Oskar schmatz nicht!“, und so ging das weiter:
„Oskar halt´ die Gabel nicht wie eine Schaufel, … klappere nicht mit dem Messer“.
Die Mutter saß stillschweigend mit gesenkten Augen und genervtem Gesichtsausdruck am Tisch, wagte ihren Mann nicht anzuschauen und starrte auf ihren Teller.
Nach einiger Zeit fragte Oskar ganz ruhig:
„Vater, warum schmatzt du denn jetzt und lehnst dich zurück auf deinem Stuhl?“
„Unverschämter Bengel!“, schreit der Vater und knallt sein Besteck auf den Teller.
„Du kommst nach dem Essen in mein Arbeitszimmer“.
Mutter sagte nichts, wusste aber, dass es Prügel setzen werde.
Es gab 30 Rohrstockhiebe auf den blanken Po, die Oskar ohne einen Laut ertrug. Er fasste nach dem 21. Schlageinen weitgehenden Beschluss, wollte in Zukunft nur noch jeden siebten Schlag wahrnehmen und die anderen ignorieren. So konnte er die weiteren Schläge bis 30, dem Standard seines Vaters, weitgehend ausblenden. Zurück in seinem Zimmer beschloss er nur noch jede siebte unangenehme Frage zu beantworten, nur jede siebte Bitte zu erfüllen und nur jede siebte Rüge zu ertragen. Und er wollte nur noch jeden siebten Buchstaben seines Namens benutzen. Doch da dann lediglich der Buchstabe O blieb, machte er hier eine Ausnahme und nannte sich fortan Os, die ersten beiden Buchstaben seines Vornamens. Vater hatte ihm zur weiteren Strafe aufgegeben, zehnmal alle zehn Gebote sauber aufzuschreiben. Os konnte dank des Trainings seiner Eltern schon vor seiner Einschulung fast fehlerfrei schreiben. Doch auch in diesem Fall beschloss er lediglich das erste und das achte Gebot, ein erstes und ein achtes Mal zu Papier zu bringen und schrieb ohne Fehler, denn die Gebote hingen jederzeit sichtbar auf einer Tafel in der Küche an der Wand:

1. Gebot: Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben
8. Gebot: Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Vater holte den Zettel am Abend ab und schimpfte:
„Was soll das? Ich hatte dir aufgetragen zehnmal alle zehn Gebote aufzuschreiben. Heute hast du noch Geburtstag, aber dir werd´ ich´s schon zeigen. Morgen sprechen wir uns“.

Der zweite Tag des achten Lebensjahres begann nach der Schule mit einer Standpauke seines Vaters nach dem schweigend verbrachten Mittagessen. Os ließ wie geplant nur jeden siebten Satz in sich hinein. Die anderen schaltete er auf Durchgang, zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Bis Sonntagabend saß er seinen Hausarrest ab und ging Montag wie gewohnt zur Schule, in der er sich am wohlsten fühlte. Vater wurde am Ende des Monats kurzfristig einberufen und musste an die neu aufgemachte Ostfront.

Os Vater war aus dem Russlandfeldzug, in dem er als Stabsarzt im Feldlazarett operierte, erst nach längerer Gefangenschaft zurückgekommen und litt an den schwerwiegenden Folgen seiner Verletzungen, was dann zu seinem frühen plötzlich eintretenden Tod führte.
Die alleinerziehende Mutter half bei der Wiederinbetriebnahme der Schule in ihrem Dorf und arbeitete wieder in ihrem erlernten Beruf als Grundschullehrerin. Der Tod des Ehemannes hatte sie nicht sonders berührt, schien sie eher zu erleichtern. Ihre materielle Situation war dank ererbter Vermögen von ihren verstorbenen Eltern erträglich. Das Gutshaus musste sie zwar verkaufen, da sie es nicht erhalten und bewirtschaften konnte, aber die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial klappte zufriedenstellend.
Os erbrachte in der Schule nur sehr mäßige Leistungen im Rechnen und Schreiben. Ihn interessierte vor allem der Kunstunterricht. Seine Mutter beschloss deshalb den Jungen nach der Grundschule in die gerade neu gegründete Waldorfschule in Hamburg Nienstedten einzuschulen. Dort fühlte der Junge sich blendend, obwohl er einen langen Anfahrtsweg mit Bus und Bahn hatte. Seine kreativen Fähigkeiten wurden durch das Rudolf-Steiner-Konzept hervorragend gefördert.

 

 

 

 

3. Vom zweiten Treffen – Elvira, die erste Liebe

 

1955 endete die Besatzungszeit in der DDR und der BRD. Gleichzeitig wurden beide Länder mit der Gründung des Warschauer Paktes bzw. der Aufnahme in die NATO fest in ihre Blöcke eingebunden. Bundeskanzler Konrad Adenauer erreichte auf seiner Moskaureise die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion und die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen. Gleichzeitig schloss seine Regierung jedoch die Aufnahme von Beziehungen zur DDR mit der Hallstein-Doktrin aus. Die Verdrängungsjahre der Kriegsgräuel hielten an. Viele Altnazis saßen immer noch oder schon wieder auf wichtigen Posten.

Die Pubertät hatte Os jetzt als vierzehnjähriger Frühreifer überstanden. Damit entsprach er auch unbewusst der Theorie Steiners, die besagte, dass im Leben eines Menschen alle sieben Jahre ein Umbruch stattfindet. Sein Sieben-Regel-Schema behielt er unabhängig davon bei, denn das Gehirn hatte diese Struktur so verinnerlicht, dass sie nicht mehr veränderbar erschien. Von Vorteil war, dass er nach wie vor die meisten negativen Ereignisse, die natürlich nicht ausblieben, einfach ausblenden konnte.
Seine Hirnanhangdrüse sendete regelmäßig und zuverlässig hormonelle Signale in die dafür zuständigen Organe, um Testosteron ins Blut zu transferieren. Am Morgen des ersten Tages der Sommerferien brachte Mutter ihm ausnahmsweise einen Becher Kakao ans Bett.
„Alles Gute zum Ferienbeginn“, sagte sie und weiter „jetzt bist du groß und kannst vernünftig werden“.
In ihrer Stimme lag eine kaum wahrnehmbare Schärfe, die ihm nicht entging und vermuten ließ, das wäre ein ehernes Gesetz, welches unbedingt eingehalten werden musste. Da hatte der Vater sein Erziehungswerk auch bei seiner Gattin nachhaltig hinterlassen, ohne dass ihr das bewusst war. Von wegen „Du kannst.“ Er musste! Dabei hatte Os sich gerade in seine Klassenkameradin Elvira verliebt. Er glaubte zu spüren, dass sie ihn auch mochte. Die weiteren Ratschläge seiner Mutter konnte er nach seinem Sieben-Regel-Schema ignorieren.
Elvira war ein großes brünettes Mädel, etwas breitschultrig, eher wie ein Junge in seinem Alter mit schmaler Taille und hellgrünen Augen und sehr sportlich. Sie war beliebt bei den Jungs seiner Klasse und wurde in all´ den Dingen, die sie tat, beobachtet. Os überwand nach den Ferien seine Schüchternheit und wusste, dass es geschehen musste. Und es geschah.
Nach einem Spaziergang an der Elbe erlebte er zum ersten Mal das Gemisch aus Erregung, Liebe und Verlangen, wonach er im späteren Leben immer wieder suchte. Er konnte seinen Blick nicht von Elvira lassen. Ihr entging das nicht. Ein unerklärliches Lächeln versuchte sie zu unterdrücken, doch es gelang nicht. Os spürte ihre Seele, die ihn anstrahlte. Ihre Körper öffneten sich und sie taten es im höher gelegenen Hirschpark im Gebüsch.
Nach dieser ersten Liebe wurden Frauen zu Sternen seiner Obsession, zum eigentlichen Wesen der Dinge, wie die Erde, die sich um die Sonne dreht.
Os kam beim Erzählen nach so vielen Jahren immer noch ins Schwärmen.

 

 

4. Vom dritten Treffen – Trennung von Gianna

 

Im Oktober 1962 bahnte sich die Kubakrise an, eine äußerst ernste Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, die sich um die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba drehte. Die eigentliche Krise dauerte dreizehn Tage, und es folgte eine Neuordnung der internationalen Beziehungen. Der Kalte Krieg erreichte eine neue Qualität und die Overkill-Kapazitäten beider Supermächte wurden erstmals deutlich. Während des Konflikts wurde der Ausbruch eines Atomkrieges als wahrscheinlich angesehen. Es wurde in Westdeutschland inzwischen politisch demonstriert.

 

Beim Kaffeetrinken im sonnigen Garten der Villa Ahorn glitten ein paar Kanus den Alsterlauf entlang. Os hatte sein Abitur mit Bravour bestanden und studierte Betriebswirtschaft in Hamburg. Seinen 21.Geburtstag hatte er in besonders schlechter Erinnerung. Er konnte das Geschehen nicht ignorieren, da sein Sieben-Regel-Schema dieses nicht zuließ.
Am Nachmittag wollte seine Studienfreundin Gianna ihn besuchen. Sie erschien zum Kaffeetrinken, das stillschweigend ablief, bis am späten Nachmittag plötzliche Dunkelheit einbrach. Finstere Gewitterwolken überzogen den Himmel. Gianna war Italienerin und erzählte, dass sie mit einem anderen Kommilitonen, Mario, einem Landsmann, in den kommenden Semesterferien verreisen wollte. Sie saßen am Küchentisch bei einem Glas Wein. Sie schaute ihn nicht an, starrte auf den Kühlschrank schräg hinter ihm und sagte:

„Ich will mich nicht an dich gewöhnen“, und es hörte sich an wie ein Tagesordnungspunkt auf einer Lehrerkonferenz, die über eine Disziplinarmaßnahme gegen einen Schüler zu entscheiden hatte. Os schwieg. Sie hatte mit ihm abgerechnet und gehörte nicht mehr zu ihm.
Nach einer langen Weile der Totenstille, nur der Kühlschrank brummte ab und an vor sich hin, richtete sie ihre Augen auf ihn. Sie tat das in der Form wie die Scheinwerfer eines Autos in einer Kurve schwenken, ohne dass der Kopf die Bewegung mitmachte. Er schwieg weiter. Eigentlich wusste er schon, dass es niemals etwas werden würde mit ihr, denn er gehörte zu den Menschen, die intuitiv spürten, was passierte. Ihre neue Liebe war jetzt zum Friedhof seiner geworden. Sie drehte ihren Kopf jetzt ganz zu ihm hin und fragte:

„Was ist los mit dir?“

Er sagte:

„Was soll los sein? Du hast entschieden.“
Es herrschte eiserne Stille. Nur noch ihre starren Körper waren beteiligt. Nach unendlichen Minuten stand sie auf, ging in den Flur, zog ihren Mantel an und verschwand. Ihre Schritte verhallten mit abnehmender Lautstärke im Hausflur, nachdem die Wohnungstür ins Schloss fiel. Das war die endgültige Tilgung ihrer Liebe, dem Verschlingen der Zeit zwischen dem ersten Blick auf der Vernissage eines befreundeten Künstlers und dem Zuschlagen der Haustür seiner Studentenbude in Hamburg-Eimsbüttel.

 

 

5. Vom vierten Treffen – Sinnliche Genüsse mit Marie

 

Neil Armstrong, ein ehemaliger amerikanischer Testpilot und Astronaut, betrat als erster Mensch 1969 den Mond. Die Manson Family ging mit den Tate-LaBianca-Morden in die Geschichte ein. Die Beatles spielten ihr letztes öffentliches Konzert auf dem Dach der Apple-Studios in der Londoner Savile Row. Die Horla-Kommune Köln mit einem äußerst radikalen polit-kulturellen Ansatz der 68er-Studentenbewegung gab vier Ausgaben einer Kinder-Agitationszeitung heraus, die zur Durchsuchung des Republikanischen Clubs in Köln führte und Heinrich Böll veranlasste, sich mit dieser Aktion zu solidarisieren. Endlich kam politische Bewegung in die Erstarrung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, was sich zum Beispiel in der Studentenparole "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren" ausdrückte. Eine sexuelle Revolution der jungen Leute stellte die Prüderie in den Schlafzimmern der Elterngeneration in Frage.

Im Sommer beschloss Os etwas für seine körperlichen Genüsse zu tun. Er hatte sich öfters Massagen geben lassen, weil er sich häufig verspannt fühlte, eine Folge der verdrängten Schläge aus seiner Kindheit, was ihm immer deutlicher bewusst wurde. Jetzt wollte er testen, ob auch aktives Massieren seine Sinne anregt. Kurzentschlossen meldete er sich zu einem Kurs in der Holsteinischen Schweiz an.
Es war wunderbar und hatte gefunkt, ganz ohne Planung. Als er seine Hände mit sanftem Druck den Rücken hinab und dann die Hüften hinauf bei Marie, dem Rotschopf aus der Gruppe, gleiten ließ, entwichen zarte Lustseufzer aus dem Mund dieser Frau. Da er das Sonnenlicht auf einem Blatt, die Anmut des Windes, den Faltenwurf eines Vorhangs zu schätzen wusste, wurde es möglich, dass er den Garten der Liebe in diesem unerwarteten Moment betrat. Es war um ihn geschehen. Er hatte viel über Tibet gelesen und erinnerte sich an das Sprichwort  “Besser ein Tag Tiger sein als tausend Jahre Schaf“ und wusste, was zu tun ist: Spaziergang am See, Verführung, Glückseligkeit. Wenn ein Mann verliebt ist, sieht das Blatt noch schöner aus, sind Schultern noch lieblicher, Hüften noch sinnlicher.

Abends im Bett liebkosten seine Hände und der Mund Marie, die Zunge ertastete nach und nach die geheimsten Regionen ihres Körpers. Es war, als tauchte er das Gesicht in eine Schale reifer Früchte und atmete deren Düfte ein. Pfirsiche, Äpfel, Birnen. Alles an ihr war sinnlich und frisch. Er begann zu fühlen, ohne sich weiter mit der Bildung von Sätzen oder der Wahrnehmung von Bildern aufzuhalten. Seine Empfindungen steigerten sich, wenn sie taktil blieben und nicht in Worte oder Bilder gefasst wurden. Seine Gefühle konzentrierten sich nicht mehr einzig auf seine Lendengegend. Vielmehr errötete die Haut, die Augen wurden intensiver blau, die Eingeweide lösten sich auf und fingen an zu fließen. Er war weder gespalten noch eins, war nichts und alles, hier und überall zugleich. Sein Traum nach einer neuen Beziehung wurde wahr.

Marie wohnte in Hannover und war fünf Jahre älter. Sie besuchten sich fast jedes Wochenende. Nach seinem Examen beschlossen sie zu heiraten. Sie hatte eine sehr große Jugendstilwohnung geerbt, in die er mit einziehen konnte. Er nahm seine erste Stelle als Akademiker an und wurde Wirtschaftsjournalist bei der Hannoverschen Presse, bei der auch Marie in der Kulturredaktion arbeitete.

 

 

6. Vom fünften Treffen – Teufel Alkohol


Ulrike Meinhof wurde1976 in ihrer Zelle im Gefängnis Stuttgart-Stammheim erhängt aufgefunden, Vietnam nach langem Krieg wiedervereinigt und die chinesische Kulturrevolution fand ein Ende.

 

Den Geburtstag des Jahres hatte Os besonders heftig in Erinnerung, da er einschneidend für sein weiteres Leben wurde. Beim Einräumen frisch gewaschener Wäsche in den Kleiderschrank seiner Frau entdeckte er eine Flasche weißen Rum. Sie ist Alkoholikerin schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Bisher war ihm nie der Gedanke gekommen, obwohl er schon des Öfteren bemerkt hatte, dass sie manchmal sehr viel trank. Aber da das nicht regelmäßig geschah und in Gesellschaft bisweilen sehr viel getrunken wurde, hatte er sich nichts dabei gedacht. Als er sie zur Rede stellte, bestritt sie, Alkoholikerin zu sein. Er beließ es dabei, bis ihr gemeinsamer Hausarzt bei seinem nächsten Termin ihn fragte, ob er wüsste, dass die Leberwerte seiner Frau auf einen Alkoholismus hindeuteten. Jetzt war er alarmiert und informierte sich intensiver über dieses Suchtverhalten.

Ihm wurde klar, dass immer, wenn sie sich für ein Wochenende wegen Regelschmerzen in ihr Zimmer verzog und dort nicht gestört werden wollte, sie in Wirklichkeit trank. Sie war eine sogenannte Quartalssäuferin.

Es folgte eine Odyssee diverser Therapieversuche. Doch auch die Meetings bei den Anonymen Alkoholikern wurden nach kurzer Zeit von ihr wieder abgebrochen. Nach vielen Gesprächen verabredeten sie, dass sie eine Entziehungskur machen müsse, um erst einmal trocken zu werden. Anfang Januar des Folgejahres sollte sie beginnen.

Da ihn diese schreckliche Zeit sehr traurig und er danach einen Kurs in kreativem Schreiben gemacht hatte, schrieb er die Situation in Form einer Kurzgeschichte auf.

Den Text gab er mir mit Tränen in den Augen zum Lesen mit nach Hause. Ich nahm ihn in die Arme und ging dann heim.

 

Irrlichter (sein Text)

 

Bleigrauer Himmel. Klirrende Kälte. Dichtes Schneetreiben auf dem Bahnhofsvorplatz. Der ICE nach Basel soll in einer Stunde eintreffen. Wir frieren und flüchten uns in die Cuba-Bar.
Ich stelle den schweren Koffer ab, schiebe mich auf einen Hocker an der Theke.
„Schön hier“, sagt sie und setzt sich neben mich.
„Was möchtest du trinken?“, frage ich.
„Lass´ uns Cuba Libre bestellen“.
„Zwei Cuba Libre“, sage ich zur Barfrau hinter dem Tresen.
„Große?“
„Ja, zwei große“, sagt sie.
„Ich nur einen kleinen“.
Die Barfrau mixt die Drinks und stellt sie auf die Theke. Sie guckt uns beide an und geht etwas zurück.
Meine Frau nimmt einen gierigen Zug und schaut sich dann um. Sie blickt aus dem Fenster. Der Wind wirbelt die Schneeflocken durcheinander. Die Menschen hetzen gebückt über die große Fläche. Reklameleuchten flackern an den Häusern gegenüber.
„Wie Irrlichter“, sagt sie.
„Ich hab´ noch nie welche gesehen“, sage ich.
„Was zeigt denn die Tafel am Kaufhaus gegenüber?“, fragt sie.
„Bionade ist Kult“.
„Das möchte ich ausprobieren“.
Sie stürzt den Cuba Libre hinunter. Ich nippe am Glas und rufe die Bedienung:
„Hallo, haben Sie auch Bionade?“
„Ja sicher! Mit Holunder-, Quitte- oder Litschigeschmack?“
„Willst du mit Holundergeschmack?“, frage ich.
„Ich weiß nicht“.
„Nehmen Sie Holunder. Ist gut bei der Kälte“, mischt sich die Barfrau ein.
„Es schmeckt bestens“, sage ich und setze mein Glas ab.
„Und ist viel bekömmlicher als der weiße Rum im Drink!“
„Ach, hör schon auf damit“, sagt meine Frau.
„Seine Wärme tut mir gut“.
Sie streicht über ihren Bauch und schaut hinaus in das Schneetreiben.
„Es ist wahnsinnig schön“, sagt sie.
„Die Reklameleuchten wirken eigentlich gar nicht wie Irrlichter. Ich sehe nur das Aufflackern, das die Schneeflocken zum Glitzern bringt.
„Lass´ uns noch etwas trinken?“
„Gut, einen noch“, antworte ich zögerlich.
„Der Rum wärmt meine Seele“, sagt sie.
„Es ist wirklich eine gute Klinik in den Bergen“, sage ich, „dir wird es gefallen“.
Sie senkt den Blick und starrt den Fußboden an.
„Ich weiß, dass du keine Angst hast. Du wirst es schaffen“.
Sie schweigt ….
„Und was wird nachher?“
„Nachher wird es so schön wie früher, als wir gemeinsam hinausschwammen, auf den Stocksee, beim Caravaning im Sommer. Wie es nur noch uns gab. Dich und mich“.
„Warum glaubst du das?“
„Bis ans Ende der Welt wollten wir schwimmen, du immer ein paar Züge voraus“.
„Und du glaubst, dass wir wieder glücklich werden?“
„Ja, ich weiß es. Du brauchst keine Angst zu haben, … fühlst du dich jetzt besser?“
„Lass´ uns gehen! Ich möchte den Zug nicht verpassen“, sagt sie und atmet entschlossen ein.
„Gut“.
Ich helfe ihr vom Barhocker.
„Doch“, sagt sie und ihr Blick gleitet hinaus ins Schneegestöber, … „doch … es geht mir gut … ja, es geht mir gut“.


Marie hatte auch diese Therapie nach kurzer Zeit abgebrochen und trank in Abständen immer wieder, fing an, Nachbarn zu belästigen und Os körperlich zu bedrohen. Er bekam Angst vor erneuten tätlichen Angriffen und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Nach einem Jahr reichte er die Scheidung ein und beschloss nach Hamburg zu ziehen.

 

 

7. Vom sechsten Treffen – Sauforgie mit Hannes und die Frauen

 

1983 wurde der NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie, Schlächter von Lyon, früherer Gestapo-Chef in dieser Stadt, in Bolivien festgenommen, wo er als Klaus Altmann lebte. Im Kalten Krieg meldete ein technisches Problem im Sowjetischen Überwachungszentrum den Abschuss von Atomraketen in den USA. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow reagierte besonnen und stufte es nach bangen Minuten als Fehlalarm ein. Hunderttausende versammelten sich im Bonner Hofgarten, um für Frieden und Abrüstung und gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Insgesamt etwa 1,3 Millionen Menschen bekundeten in der BRD an diesem Tag ihre Abneigung zur Nachrüstung. Der Deutsche Bundestag billigte die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen Pershing 2.

Die rätselhafte Krankheit AIDS, die zu der Zeit tödlich verlief, trat in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.

Udo Lindenberg trat bei einem Rockkonzert im Berliner Palast der Republik auf. Den einzigen Auftritt in der DDR hatte sein Hit “Sonderzug nach Pankow“ ausgelöst, in dem der Sänger ironisch an Staatschef Erich Honecker appellierte.

Es wurde immer mehr Selbsterfahrung, sei es in Frauen-, Männergruppen und in von Psychologen und Gurus angeleiteten Workshops, betrieben.

 

Inzwischen war Os nach Hamburg gezogen und arbeitete in der Logistikabteilung eines großen Speditionsunternehmens, denn in Hannover hielt ihn nichts mehr. Auch das Journalistendasein kotzte ihn an. Mit seinem neu gewonnen Freund Hannes aus der gemeinsam gegründeten Männergruppe fuhr er mit der Bahn zur Demo gegen den Nato-Doppelbeschluss nach Bonn.

Am Tag nach Os Geburtstag hatten sie sich beide zwei Tage frei genommen, um ihr Scheitern beim weiblichen Geschlecht “abzufeiern“. Hannes machte vor einer Woche Schluss mit seiner Freundin Iris. Sie wollte ein Kind und er nicht. Os lebte nach seiner Scheidung in einer Phase serieller Monogamien, mal länger, mal kürzer, in konsequent getrennten Wohnungen. Von seiner aktuellen Flamme Eva war er nur noch genervt. Sie konnte einfach nicht loslassen, hatte keinen Spaß am Sex, hielt am liebsten immer nur Händchen, war eher der Typ Seelchen und passte nicht zu seiner körper-geist-fixierten Wesensart.

Beide wollten die Frauen vergessen, in der Art des Vergessens wie einen Regenschirm, den man in der U-Bahn liegen lässt und an den man erst wieder denkt, wenn ein Regenschauer aus heiterem Himmel überrascht. Deshalb enterten sie am späten Abend die Muschibar in St Pauli. Allzu viel erinnerte Os nicht mehr, denn es gab keine größere Diskrepanz als die zwischen der gesamten Zeit des Besäufnisses und den abgesplitterten Teilen von Nebel und Klarsicht.

Die Bar war schmal, lang und dunkel. Manchmal kamen Musiker nach ihrem Auftritt zum Abhängen. Die Kunden waren zu spießig oder zu knauserig, zu den Huren zu gehen oder sich eine Freundin zu halten. Sie saßen lieber an der Bar und betrachteten Lenas große Titten, die sie wie eine Dünenlandschaft vor sich her trug. Sie streckte diese gern den lüsternen Blicken der Männer entgegen, die dann in fortgeschrittenem Alkoholstadium manchmal zulangen durften. Zu späterer Stunde legte sie die schwer gewordenen Brüste zur Entlastung auf ihrem Tresen ab. Den Männern gefiel das. Das Vergnügen musste mit einem endlosen Strom Wodka, Gin oder Whisky bezahlt werden. Lena gefiel das. Os gefiel das Tittenbetrachten mit einem gewissen vernebelten Gehirn und entsprechendem Blick auch. Die wüstenwindähnlichen Besteigungen und Austauschvorgänge und die sinnlosen Streitereien und Gespräche mit Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts ertranken zu später Stunde im Gelalle der Gefühle. Beide vergaßen sie, die Frauen und die Gefühle, in der Art, bei der man vergisst, was man vergessen hat.

Sie nahmen sich zur Sperrstunde ein Taxi und lagen sich weinend auf dem Rücksitz in den Armen. Die Sintflut bahnte sich ihren Weg. Die verletzte Seele brauchte ein Ventil. Der Fahrer musste sie in Hannes Wohnung bringen, da dieser den Schlüssel nicht mehr ins Loch brachte und Os es auch nicht schaffte. Sie wachten erst am frühen Nachmittag, immer noch katerisiert, in voller Montur in Hannes französischen Bett auf und beschlossen nach dem Duschen in die Milchbar Lucky Kuh in der Altstadt zu gehen, denn der Kühlschrank war leer wie das Gehirn, das außer Schmerz nichts mehr belastete. Der kleine Spaziergang tat ihnen gut. Sie konnten ihre Köpfe etwas entlüften und mussten feststellen, dass es ohne Frauen auch nicht schön ist.

 

Im Sommer desselben Jahres lernte Os Veronika kennen. Doch die Beziehung hielt nur drei Monate. Er fühlte sich wieder sehr allein. Was er auch vorhatte, es lag im Nebel, aber Veronika ging ihm nicht aus dem Kopf, da er sie später in einem Café an der Elbe gesehen hatte. Sie saß dort mit einem anderen Mann in angeregte Unterhaltung vertieft. Seltsam, dass er mit einer Frau ins Bett steigen konnte und schon ein paar Wochen später von ihr nichts mehr wusste, doch dass ihn der Gedanke an sie aus der täglichen Lethargie holte. Die Gegenwart dieses Denkens war wie beharrliches Unkraut. Es kehrte Tag für Tag mit derselben Gestalt zurück, und dennoch erwartete er etwas Neues.

Der Abend dunkelte und schlich in den Zimmern seiner kleinen Wohnung umher, überfiel ihn von allen Wänden. Er fragte sich, ob er die letzte Trennungserfahrung wie eine Lampe ausschalten konnte. Das hatte er zunächst gedacht und versucht, glaubte an einem Punkt angekommen zu sein, wo das Leben ihm das Notwendige beigebracht hätte, aber alles drehte sich nur noch im Kreis. Immer dasselbe, nur jedes Mal etwas schwerer zu ertragen.
Veronika warf ihm vor, dass er keine Gefühle zeigte, wenn es angebracht war. Doch wann war etwas angebracht und wann nicht? Er wusste es nicht. Sie meinte, von Männern wie ihm müsse man sich fernhalten. Nur dann kann einem nichts mehr passieren. Aber was ist dann, wenn nichts mehr passiert?

 

Sein Leben in Bezug auf Frauen bestand nach seiner Scheidung von Marie aus Ereignissen, die keinen Zusammenhang durch diese oder jene Vorstellungen hatten. Veronika war ihm einfach geschehen. Er kam an einem sonnigen Spätsommertag im Stadtpark auf einer Bank am See mit ihr ins Gespräch. Sie verliebten sich, zumindest glaubte er das. Im Verlauf ihrer Treffen hatte sie ihm Liebe oder zärtliche Worte, ja beides zu Teil werden lassen, doch inzwischen wusste er, sie hatte Antworten erwartet. Er war es nicht gewohnt, dass ein Gefühl mehr bedeutete, wenn man es beim Namen nannte. Er war dankbar für ihre Gesellschaft und hätte ihr zumindest ab und an sagen müssen, dass sie ihm fehlte, wenn sie nicht bei ihm war. Er hielt das nicht für notwendig, denn er fühlte sich wohl in ihrer Nähe. Manchmal hatte er allerdings Angst, ihr so nah zu kommen, dass er herausfinde, wie fremd sie ihm war, obwohl sie auch zusammen ins Bett stiegen.

 

Nach ein paar Wochen wurden ihre Treffen seltener und kürzer. Ihre Abwesenheiten begannen Stück für Stück länger zu werden. Er sah das, lange bevor es da war, denn Veronikas Blicke wurden undurchdringlicher und ihr Schweigen greifbarer, bis sie eines Tages nicht mehr kam. Sie hinterließ in ihm das Gefühl, als würde sein Leben weggeschleudert.

Os spürte nach dem Wiedersehen von Veronika mit dem anderen Mann, dass wieder Angst und Trotz sein Gehirn belagerte und ihm auf den Magen schlug. Er ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Schaute in den Himmel. Die Sterne ließen sich an dem Abend nicht blicken. Sie wurden von niedrigen Wolken verdeckt, von den Lichtern der Stadt angestrahlt und vom Wind, der die Winterluft vor sich hertrieb, gejagt. Er konnte endlich wieder durchatmen und ging nach ein paar Minuten fröstelnd zurück ins Wohnzimmer. Kein einziges Wort von dem, was Veronika in ihren schönen Zeiten hier geäußert hatte, war aus dem Raum entschwunden. Wie greifbare Gegenstände standen die Sätze irgendwo zwischen den Möbeln und Pflanzen. Da gab es kein Entkommen. Er hörte alles, was sie sagte, fühlte sich schuldig geworden an der Liebe.

 

 

8. Vom siebten Treffen – Ehe mit Annette

 

Nach der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 unter dem Jubel der Bevölkerung fand die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 statt.

 

Os war inzwischen wieder verheiratet und etablierter Familienvater. Jetzt mit neunundvierzig Jahren überlegte er, ob sein Leben sich gesteigert oder nur vermehrt hatte. Bei genauer Betrachtung musste er sich eingestehen, dass seine Abenteuerlust im Sande verlaufen war. Er werde wohl nicht mehr tun, was er sich als Jugendlicher erträumt hatte. Stattdessen zog er zusammen mit seiner Ehefrau zwei Jungen, Zwillinge groß. Er hatte sich vor sechs Jahren in Annette verliebt und sie sehr schnell nach dem Kennenlernen geheiratet, weil sie schwanger wurde und kurz vor der Entbindung stand. Sie wohnten in der Kreisstadt der Nordheide, in der er seine Jugend verbracht hatte. Er half beim Wickeln und Abfüttern der Kinder, mähte den Rasen, diente seinem Arbeitgeber, machte regelmäßig Urlaub mit der Familie, im Sommer am Mittelmeer, im Winter auf den Kanaren. Doch jetzt, nachdem die Kinder über den Berg waren und in die Schule gingen, konnte er das Gefühl nicht loswerden, dass er sein Leben schon hatte. Alles ging seinen Gang. Die Langeweile sickerte immer tiefer in alle Fasern seines Körpers. Sein Verantwortungsbewusstsein und sein Realismus erwiesen sich zunehmend als Hürde, und er ging seinen Träumen aus dem Weg, statt ihnen ins Auge zu sehen.

Sein bester Freund Hannes, mit dem er immer noch oft Tennis spielte, war da flexibler. Obwohl inzwischen auch verheiratet mit drei kleinen Kindern, ging er des Öfteren eigene Wege, segelte mit Freunden über den Atlantik, lernte Gleitschirmfliegen und nahm an Mal-Workshops teil. Auch flirtete er gern mit anderen Frauen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Os stellte fest, dass sich das Leben als junger Mensch vom älteren darin unterscheidet, dass man in jungen Jahren seine Zukunft plant, dann später eher an der eigenen Vergangenheit herummodelt, sie in der Regel schönt, oder verschiedene unangenehme Vergangenheiten anderer Menschen erfindet, damit es einem selber besser geht. Gängige Verfahren der Selbstüberlistung. Doch Hannes lebte anders und Os musste zugeben, dass er ihn sehr beneidete.

Sämtliche Uhren um ihn herum versicherten ihm, dass die Zeit beständig vergeht. Nichts kam ihm glaubwürdiger vor als das Voranschreiten der Zeiger einer Analoguhr oder das Zucken der Ziffern einer Digitaluhr, auch wenn schmerzvolle oder freudige Ereignisse langsamer oder schneller zu vergehen schienen. Die Jahre flogen dahin, verstärkt durch sein Sieben-Regel-Schema.

Hannes sagte oft "Grenzüberschreitung ist oberste Pflicht der Fantasie". Da musste Os ihm Recht geben. Er hatte irgendwo gelesen, dass jemand sagte: "Die Ehe ist eine lange fade Mahlzeit, bei der der Nachtisch zuerst serviert wird". Os musste das zugegebenermaßen bestätigen. Sexuell lief nach sechs Jahren Ehe fast nichts mehr zwischen Annette und ihm. Aus dem Schlafzimmer hatte sie ihn längst ausgelagert. Kinder und Haushalt dominierten ihre Gespräche, bis sie nach dem Fernsehen todmüde in ihre Betten fielen. Er beschloss, dass er dem Ende der Wahrscheinlichkeit einer Änderung seines Lebens widerstehen werde, bevor es zu spät ist, musste handeln.

Hannes las sehr viele Romane, sah gute Filme, ging oft in Jazzkonzerte und hatte die Fähigkeit Gelesenes, Gesehenes und Gehörtes in Gefühle umzusetzen, oft ohne, dass es sich in Worten ausdrücken ließ. Dieses formlose Aufnehmen von Empfindungen, Eindrücken und Wahrnehmungen entsprach seiner spezifischen Denkweise, der Denkweise eines Künstlers oder auch Lebenskünstlers. Os hatte bei Vernissagen, zu denen der Freund ihn manchmal mitschleifte, oft der Gedanke beschäftigt, dass die einführenden Redner und danach die Besucher sich mit Worten herum wanden, die seine Empfindungen eher behinderten. Er hörte zwar alles, was gesagt wurde, aber fragte sich, wovon eigentlich die Rede war. Hannes sagte dann immer:

„Höre einfach nicht hin und glaube keinem Kritiker".

Das Unausgesprochene konnte so die Oberhand behalten und insofern verstand er seinen Freund sehr gut. Er ließ in ihm immer wieder das Gefühl aufkommen, wohlgemerkt ohne zu nerven, dass er sein Leben, das er die letzten Jahre führte, weggeschleudert hatte.

Er beschloss mit Annette zu reden und sich einen freien Abend in der Woche, ein paar Wochenenden und zwei Wochen separaten Urlaub im Jahr auszubedingen, in denen er ohne Familie aktiv werden wollte. Sie fand die Idee gut und sagte:

„Na prima, endlich kommst du in die Puschen“.


 

9. Vom achten Treffen - Ehekrise

Der Tod von Prinzessin Diana ist das Medienereignis des Jahres 1997. Bei einem Terroranschlag auf Touristen vor dem Ägyptischen Museum in Kairo werden zehn Menschen getötet, darunter neun Deutsche. Die Behörden in Hongkong lassen etwa 1,5 Millionen Hühner töten, um die weitere Verbreitung des Erregers H5N1 der Vogelgrippe  zu stoppen.

 

Os interessierte sich immer weniger für Politik und hatte seine Ziele abseits der Familie wahrgemacht. Er nahm Unterricht bei einer Malerin und lernte Portrait- und Aktzeichnen, Ölmalerei und später das Malen mit Acrylfarben. Kunst war schon in der Schule sein Lieblingsfach. Außerdem eignete er sich bei mehreren Massagekursen verschiedene neue Techniken an, denn ihm waren sinnliche Körperkontakte vor allem mit Frauen sehr wichtig. Er hatte das Gefühl, dass seine Ehe immer mehr den Bach runter ging. Annette kam zwar morgens meistens nach dem Aufwachen mit einem aufregenden Sexy-Nachthemd an sein Bett und fragte:

„Darf ich dich küssen?“
„Ja“, sagte er und bekam ein platonisches Küsschen auf die Wange, manchmal auch auf die Lippen. Sie ging dann weiter in die Küche. Er war frustriert und in seiner Begehrlichkeit enttäuscht. Ihr wunderschöner Körper wurde immer unerreichbarer. Warum reizte sie ihn und ließ ihn dann doch hängen, so dass er sich selbst onaniemäßig abfertigen musste?

Einmal fragte er sie abends, nachdem die Kinder im Bett waren:

„Wovor hast du eigentlich mehr Angst, vor meinem Begehren oder vor einer Trennung?“
Sie schaute ihn an, schwieg lange, und antwortete dann zögerlich:

„Ich weiß es nicht, ich glaube vor beidem“.
Os wurde mutiger und sprach aus, was sich immer klarer in ihm abzeichnete:

„Entscheide dich! Sonst entscheide ich mich“.
„Aber ich habe solche Angst“.
„Dann musst du springen“.
„Ich bin am Anfang gesprungen, als ich dich kennenlernte. Mutig ins Ungewisse. Leider mit geschlossenen Augen“.
„Mit geschlossenen Augen springen kann gefährlich sein. Versuch es doch einmal mit offenen Augen“, sagte Os.
„Ich bin gestrauchelt und habe immer wieder versucht, mich aufzurichten. Aber es hat dir nicht gereicht. Ich bin auf unsicherem Boden gelandet“.
„Absolut sicheren Boden gibt es nicht und totale Sicherheit ist eine Illusion. Etwas Kontrolle muss sein. Aber es gibt so oder so immer neue Erfahrungen beim Springen“.
„Ich werde erst wieder bereit sein zu springen, wenn ich erkenne, dass ich auf sicherem Boden lande. Ich sehe darin deine Aufgabe, ihn zu festigen“, meinte sie.
„Das kann ich nicht gewährleisten, aber ich werde mich bemühen, dich zu unterstützen. Doch Eigenverantwortung musst du schon übernehmen“.
„Ja“, sagte Annette.
„Schwankungen sind allgegenwärtig. Wie das Wetter, so die Gefühle. Mal sind wir bedürftig, mal voller Kraft, mal ängstlich, mal mutig“, versuchte er sie zu überzeugen.
„Ich wünsche mir immer noch, dass wir ein richtiges Paar werden könnten“, antwortete sie.
„Ein Paar kannst du nur mit mir werden, wenn du bereit bist, Liebe, Lust und Leidenschaft mit allen seinen Schwankungen zu leben und mit mir zu teilen“, sagte er.
„Das will ich doch!“
„Das ist manchmal wild und gefährlich. Konflikte sind unumgänglich und sozusagen der Normalfall. Aber sonst wäre es doch auch ziemlich langweilig, oder?“
„Glaubst du an Gott?“, fragte sie unvermittelt.
„Nein, das finde ich absurd. In seinem Namen wurden und werden immer wieder Kriege geführt. Auch mein Vater hat einen Krieg in seinem Namen gegen mich geführt.
„Du solltest ihn lieben!“
„Wen, den Vater oder den Gott? Ich kann die nicht lieben“.
„Doch sagte sie, du hast mir von deinen früheren Frauen erzählt. Aber das war wohl keine richtige Liebe. Das war nur Leidenschaft und Sinnenlust. Wenn man liebt, will man etwas dafür tun. Dann will man Opfer bringen. Man will dienen“.
„Das tue ich doch, auch ohne Unterstützung Gottes. Was habe ich alles schon für dich getan!“, sagte er.
„Du hast viel für mich getan, ja, aber du hast meine Seele verletzt“.
„Ich habe das Lieben nie gelernt“, verzweifelt er.
„Ich weiß, aber du wirst es noch. Und dann wirst du glücklich“.
„Ich war manchmal glücklich“.
„Du kannst es nicht beurteilen, wenn du es nicht gelernt hast“.
„Ja, ich werde es dir sagen, sollte ich es je erfahren“, schloss Os das Gespräch.

 

 

10. Vom neunten Treffen – Familientragödie und eine unerwartete Begegnung

 

Am 26.Dezember 2004 mitten in der Nacht brach vor West-Indonesien und Thailand ein gewaltiges unterseeisches Erdbeben vor der Nordwestküste der indonesischen Insel Sumatra aus. Es war das drittstärkste jemals aufgezeichnete und löste eine Reihe von verheerenden Tsunamis an den Küsten des Indischen Ozeans aus. Insgesamt starben  etwa 230.000 Menschen.

Os Frau Annette wollte in den Sommerferien mit ihrer Freundin aus Studienzeiten ein Kulturwochenende in Berlin genießen. Auf der Fahrt hatten die beiden einen tragischen Unfall. Bei einem Stau auf der Autobahn raste ein LKW ungebremst in ihren Golf. Beide starben noch an der Unfallstelle. Der Fahrer des LKWs war eingeschlafen und überlebte. Os war geschockt. Seine Söhne hatten inzwischen Abitur gemacht und studierten in Berlin und Freiburg. Weihnachten flogen sie mit ihren Großeltern nach Thailand. Er selbst wollte einfach mal Ruhe und kam nicht mit.

Die mächtigen Wellen eines gewaltigen Tsunamis überrollten in der Nacht am 26.Dezember das ganze Hotelgelände und rissen alles Lose mit sich. Die Großeltern ertranken bei dem Fluchtversuch auf höheres Gelände. Os Söhne waren glücklicherweise auf einem zweitägigen Ausflug im Landesinneren und überlebten.

 

Nach diesem zweiten tragischen Familienunglück im selben Jahr fühlte er sich oft sehr einsam. Draußen krachte der Frost und in der Luft wirbelten fallende Flocken. Der Winter strebte seinem Höhepunkt entgegen. Die kleine Kreisstadt hatte sich in den letzten Jahren zum Ballungsraum verdichtet. Fensterlichter flimmerten über abgezäunte Felder am Rande der Stadt und ließen die Häuserblöcke durchlöchert erscheinen, unregelmäßig wie ein Schweizer Käse. So konnte er sehen, wo Leben geschah und wo nicht. Die Hügel dahinter verloren ihre Schärfe im diffusen Gemisch aus Schneeflocken und der beginnenden Dämmerung. Bunte Lichter zappelten in Richtung Ortsmitte, einem Stimmungsgemenge aus Reklameschriften, Verkehrsampeln und reflektierenden Schneekristallen.

 

Seit einiger Zeit plagten ihn häufig Herzstiche in der linken Brusthälfte. Er beschloss einen Trip mit seinem SUV in der naheliegenden Schneelandschaft zu machen. Einfach ziellos herumfahren. Os holte den winterbereiften Wagen aus der Garage und bog nach links in seine Wohnstraße ein, dachte darüber nach, wie langweilig Langeweile sein kann. Ein Fragezustand, der ihn immer öfter verfolgte und nicht mehr gesteigert werden konnte.

An der Bushaltestelle am Ende seiner Wohnstraße winkte ihm eine Frau zu, wollte ihn zum Anhalten bringen, ihn wahrscheinlich als Busersatz benutzen. Er überlegte kurz, denn normalerweise nahm er keine fremden Menschen mit, entschloss sich aber anzuhalten. Fragte die wohl noch recht junge Frau:

„Wo wollen Sie denn hin?“
Sie antwortete:

„Ach Sie …, wir haben uns doch schon öfter bei REWE im Supermarkt gesehen. Am Mittwoch dieser Woche standen Sie vor mir an der Kasse“.
„So…?“
„Ich wollte eigentlich mit dem Bus nach Harburg und dann wieder zurück, aber am liebsten würde ich ein bisschen durch die Gegend fahren. Ich brauche etwas Ablenkung vom Stress meiner Wohngemeinschaft“.
Ach so eine, denkt Os.
„Na gut, steigen Sie ein. Ich bin dabei meine Langeweile zu bekämpfen und will deshalb ein bisschen herumfahren. So stimmen wir ja überein in unseren Wünschen. Wie heißen Sie denn?“
„Sabine“.
Sie atmete erleichtert aus und warf sich in den Beifahrersitz, der schon länger nicht besessen wurde. Os ließ die Kupplung sanft kommen und fuhr los. Sie beugte sich nach vorn, klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Dann fingerte sie einen Lippenstift aus ihrer rechten Manteltasche und zog ihre Lippen blassrosa nach.
Kein Benehmen diese Frau, dachte Os - von WG-Bewohnern nicht anders zu erwarten.

Gerade als Sabine sich in ihren Sitz zurücklehnte, fegte eine heftige Windbö über den Wagen und brachte ihn zum Schwanken. Beide zogen instinktiv ihre Köpfe ein und schauten sich erschrocken an. Ein kleiner Schneesturm verschaffte den Wischern zusätzliche Arbeit.

Schweigend fuhren sie weiter durch eine Allee starker Eichenstämme, bis sie den nahe gelegenen Wald erreichten. Die Scheinwerfer streiften die teils weiß gefärbten Bäume in den Kurven wie aufflackernde Irrlichter. Eine unheimliche Stimmung tat sich auf. Beide genossen es, ohne Worte zu wechseln. Hätten sie gesprochen, wären diese kostbaren Empfindungen weggesickert. Plötzlich trat Os heftig auf die Bremse und der SUV kam leicht ins Schlittern, konnte aber rechtzeitig stoppen, wobei der Motor abgewürgt stehen blieb. Vor ihnen in der Straßenmitte stand ein Reh, starr und gebannt vom Scheinwerferlicht. In seinem erhobenen Kopf glommen zwei rote Löcher. Schneeflocken taumelten zwischen den Bäumen hindurch, um diesen magischen Moment der Ruhe etwas zu beleben. Nach Momenten des Verharrens schaltete Os die Scheinwerfer aus, startete den Motor und ließ ihn im Leerlauf aufheulen. Das Reh schreckte auf und verschwand mit großen Sprüngen im Wald.

Sabine fragte:

„Haben sie vielleicht etwas Musik im Wagen?“
„Ja, schauen Sie mal ins Handschuhfach“.
Sie kramte irgendeine CD heraus und schob sie in den Player. Aus den Lautsprechern ertönte Klarinettenmusik, ein sanfter Gehörteppich, in den sich eine Frauenaltstimme mischte. Os kuppelte wieder ein und beschleunigte den Wagen. Die Straße trat nach einigen langsam gefahrenen Kilometern aus dem Wald und wurde nun von Vogelbeerbäumen begleitet. Ab und an leuchteten Dolden roter Beeren im Scheinwerferlicht auf. Einzelne Blätter, die der Herbstwind zurückgelassen hatte, hingen wie große vertrocknete Hautfetzen im Geäst. Die Klimaanlage hatte das Wageninnere inzwischen hochtemperiert. In Os Schläfen, die so dünn waren wie Papier, pochte der Puls in schnelleren Schlägen und die Langeweile war im Nirgendwo verschwunden.

Sabine fragte:

„Kann ich mal etwas lüften, mir ist heiß?“

Ihren Mantel hatte sie schon geöffnet.
„O.K.“, sagte Os und drehte den Regler der Klimaanlage auf 20 Grad.

Sie öffnete kurz ihr Seitenfenster. Auch sein Gehirn war inzwischen heiß gelaufen und er überlegte, was er mit seinem Zustieg noch anfangen könnte. In dem Moment schlug sie vor, dass sie gern zurückfahren wollte. Sie hatte ihm die Entscheidung genommen.

Von rechts näherte sich die Schneise der Autobahn, Lichtstreifen, die weiterstiebende Schneepartikel wie Silvestermunition verschossen. Er fädelte sich ein, gab Gas auf der weitgehend schneefreien Piste und nahm nach zehn Schweigeminuten die zweite Abfahrt. Schilder gaben jetzt die Geschwindigkeit an, die er aufzunehmen hatte. Nach sieben Kilometern öffnete sich seine Wohnstraße. Sabine bat ihn an derselben Stelle anzuhalten, an der er sie aufgenommen hatte. Beim Abschied gab sie ihm einen kräftigen Kuss auf die rechte Wange und bedankte sich herzlich für die schöne Fahrt. Die Beifahrertür, die er in der letzten Zeit nur geöffnet hatte, wenn er Gepäckgegenstände auf dem Sitz deponierte, schlug zu und er zuckelte langsam in Richtung Garage. Seine Herzstiche waren wie weggeblasen.

Os betrat sein Wohnzimmer mit einer Flasche Rotwein. Der Raum kam ihm jetzt vor wie eine mathematische Gleichung. Alles stand im Gleichgewicht, alles stimmte, wie seine Frau sich das ausgedacht hatte. Er überlegte, dass er auch mal was ändern könnte. Im Sessel angekommen schenkte er sich wie jeden Abend ein Glas ein und grübelte:

Wie hatte meine Beifahrerin eigentlich ausgesehen? Er konnte sie nicht beschreiben. Nur der Umstand, dass sie einen Kopf größer war als er und ein irgendwie freundliches Gesicht hatte, blieb vage in ihm haften.

 

 

11. Vom zehnten Treffen - Einsamkeit

 

2011 bestimmten Volksrevolutionen in der arabischen Welt, ein gewaltiger Tsunami mit der Folge eines atomaren GAUs in Fukushima und ein Wiederaufflammen der Finanzkrise die Schlagzeilen. Außerdem dominierten weiterhin Terroranschläge das politische Geschehen in vielen Ländern der Erde. Schreckliche Bilder flimmerten ständig über die Fernseher. Die Menschen wurden immer mehr zu Voyeuren der Leiden der Welt.

 

Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich geweigert zu leiden. Das hatte er schon als Kind gelernt. Er wollte auch nicht mit dem Leid anderer zu tun bekommen. Sein wesentliches Mittel, dem zu entgehen, bestand darin, unablässig in Bewegung zu bleiben. Er wusste durch sein langes Leben, dass man so den anderen am besten entging. Letztendlich auch sich selbst.
Wenn er sich sein Mittagessen gekocht hatte, setzte er sich ohne eine gewisse Esskultur, wie sie seine Frau so liebte, an seinen Teller und schaufelte die einfachen Speisen mit schnellen mechanischen Bewegungen in sich hinein, wie jemand, der sich selbst abfüttert. In ähnlich schnellem Tempo wie sein morgendlicher Fitnesslauf vor dem Frühstück. Wenn der letzte Bissen geschluckt war, stand er sofort auf und lud das Geschirr in die Spülmaschine.
Er lebte, wenn er nicht in Bewegung war, in alten Erinnerungen, die durch sein Sieben-Regel-Schema dominiert wurden. Sie waren seine einzigen Sicherheiten, über die er noch verfügte, im Guten wie im Schlechten. Er wollte vermeiden, dass daran herumgebastelt wurde. Deshalb hielt nur sehr losen Kontakt zu seinen zwei Söhnen, die vieles anders sahen. Allerdings fühlte er sich manchmal durch seinen einen Sohn genötigt, in die Vergangenheit hinabzusteigen und diese einer Durchsicht zu unterziehen. Sein anderer Sohn mied eher alles, was sich unangenehm anfühlte, hatte sich weitgehend abgewendet. Die wenigen Freunde, wenn man das so bezeichnen kann, kamen ihm sentimental vor und erwiesen ihm keine Loyalität.
Er versuchte sein verleugnetes Leid wegzulaufen, doch konnte ihm letztendlich nicht entgehen. An einem Sonntagmorgen beschloss er ganz früh spazieren zu gehen, denn sein Knie schmerzte und er wollte den Zustand durch das Laufen nicht verschärfen. Es war ein dunkler Herbst im November. Das erste Grau in der Stadt begann aus den Gehwegen zu kriechen, schlich an den Häuserwänden entlang und zog die Umrisse der Gebäude, Autos, Straßenlaternen und kahlen Bäume aus dem Schutz der Nacht. Die Feuchtigkeit kroch kalt in seinen Mantel und er ging diesmal gegen seine Gewohnheit in langsamem Tempo um die Blöcke seiner Wohnungsumgebung.
Er konnte nicht verhindern, dass sein Gehirn unkontrolliert arbeitete. Ihm offenbarte sich, dass er beträchtliches Leid hinter sich gebracht hatte, dass sein Leiden ihn nicht immer ereignishaft überfiel, sondern zu einem Teil selbstgesuchten Entscheidungen entsprang. In der Essenz hatte er sich selbst alleiner als allein gemacht. Ein Teil seines Älterwerdens bestand darin, sich zu weigern, neue Erinnerungen anzulegen und Versäumtes in Beziehung zu seinen Söhnen nachzuholen, soweit das überhaupt noch möglich war. Er wusste immerhin aus seiner beruflichen Tätigkeit, dass, solange er nicht selbst etwas tat, seine Arbeit durch die Menschen und Dinge bestimmt wurden, die darin auftraten.
Das Wetter hatte sich inzwischen seiner veränderten Stimmung angepasst. Der neblige Dunst wich ersten Sonnenstrahlen, die versuchten der Stadt das Trübselige zu nehmen.


12. Exitus

 

Seinen 70. Geburtstag 2011 wollte Os nicht feiern. Aber er schrieb mir von dem Geheimnis seiner letzten Liebe. Sie hieß Irma und er nannte sie “Irma la Douce“. Sie war Anfang des Jahres in die Villa Ahorn eingezogen, hatte schlohweißes Haar, eine gepflegte schlanke Figur und strahlende blaue Augen. Er hatte sich sofort in sie verliebt und die beiden tranken jeden Nachmittag zusammen einen Kaffee und plauderten über ihre Leben. Irma war im letzten Jahr Witwe geworden und hatte keine Lust mehr in ihrer großen Wohnung allein zu hocken. Ihre beiden Kinder wohnten weit weg, ihre Tochter hatte nach Argentinien geheiratet, lebte in Buenos Aires, und ihr Sohn arbeitete als Banker an der Wall Street in New York.
Irma nannte Os nach einiger Zeit liebevoll “Alter Knochen“, wegen der Übersetzung aus dem Lateinischen. Er war damit einverstanden, denn zu Oskar wollte er nicht zurück. Die beiden hatten in den letzten drei Monaten sehr schönes, liebevolles Gekuschel. Ganz geheim halten konnten sie das nicht, denn die Türen ihrer Zimmer waren jederzeit aus Sicherheitsgründen von außen zu öffnen und einmal wurden sie durch eine Putzfrau überrascht. Den Pflegerinnen gefiel das gar nicht, aber sie konnten es nicht verbieten. Vielleicht waren einige auch einfach nur neidisch, wenn das alte Liebespaar auf Wolke Sieben schwebte. Bei ihrer letzten Himmelfahrt verstarb Irma leider mitten im Orgasmus an Herzversagen. Eigentlich wollten sie das beide zusammen tun, aber es hatte nicht geklappt. Wohl auch ein schwierig zu erreichendes Ziel.
Os fühlte sich wieder einmal extrem alleingelassen und beklagte sich immer mehr über starke Kopfschmerzen. Im Spätherbst hatte er einen Termin im Krankenhaus, um im Kernspintomographen untersucht zu werden.

In der Silvesternacht 2011 auf 2012 verstarb Os. Drei Tage später überstellte mir die Verwaltung der Villa Ahorn einen an mich gerichteten versiegelten Brief, der in seinem Nachtschränkchen lag:

Lieber Herr Sätzer,
wenn Sie diese Zeilen erhalten, lebe ich nicht mehr. Die Ärzte haben einen Gehirntumor diagnostiziert. Das konnte ich nicht mehr ausblenden. Ich sollte im Januar operiert werden. Die Leitung der Villa Ahorn wollte keine Verantwortung mehr für mich übernehmen und bestand darauf, dass ich ins Krankenhaus musste.
Ich werde folgenden Plan durchführen: Ich besorge mir in St.Pauli auf dem Schwarzmarkt eine Pistole, miete mir heimlich am letzten Tag des Jahres einen PKW, fahre in das Dorf meiner Kindheit in der Nordheide und nehme Abschied von meinem Geburtshaus, das längst verkauft ist und von anderen mir unbekannten Menschen bewohnt wird. In der mir vertrauten Heide, wo ich sehr einsame Stellen kenne, stelle ich das Auto an einem kleinen, dunklen Weiher ab. Ich habe die Absicht zu warten, bis es dämmert. Werde dann ein paar Schritte in den Weiher waten und mich erschießen. Ich will nicht mehr in die Klinik.
Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinem Nächsten.
Ihr Os
P.S. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie mir an den Sonntagen geschenkt haben. Stellen Sie meine Geschichte ins Internet. Vielleicht interessiert das jemanden.


Os Leiche wurde erst sieben Tage später von einem Wanderer am Rande des Weihers gefunden. Wieder diese magische Sieben in seinem Leben.

Eigenartig, aber vermutlich waren seine letzten Sätze, die Gebote 1 und 8, so fest in seinem Gehirn in der Jugend verankert und dann vom immer größer werdenden Tumor wieder heraus gedrückt worden. Das erschien mir plausibel, denn diese zwei Gebote wurden, wie auch die anderen, von seinem Vater mit Gewalt hinein gepresst, aber damals nicht auf Durchgang geschaltet. Vielleicht wollte er auch im Falle des ersten Gebotes beweisen, dass er keinen Herrn brauchte, selbst seinen Sterbezeitpunkt bestimmen und Zeugnis über sein Leben ablegen konnte. Das zumindest über jedes siebte Jahr.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (07.09.22, 13:05)
Sehr einfach gestrickter Erzählstil, der mir persönlich nicht gefällt.
Seltsam und im Grunde überflüssig mutet die Abkürzung von Oskars Namen zu "O" an.

 uwesch meinte dazu am 22.01.24 um 20:32:
Merkst du eigentlich noch, was für dämlich-überflüssige Kommentare du zunehmend zu meinen Texten ventilierst?
Da ist meist absolut nichts Konstruktives dabei.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 23.01.24 um 16:45:
Hallo Uwe,

alles okay bei dir?

 uwesch schrieb daraufhin am 23.01.24 um 17:08:
Was soll sein? Ich habe es Dir doch mitgeteilt wie ich viele Deiner Kommentare als nicht hilfreich empfinde. Du ventilierst Deine persönlichen Wertungen zu sehr hinein, was den Stellenwert Deiner Äußerungen mindert - wie ich das empfinde. Mach doch einfach konstruktive Vorschläge für Verbesserungen der Texte.
Im Übrigen finde ich meinen Text nach wie vor als sehr gelungen. Da unterscheiden wir uns halt. Das macht ja nichts.
Vielleicht haperst du einfach mit dem Thema.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 23.01.24 um 17:16:
Lieber Uwe, man darf hier sagen, wenn einer dieser oder jener Text nicht gefällt. Das muss man aber nicht persönlich nehmen!
Zumal ich ja durchaus etwas konstruktive Kritik geliefert habe, indem ich den sehr einfach gestrickten Erzählstil bemängelt habe. Der ist ja ganz offensichtlich, da muss ich ja wohl hoffentlich keine Beispiele liefern.
In diesem Sinne: Frohes Schaffen. In der Vergangenheit sind dir ja auch immer wieder Sachen gelungen. Finde ich.

Antwort geändert am 23.01.2024 um 17:16 Uhr
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