Immer häufiger bei Lehrern – Sprechkrampf!

Satire zum Thema Arbeit und Beruf

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  ARBEIT UND BERUF

Niemand wurde ernsthaft geschädigt. Doch der Dauersprech von Kurt Steinberg, einem älteren Kollegen in einer altehrwürdigen Hamburger Handelsschule, wurde für ihn zur Tragödie. Seit zwei Wochen liegt er mit einem Sprechkrampf in der Universitätsklinik Eppendorf. Modernere Unterrichtsformen mit Schülerselbstbeschäftigung waren ihm fremd.
Kurt Steinberg war nur Sekundenbruchteile zu schnell. Kurz vor Ende der achten Unterrichtsstunde bekam er einen Sprechkrampf. Der Mund ließ sich nicht mehr öffnen. Zähne und Lippen waren von tonnenstarken Kiefermuskeln aufeinander gepresst. Nur über die Nase konnte er noch lebensrettenden Sauerstoff tanken. Ein hörbares Aufatmen ging durch die weitgehend entschlafene Schülermenge ob dieser plötzlichen und unheimlichen Stille.
Die Klassensprecherin Heike Mulatzki erzählte:
„Wenn ich das nicht selbst erlebt hätte, ich würde es nicht glauben. Der Mann stand fast starr vor der Tafel und sagte kein Wort mehr, einfach nichts, blickte mit starren Augen an die Decke. Eine unheimliche Ruhe breitete sich aus!“
Die Schulsekretärin, Frau Sieglinde Müller, orderte blitzschnell einen Rettungswagen, der Kurt Steinberg sofort ins Krankenhaus brachte. Sie begleitete ihn und berichtete:
„Gerade ein paar Tage vorher war uns das Phänomen des Sprechkrampfes in einem renommierten Wirtschaftsgymnasium in Hamburg Mitte begegnet. Ein Lehrer hatte dort schon in der sechsten Stunde aufgeben müssen. Seine Schüler legten ihn auf das Pult in Seitenlage, um die Nase freizuhalten, da er schweren Schnupfen hatte und zu ersticken drohte. Die Ärzte in der Notaufnahme brauchten fast drei Stunden um den Krampf mit Spritzen zu lösen.“
Bei Kurt Steinberg war es schlimmer. Nach drei Spritzen fing er wieder an zu sprechen und immer schneller seinen noch nicht geschafften Unterrichtsstoff wie ein Automat abzuspulen, um dann nach zehn Minuten in einen erneuten Sprechkrampf zu verfallen. Dieser hält bis heute an.

Ich, Reporter des Abendblattes, besuche den armen Mann in der Chirurgischen Abteilung. Er liegt jetzt schon seit zwei Wochen im Luxus-Einzelzimmer mit Kabelfernsehen und Telefon. Doch Kurt Steinberg kann sich nicht freuen. Er muss über die Nase gefüttert werden, kann nicht sprechen. Und das, wo er immer so viel zu sagen hatte. Er liegt im Bett und starrt mich traurig und hilflos an. Nach einer Weile schreibt er etwas auf einen Zettel, den er mir dann gibt. Darauf steht kaum entzifferbar: Die haben mich hier mit Medikamenten vollgepumpt, aber es nützt alles nichts. Nachher soll ich operiert werden.
Ich verabschiede mich, wünsche Kurt Steinberg eine glückliche Genesung und spreche mit dem behandelnden Oberarzt Dr. Wolfram Schütter. Ich frage ihn:
„Ist der Sprechkrampf nicht eher ein Fall für die Psychologie?“
Er lacht kurz auf und führt mich in das Zimmer der Neurologin Prof. Dr. Adelheid Meier-Kurze, die an einer Veröffentlichung über die sich häufenden Fälle von Sprechkrampf bei Lehrern arbeitet.
Sie berichtet:
„Bisher sind überwiegend Berufspädagogen, vorzugsweise Männer betroffen. Ich kenne den Fall eines 55-Jährigen, der morgens um 7.45 Uhr zur ersten Stunde seinen Unterricht startete und dann nur fünf Minuten vor Schluss der fünften Stunde in einen Dauersprechkrampf verfiel. Er hat dann nach Entlassung aus der Klinik, die sein Leiden nicht beseitigen konnte, pausenlos seinen Unterrichtsstoff aufgeschrieben. Seine Frau berichtete mir, dass inzwischen 123 randvolle Manuskripte, schön sortiert nach Fächern, fein säuberlich gestapelt auf dem Teppich seines Arbeitszimmers liegen. Er hat sogar erreicht, dass das Finanzamt die Kosten für den Raum weiterhin anerkennt. Seine Frau hat ihm kürzlich einen neuen Laptop zum Geburtstag geschenkt, damit er seine Texte schneller und zeitgemäßer verarbeiten kann. Sie hofft, dass es dann später mal wieder möglich wird im Arbeitszimmer zu putzen.“
Frau Prof. Dr. Adelheid Meier-Kurze gibt ihre Hilflosigkeit unumwunden zu und meint: „Ich kann nur experimentieren. Einen Patienten konnte ich fast heilen, indem ich ihm eine Fantasiereise über das Loslassen im Trancezustand suggerierte. An dem Tag hat der Patient drei deutliche Sätze ruhig und langsam gesprochen. Doch am nächsten Morgen, nach dem Waschen, wurde es schlimm. Er sprach so viel wie nie zuvor und hörte nicht wieder auf. Wahrscheinlich ist jetzt alles losgelassen, jede Hemmschwelle beseitigt. Ich kann bei meinem Wissensstand heute zur Vorbeugung gegen das zunehmende Phänomen des Sprechkrampfes und des Redezwanges bei Lehrern nur empfehlen öfter Pausen beim Unterrichten einzulegen und sich grundsätzlich nicht zu lange im Klassenzimmer aufzuhalten.“

Ich fand das unrealistisch. Was sollen die vielen Redner denn machen, die ihr Unterrichtsziel bei immer volleren Lehrplänen schnell und umfassend erreichen wollen? Schließlich haben wir doch in den letzten Jahren auch alle eine Arbeitsverdichtung hinnehmen müssen.
Als ich das Krankenhaus verlasse, wird Kurt Steinberg gerade für die Operation vorbereitet. Man will ihm einen Sprachchip einpflanzen, damit der Sprechfluss nie verebbt und notfalls Texte vom Laptop per Funksignal ständig nachgeladen werden können. Man hofft, dass so bei weiterer von der Schulbehörde geplanter Arbeitsverdichtung und –vermehrung auch neunte Stunden möglich werden. Lehrer sind einfach zu teuer geworden.

 



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Kommentare zu diesem Text


 Hobbes (25.11.22, 05:57)
Sehr geehrter uwesch,

vielen Dank für diesen Beitrag!! Da sieht man es schon wieder, die deutschen Schulen zählen zu den härtesten der Welt!! Lehrer sein ist mitunter gefährlicher als Kick - Boxen und der Unterricht ist wichtiger denn je.

Beste Grüße

Peter

 uwesch meinte dazu am 25.11.22 um 10:12:
Na ja, so ganz pauschal stimmt das sicher nicht. Ich habe den Job nach meinem Elektro-Ingenieurdasein und Zweitstudium in BWL und Wirtschaftspädagogik im Großen und Ganzen ganz gern gemacht
LG und Dank für Deine Empfehlung.

 Hobbes antwortete darauf am 25.11.22 um 11:59:
Guten Tag uwesch,

ein sehr wichtiges Thema!! Danke, dass du es ansprichst.

Gruß

Peter

 AchterZwerg (25.11.22, 08:33)
Am Ende bleibt dann nur die Frühpensionierung.
Eine genervte Ehefrau kann sich dann endlich (!) als gute Zuhörerin erweisen.
Die Arme. Oder sie quatscht mit. 8-)

 uwesch schrieb daraufhin am 25.11.22 um 10:08:
oje   Dank für Deine Empfehlung. LG Uwe

P.S.: Wir haben das Belastungsproblem so gelößt, dass meine Frau und ich beide auf Teilzeitbeschäftigung gegangen sind, zumal wir auch noch ein Pflegekind aufgenommen hatten.
Klar, das hat natürlich kräftige Abschläge bei der Altersversorgung gegeben, was ich aber als bescheiden lebender Mensch nicht als Problem sehe.

Antwort geändert am 25.11.2022 um 12:38 Uhr
wa Bash (47)
(25.11.22, 17:47)
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 uwesch äußerte darauf am 25.11.22 um 18:25:
In den kaufmännischen Berufsschulen führte die Einführung von EDV-Inhalten und der Anschaffung von Computern zu einem erheblichen zusätzlichen Stress bei LehrerInnen, die überwiegend davon keine Ahnung hatten. Das führte dazu, dass die sowieso schon mit Themen überlasteten Lehrpläne durchgehechelt wurden.
Auf meine Initiative hin beim Hamburgischen Schulsenator wurden dann je zwei LehrerInnen der 20 Handelsschulen in Hamburg abgeordnet und von mir zusammen mit einem Kollegen in zweijährigen Ausbildungslehrgängen in der Anwendung der EDV geschult, sodass sich die Lage mit der Zeit entspannte. Natürlich ging das zu Lasten anderer Inhalte, sodass entschieden werden musste, welche davon  entfallen konnten. Da mussten die KollegeInnen, die es gewohnt waren immer denselben Stoff durchzuhecheln, ihren Widerstand aufgeben. Die Lehrpläne wurden überarbeitet, was natürlich vielen alteingesessenen KollegInnen überhaupt nicht gefiel. Letztendlich ist der Unterricht für die Berufsschullehrer zunächst stressiger geworden. Nach ein paar Jahren hat sich die Problematik gelöst, denn auch die Betriebe machten immer mehr Druck und die Lehrpläne wurden erneuert.
LG Uwe
wa Bash (47) ergänzte dazu am 25.11.22 um 18:34:
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 EkkehartMittelberg (25.11.22, 20:09)
Hallo Uwe,
ich kenne einige Kollegen, deren Ehrgeiz es war, dass die Schüler mehr Sprechzeit hatten als sie selbst. Für sie war die Gefährdung durch Sprechkrampf gering.

 uwesch meinte dazu am 25.11.22 um 20:19:
Sicher. Doch eine gut angeleitete Gruppenarbeit, zu der die Lehrkraft nur Impulse gibt, kann die Stimme auch entlasten und fördert vor allem die Selbständigkeit der SchülerInnen, die ja als Berufsschüler schon eine gewisse Reife haben.
Na ja, wir als Pensionäre müssen uns dazu ja keine Gedanken mehr machen :)
Dank Dir für Deine Empfehlung und LG Uwe

 Naja (25.12.22, 09:31)
Guten Morgen, Lieber 
ich hatte mich schon ausgeloggt und bin über den Empfehlungsbutton auf der Startseite doch noch schnell hier gelandet - und was soll ich sagen? Musste mich wieder einloggen um Dir unbedingt zu sagen, dass ich während des Lesens derart Spaß hatte, dass mir nun die Bauchmuskeln weh tun. Es gäbe hier soviel Für und Wider zu erörtern - das lasse ich lieber, sonst tun auch noch die Finger weh - auf alle Fälle aber: Vielen Dank für diesen herrlich dämlichen Spaß am Morgen!
Fröhliche Grüße vom Naja :D <3

 uwesch meinte dazu am 25.12.22 um 14:00:
Naja das war dann ein kleines Weihnachtsgaudi für dich. Aber die Realität sieht bei manchen LehrerInnen vor allem in den Berufsschulen  durchaus ähnlich aus, um die Stofffülle laut Lehrplan an die Jugendlichen und Azubis zu bringen.
LG und Dank für die Empfehlungen von Uwe

Antwort geändert am 25.12.2022 um 14:02 Uhr

 Regina (25.12.22, 16:10)
Wie sieht idealer Unterricht aus? Immer wieder kontrovers diskutiert. Soll da gespielt werden, sollen die Schüler die Lektionen gestalten oder taugt der traditionelle Frontalunterricht noch immer? Heiserkeit oder Nervenkrise? Lehrplan oder vernünftiges Maß an Anforderungen? Diesen Problemen und mehr stehen die Schulen gegenüber.

 uwesch meinte dazu am 25.12.22 um 18:14:
Entscheidend ist, dass man mit verschiedenen methodischen Ansätzen arbeiten sollte. Erst eine gewisse Abwechslung macht den Unterricht lebendig. Das ist doch wie im Leben. Immer wieder nur dieselben Dinge tun ödet mit der Zeit an - finde ich. Mag sein, dass sich manch Eine(r) sicherer fühlt, wenn er/sie methodisch immer wieder gleich angesprochen wird, den Erwartungen genügend. Doch ein lebendiger Unterricht oder ein lebendiges Seminar an der Uni kommt besser an, u.a. auch weil es die eigene Kreativität anregt.
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