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Ansprache zum Thema Harmonie

von  EkkehartMittelberg

Die Idylle mit dem Topos des locus amoenus (lieblicher Ort) hat seit der Antike (Theokrit, Vergil, Catull) in der Literaturgeschichte eine lange Tradition. Die Epoche der Anakreontik im Rokoko (Mitte des 18. Jahrhunderts) brachte in immer neuen Variationen zahllose idyllische Gedichte hervor. Zu den Requisiten dieser Lyrik gehörten ein lieblicher Ort, zum Beispiel ein Wiesengrund mit Schäfer und Schäferin und friedlich grasenden Lämmern, eine munter sprudelnde Quelle sowie eine sanft flötende Nachtigall. Die Schäferstündchen in der Idylle verlaufen konfliktfrei.

Obwohl der Stoff der Idylle spannungsarm ist, dauerte es Jahre, bis die Anakreontiker des Spiels mit der Utopie überdrüssig wurden. In der Zeitschrift „Gartenlaube“ wurde die Gestaltung von Idyllen unter dem Einfluss der Romantik fortgesetzt. Indes war sich die Literaturkritik immer bewusst, dass Idyllen, weil sie die Wirklichkeit des Industriezeitalters aussparten, eine Nähe zum Kitsch hatten.

Ich gestehe, dass ich zu den Menschen gehöre, die im Urlaub gerne eine Idylle suchen, obwohl ich weiß, dass deren Harmonie eine Illusion ist.

Diesmal habe ich im Schwarzwald zwei Idyllen angetroffen, die mich durch ihre Gegensätzlichkeit fasziniert haben. Von Bad Sulzburg aus kann man tief im Walde auf einer schmalen Zufahrt ein Hotel entdecken, das in einem einzigartig stillen Ambiente liegt und das Interieur der Idylle in Perfektion bietet: ein munter plätscherndes Bächlein, uralte Linden, duftende Wiesenkräuter und Vogelgezwitscher, dass kein einziges Auto mit seinem Lärm stört. Wenn es dort überhaupt ein Problem gibt, besteht es darin, dass man sich an die ungewöhnliche Stille gewöhnen muss. Die wirkt aber nach kurzer Zeit wie Balsam.

Die andere Idylle, ein Restaurant namens Rosenstübchen im Kleinen Wiesental, kann mit tiefer Stille nicht dienen. Es liegt an einer relativ viel befahrenen Straße und wird unter anderem auch von Motorradfahrern in Gruppen aufgesucht. Das ganz in Weiß gehaltene Restaurant mit schattigen kleinen rosenumrankten Gartenplätzchen liegt ein paar Meter gegenüber einer größeren rustikalen Schänke. Die heitere Atmosphäre des locus amoenus mit seiner mediterranen Botanik überträgt sich auch auf die rustikale Schänke und es geschieht das kleine Wunder, dass die Motorradfahrer äußerst bedacht sind, die Idylle nicht zu stören, sich gedämpft unterhalten und beim Wegfahren mit ihren schweren Maschinen nur minimalen Lärm verursachen. Man merkt, dass sie die Idylle gesucht haben und an ihrer Erhaltung interessiert sind. So etwas Paradoxes erlebt man selten: Der lärmende Massentourismus sucht bewusst die Stille.



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Kommentare zu diesem Text

Terminator (41)
(24.06.23, 01:36)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.23 um 10:03:
Hallo Terminator,
du bekennst dich zu einer Idylle, die auf mich nicht lieblich wirkt, eher imposant. Warum nicht? Freilich eignet sich diese Idylle weniger als Kontrast zu spannungsgeladenen Bildern.

 Graeculus (24.06.23, 02:33)
Du weist ja mit Recht darauf hin, daß das literarische Genre aus der Antike stammt; der ursprüngliche Begriff dafür lautet εἰδύλλιον.

Verwandt ist es wohl mit dem Genre der Bukolik, der Hirtendichtung, auch schon aus der Antike.

Als witzig empfinde ich es und vielleicht auch als ein Blick hinter die idyllisch-bukolische Kulisse, daß im Nildelta der Antike gefürchtete Räuberbanden lebten, die man Bukolen nannte. Auch sie spielen eine gewisse Rolle in der antiken Literatur, wenn auch eher in den (dramatischeren) Romanen. Da wird die Geliebte von Bukolen entführt etc. pp.

Solche idyllischen Orte, wie Du sie schilderst, gibt es noch mehr im Schwarzwald, einen sogar hier ganz in der Nähe. Ein abgelegenes Tal mit allerlei freilaufenden Enten, Hühnern und Schafen sowie einer Gastwirtschaft: Zieflensberg. Ein Problem dieses Ortes und vielleicht so mancher anderer erwähnst Du nicht: Dort gibt es weder Internet noch Mobilfunk. Wer hält das heute noch für mehr als zwei Stunden aus?

 AchterZwerg antwortete darauf am 24.06.23 um 05:11:
Ich! :)

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.06.23 um 10:15:
Merci, Graeculus, hast du eine Vermutung oder gibt es sogar schriftliche Hinweise darauf, weshalb schon in der Antike, die noch nicht die Spannungen einer industrialisierten Welt aushalten musste, Idyllen so beliebt waren?
Das Fehlen von Internet in den verschwiegenen Wiesentälern des Schwarzwalds macht die Idylle ja erst perfekt. Für mich wäre es eine willkommene Ausrede, ganz abschalten zu können.
Ist es richtig, dass die erste Idylle des Altertums dessen Bilder von Arkadien sind?

 Graeculus äußerte darauf am 24.06.23 um 14:58:
Lieber Ekkehart,

als Gründe für eine Neigung zur Idylle kann ich mir vorstellen eine Epoche nach unruhigen, kriegerischen, bürgerkriegerischen Zeiten, oder schon währenddessen. Auf Anhieb meine ich, daß das sowohl auf die Epoche des Hellenismus als auch auf die des Augustus paßt. Mal Abstand, endlich Ruhe.

Arkadien ist eine Landschaft auf der Peloponnes, also kein Phantasieland. Bekannt war es für Viehzucht und Getreideanbau, also ländlich. Warum gerade es diese literarische Bedeutung bekommen hat und ob es der erste Fall dafür war, weiß ich nicht.

Fehlende Internet- und Mobilfunkverbindung sind nichts, was mich stört. Jedenfalls nicht für die Dauer eines Urlaubs. Für immer? Hm, hm. Dann müßten wir - und nicht nur wir - uns wohl voneinander verabschieden.

 harzgebirgler (24.06.23, 07:19)
hallo ekki,

so eine art arkadien zu finden
ist schwer weil längst dergleichen orte schwinden!
zu 'pastorale oder idylle' von cezanne
fällt mir die 6. ein von ludwig van
die gleichfalls 'pastorale' heißt und zeigt
wie unterschiedlich künstler zugeneigt
bukolischer thematik sind in werken
denen wir dies schwinden schon anmerken.

lg
henning


Cezanne, Pastorale oder Idylle

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 24.06.23 um 11:00:
Gracias für deine bemerkenswerten Hinweise, Henning, zeigen sie doch, dass die Moderne es nicht mehr wagt, die ganz naive Idylle zu zeichnen. Cezanne deutet bereits die Vereinzelung des modernen Menschen an und Beethovens Musik verweist durch Spannungsreize fast immer auf die Gefährdung der totalen Harmonie.
Beste Grüße
Ekki

 Saira (24.06.23, 08:09)
Lieber Ekki,
 
beim Lesen deines Reiseberichts an idyllischen Orten habe ich mich zurückgelehnt und Bilder entstehen lassen. Ich liebe ruhige, in der Natur gelegene Reiseziele. So etwas wie der Ballermann könnte mich töten.
 
Interessant ist für mich, wie sich die Idylle der rustikalen Schänke auf das eher unruhige und von einem lauten Umfeld umgebene Restaurant überträgt und sogar auf das Verhalten der Motorradfahrer beeinflusst.
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.23 um 11:24:
Grazie, Sigi, du hast genau den Punkt getroffen, der auch mich beschäftigt.
Die heitere rokokohafte Schönheit des Rosenstübchens greift auf die rustikale Schänke über und vermittelt den Motorradfahrern das Bedürfnis nach harmonischer Ruhe. Ich hätte nicht gedacht, dass positive Beispiele eine solche Kraft entfalten können.
Man hört häufiger, dass chaotischer Lärm mitreißt, vielleicht weil diese Wirkung sensationeller ist.
Herzliche Grüße
Ekki
Taina (39)
(24.06.23, 08:25)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.23 um 11:31:
Gracias, Taina, ich weiß, was du meinst, obwohl man die Kunst nicht als Gegensatz zur echten Welt verstehen muss. Ich suche gelegentlich beide Formen der Idylle, bin mir aber stets der Gefahr der kritiklosen Schwelgerei bewusst.
LG
Ekki
Taina (39) meinte dazu am 24.06.23 um 16:36:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.06.23 um 12:30:
Ja, Taina, auf das gelegentliche Aufsuchen kommt es an. Wer es zu oft tut, gleicht, dem, der immer lauwarm badet.

 AZU20 (24.06.23, 09:16)
Ich war im vorigen Jahr mit einem meiner Enkel im Schwarzwald. Volle Zustimmung, prima beschrieben. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.23 um 11:47:
Danke, Armin, der Schwarzwald scheint als Hort von Idyllen eine Renaissance zu erleben
LG
Ekki

 Maroon (24.06.23, 10:52)
Die Idylle hat für gewöhnlich nicht lange Bestand, wenn sie weitererzählt und als Urlaubs- oder Freizeittipp gehandelt wird. Insofern finde ich deine Beschreibung des Rosenstübchens bemerkenswert ...

lg
Maroon

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.23 um 11:53:
Gracias, Maroon, ich sehe das Problem genauso wie du. Die Wirkung des Rosenstübchens scheint nicht typisch zu sein. Mich würde sehr interessieren, ob es noch weitere Beispiele für "unkaputtbare" Idyllen gibt.
Dieter Wal (58)
(24.06.23, 15:00)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.06.23 um 12:32:
Danke, Dieter, du sorgst mit deiner Belesenheit dafür, dass literarische Kleinode nicht vergessen werden.

 plotzn (25.06.23, 09:22)
Servus Ekki,

das Verhalten der Motorradfahrer ist in der Tat erstaunlich. Vermutlich sind es keine Rockergangs
Ich selbst habe Idylle zum ersten mal an den Plitvicer Seen in den frühen 70er Jahren erlebt. Damals waren sie noch wenig touristisch erschlossen und wenn man früh genug aufstand, war man praktisch alleine in einer zauberhaften Wasserwelt. Ein paar Jahrzehnte später war ich noch mal dort und der Ort ist leider zum Touristenrummel verkommen.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.06.23 um 12:39:
Merci, Stefan, die Erfahrung ramponierter Idyllen habe ich auch einige Male machen müssen. Aber das Rosenstübchen scheint zu belegen, dass einige wenige ihren Besuchern Respekt einflößen.

Liebe Grüße
Ekki
Teolein (70)
(25.06.23, 13:15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.06.23 um 17:08:
Merci Teo,
ich unterstelle dir hier ein bisschen Selbstironie. Seit dem Biedermeier sind die Deutschen ja für ihren Rückzug in die Garten-Idylle bekannt. Idyllen entpolitisieren also. Deshalb dürfen sie nie zu dauerhafter Heimat werden.
Von Holunderbusch zu Holunderbusch
Ekki
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