Mein Rekord im Nicht-Lesen

Bericht zum Thema Vergangenheit und Zukunft

von  eiskimo

Man kann von der Autorin Sandrine Collette einiges erwarten. In Frankreich ist sie sehr erfolgreich und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Für ihren Roman „Schwarze Tränen im Staub“ bekam sie 2018 den „Prix des Lecteurs.

Ich selbst aber kann gar nichts über die Autorin und noch weniger über diesen Roman sagen. Warum? Weil ich nur den ersten Satz dieses Werkes gelesen habe. Tatsächlich nur den ersten Satz und kein Wort mehr.

Was hat es mit diesem ersten Satz auf sich? Nun, ich konnte und musste den nur auf mich selbst beziehen. Volltreffer. Madame Collette hatte mich erwischt. Weiterlesen ging nicht. Rien ne va plus, hätte ich ihr zurufen können. Und dann musste ich selber was schreiben, mich sozusagen da hinein schreiben, in ihre so herausfordernde Ansage.

Was, mon Dieu, hatte Sandrine Collette denn Schlimmes als Einstiegssatz da formuliert? Voilà:


Das, woran ich mich erinnern werde, wird verdammt wenig sein.“


Jawohl, war meine erste Reaktion: Unfassbar wenig...  Mein Gedächtnis ist in der Tat total chaotisch, völlig überfordert mit meinem wilden, hektischen Leben. Schon diese kleine Eingangsgeschichte, wie, wo, wann genau und warum ich Sandrine Collette in die Finger nahm, um genau an ihrer so negativen Ansage hängenzubleiben, die verschwamm schon. War ich es überhaupt selber gewesen, der den Griff zu diesem unscheinbaren „Livre de Poche“ auslöste? Oder waren da in meiner Erinnerung nur Impulse kumuliert- der Name war irgendwo mal gefallen, der Roman von jemandem erwähnt, mir war nach was Französischem ...

Ich frage mich überhaupt: Gibt es in unserem Inneren tatsächlich einen Speicher, in dem wir das einmal Wahr-Genommene (was für ein gutgläubiges Wort!) ablegen können? Bewusst ablegen? Systematisch oder rein zufällig? Sortiert, vielleicht nach „schön“ oder „mies“, „wichtig“ oder „unwichtig“?

Hätte dieser Speicher dann eine Art „Timer“ mit Eingangsdatum, Haltbarkeitsanzeige, Memo-Taste? Vielleicht auch so etwas wie eine Automatik der Verdrängung und des Verschwinden Lassens?

Bei mir, wie gesagt, eher Chaos. Salopp ausgedrückt: Eine Rumpelkammer mit reichlich Staub und Zerfall. Dieser Raum für mein Erlebtes, nein, der liegt einfach nur hinter mir. Da ist kein Schloss vor, da wird nie aufgeräumt und schon gar nicht Buch geführt. Hinein mit dem Vergangenen, und schon sind meine Antennen wieder auf die Gegenwart ausgerichtet.

Eine höhere Instanz hätte mich dazu anhalten müssen, das Wahr-Genommene als Back-Up-Version aufzuzeichnen, also diesen von und mit mir selbst gedrehten Film in Kopie abzulegen. Rund um die Uhr. Und das nicht nur auf der Ebene des Real Erlebten, sondern auch des Geträumten, des gar nicht bewusst ´Rausgelassenen.... Ein totaler Mitschnitt meines Lebens.

Gute Sandrine Collette – wenn Du diesen Aufwand vor Augen hattest bei deinem Eingangszitat, okay, da könnte ich verstehen, worauf du hinaus wolltest..

Andererseits, liebe Sandrine: Ich hätte bei diesem Mitschnitt endlich klare und verwertbare Muster, aus denen ich Erkenntnisse heraus destillieren könnte, Selbsterkenntnis zum Abgreifen. Für den Chaoten pädagogisch wertvoll. Was für ein unorganisierter, unstrukturierter Kerl ich da doch bin – bestimmte Pannen und Versäumnisse kämen nicht nur immer wieder, ihre Ursache käme mir auch endlich einmal zu Bewusstsein. Meine weltfremden Erwartungen, mein falscher Ehrgeiz, die vermasselte Erziehung – alles wäre schlüssig ablesbar aus dieser Langzeit-Doku.

Und dann? Vor lauter Rückwärtsgewandtheit und Analyse wäre ich zurecht gestutzt auf ein optimiertes Ich, ich würde den Saubermann machen, den weichgespülten Nachwuchs-Clooney, die Best-Of-Version meiner selbst... immerzu!

Ja, der Satz, mit dem ich dann Sandrine Collette akkurat Kontra geben könnte, er würde lauten:


Das, woran ich mich erinnern werde, wird verdammt präzise sein!“


Frage: Würde es sich lohnen, mit dieser hermetischen Selbstkontrolle sein Leben vorzuführen?

Die Antwort scheint mir klar. Trotzdem werde ich jetzt erst einmal wieder zu „Schwarze Tränen im Staub“ greifen und alles (!) lesen, was Madame Collette da zum Thema Erinnerung formuliert hat.




Anmerkung von eiskimo:

Der Titel im Original: Les larmes noires sur la terre, Paris 2017

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Saudade (07.09.25, 01:26)
Ich mag den Satz, weil er so verdammt wahr ist.

 Graeculus meinte dazu am 07.09.25 um 01:37:
Die Frage, ob das, woran ich mich erinnern werde [wann denn? nachdem es geschehen ist?], viel oder wenig sein wird, habe ich mir noch nie gestellt - vermutlich deshalb, weil es mir so viel erscheint ... und mit mir untergehen wird.
Der Satz des Sterbenden am Ende des Films "Bladerunner" hat mich betroffen gemacht: "All these moments shall be lost in time like tears in rain."

Die Hoffnung, daß (meine) Erinnerungen verdammt präzise sein werden, die habe ich nicht. Aber bunt und vielfältig sind sie.

 Saudade antwortete darauf am 07.09.25 um 01:48:
Guter Schlussabsatz.

 eiskimo schrieb daraufhin am 07.09.25 um 10:22:
Bunt und vielfältig, ja, irgendwie schon. Aber nur ein Bruchteil des Erlebten wird noch abrufbar sein. Und es braucht irgendeinen Auslöser. Bei mir sind es oft alte Fotos, die ganze Geschichten wieder beleben. Ohne die Foto-Brücke wären sie weg....

 LotharAtzert äußerte darauf am 07.09.25 um 10:31:
Ach, ihr Leut'!
Je bewußter ein Erfahren, umso müheloser die Erinnerung. Das aber, was ich rahmdösig verdämmere, verdämmert auch mich.
Ist doch immer das selbe: Bewußtsein heißt bewußt sein; Unbewußtsein unbewußt sein. ... schwere Kost, wa?

 eiskimo ergänzte dazu am 07.09.25 um 11:52:
Die schwere Kost laden wir uns selber auf den Teller. Nähmen wir am übervollen Buffet bewusst (!) nur eine einzige Köstlichkeit, könnten wir noch tagelang davon schwärmen. Wir packen uns aber in fünf Gängen möglichst von allem was drauf, so dass kaum Erinnerung bleibt - nur, dass es verdammt viel war.
So zumindest meine Erfahrung.

 AchterZwerg (07.09.25, 07:28)
Madame hat leider Recht.
Gerade die zügig Alternden wissen darum. - Da ist nix von Präzision zu spüren. Oder besser gesagt:
"Wir erinnern uns nur an die Dinge, die nie geschehen sind."
Von wem das Zitat ist, habe ich vergessen.  8-) Könnte evtl. von Arthur Schnitzler stammen ...

 eiskimo meinte dazu am 07.09.25 um 10:24:
Schönes Zitat! Das steckt viel Wahrheit drin. Mehr Wahrheit als in unseren Rückblenden, die wir uns oft zurechtbasteln, je nach Bedarf und Stimmung.
LG
Eiskimo

 Arapaima (07.09.25, 11:59)
Auch auf mich wirkt dieser Satz als Warnung, das Buch nicht zu lesen. Der Satz warnt vor etwas Oberflächlichem und das wäre nicht nach meinem Geschmack. Ich lese gerne dramatisches, rätselhaftes oder poetisches, Lesefutter, woran meine Gedanken gerne knabbern, vergesse ich nicht so leicht.

 eiskimo meinte dazu am 07.09.25 um 12:41:
Das Wort Nach-Denken sagt es ja auch.....
Mit anderen über einen Gedanken sprechen, sich in Pro und Contra darüber auseinandersetzen, vertieft es ebenfalls ... Und bleibt haften.
Zur Zeit online: