Habt ihr schon mal von Gilbert Pradel gehört, Gigi genannt, dem Obermacker von Bonnard? Nein, habt ihr nicht. Bonnard ist schließlich nur ein verlorenes Kaff im Morvan, das ziemlich abgehängt ist, verglichen mit den mondänen Wein-Dörfern Burgunds, die mehr als eine Autostunde entfernt liegen. In Bonnard lebt man – mehr schlecht als recht – von der Rinderzucht und ein bisschen Forstwirtschaft.
Wenn ich eben Gigi als den Obermacker von Bonnard bezeichnet habe, dann sollte damit gleich klar werden, dass dieser knapp 50jährige Kleinunternehmer ein vor Selbstbewusstsein strotzender, durchaus prolliger und dominant daherkommender Mann ist – Macho überdies und ziemlich skrupellos.
Ich kenne ihn seit fast vierzig Jahren, und natürlich war er auch damals schon, als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, der Obermacker unter den Jugendlichen des Dorfes. Nicht sehr groß gewachsen, aber kräftig von Statur; leicht rötliche Haare, Sommersprossen und helle, stets wachse Augen. Der erste in der Clique, der mit dem Rauchen anfing, der erste, der ohne Führerschein ein dickes Motorrad fuhr und – klar! – der erste, der sich als „dragueur“ hervortun musste, also mit Mädchen ´rummachte. Klar auch, dass er nach erfolgreicher Flachlegung damit bei den Kumpels dann lautkehlig angab.
Ja, Gigi, der brauchte das offenbar, dieses Vorweg-Reiten und auf dicke Hose machen.
Daran änderte sich auch nichts, als er tatsächlich heiratete. Zwar verschwand er damit aus der Junggesellen-Arena Bonnards, aber Beweise seiner Männlichkeit musste er trotzdem weiterhin erbringen.
Die so Beschenkte hieß Claire. Ja, die hatte sich getraut, Gigi an die Leine zu legen – vorübergehend zumindest. Ich kannte die kleine schwarzhaarige Tochter von Malermeister Marcellin. Auch so eine Nummer… Die hatte immer mit den Burschen am Badesee ´rumgehangen, und bei den Moped-Rodeos und Grill-Fêten dort war sie immer an vorderster Front dabei. Natürlich wusste diese Claire, auf wen bzw. was sie sich da einließ. Böse Zungen in Bonnard unterstellten ihr auch, diesen Schritt sehr wohl kalkuliert zu haben. Denn ihr Gigi war nicht nur besagter Obermacker – sagen wir mal vornehm: der Primus auf der gesellschaftlichen Bühne, nein, unser Dorf-Zampano war inzwischen auch beruflich richtig durchgestartet.
Die unbedeutende Gärtnerei, die er vom Vater Maurice übernommen hatte, war unter seiner Regie zur zweitgrößten Tannenbaum-Plantage des Morvan prosperiert. Nein, ein Dummer war Gigi nicht. Er hatte nämlich schon Ende der 90er Jahren erkannt, dass der Standort-Vorteil des Morvan bares Geld wert war. Nur drei Autostunden von Paris entfernt, konnte er die Hauptstadt mit frischester Ware beliefern, und das mit Bäumchen aus heimischem Anbau.
Dass er riesige Flächen ökologisch wertvollsten Laubwaldes abholzte, um seine Tannen-Plantage auszuweiten, fiel anfangs nur wenigen Naturfreunden auf. Auch der Einsatz von großen Mengen Pestiziden und chemischem Dünger war in Bonnard kein Thema.
Man sah nur, dass der Lokalmatador mit seinen Weihnachtsbäumen richtig Kasse machte, und dass das Unternehmen boomte. Nach Jahrzehnten des Niedergangs und der Landflucht endlich mal eine Erfolgsgeschichte für diese strukturschwache Gegend.
Gigi war natürlich in allen wichtigen Gremien des Dorfes präsent. Gemeinderat, Handwerkskammer, Festkomitee, bei den Jägern – für ihn Gelegenheiten zu kungeln, sich spendabel zu zeigen, sich feiern zu lassen, vor allem aber, frühzeitig mit zu bekommen, wenn sich politisch etwas Sensibles tat. Dass er mit dem Bürgermeister Jeannot Desmoulins – ein Kumpel aus frühsten Jugendzeiten – dick Freund war, versteht sich. Keine Entscheidung, an der Gigi nicht beteiligt war. Und da sich keiner mit dem neuen Star Bonnards anlegen wollte, lief auch alles schön zu seinen Gunsten.
Wäre Gigi ein bescheidener, diskret agierender Nutznießer gewisser „connections“ gewesen, dann hätte diese Erfolgsgeschichte munter weiter gehen können. Gigi hätte weiter reichlich Glyphosat gespritzt, der Morvan wäre inzwischen ökologisch zur Monokultur mutiert, und ich hätte an dieser Stelle auch nicht viel Neues zu erzählen.
Aber Gigi brauchte immer den großen Auftritt, ja, wenn möglich den ganz großen. Und dann kam diese Sache mit der Anweisung von ganz oben – konkret: eine Verordnung der Präfektur, dass Ortsdurchfahrten wie die in Bonnard in Tempo-30-Zonen umzuwandeln seien, und zwar mit baulichen Veränderungen „geeignet die Durchfahrt nachhaltig abzubremsen“.
Oha. Bürgermeister Desmoulins hatte keine Wahl. Er musste die „Grande Rue“ von Bonnard mit Schikanen versehen lassen, also massiven Verkehrsinseln, die alle Fahrzeuge zu deutlichen Lenk- und Bremsmanövern zwingen würden.
Man muss hier wissen, dass Bonnard an einem Hang liegt, die Grande Rue mit ihrem Gefälle sehr imponiertauglich ist und kaum einer sie mit weniger als 50km/h durchfährt. Ich selber hatte die Raser in Bonnard schon lange auf dem Kieker und fand die lebenserhaltende Maßgabe mehr als überfällig. Gilbert Pradel, unser erfolgreicher Unternehmer in Sachen Tannenbäumchen, fand das nicht. Von Freunden aus der Mairie erfuhr ich, dass er total ausgerastet sei. Diese Schikanen seien ein persönlicher Angriff auf ihn und seine Firma – alle Maschinen und Transporter müssten nun erhebliche Widrigkeiten in Kauf nehmen, um an ihre Einsatzorte zu gelangen. Das bedeute Stress, Zeitverlust, Verdienstausfall – kurz: Mit ihm nicht!
Jeannot Desmoulins tat dann, was ich ihm nie und nimmer zugetraut hätte: Er setzte die Verordnung in die Tat um. Ja, Bonnard bekam richtige hoch aufgepflasterte Verkehrsinseln. Total schikanös! Dicke Schilder machten auf die Fahrbahnverengungen aufmerksam.
Und was tat Gilbert Pradel, der öffentlich Gedemütigte? Nun, er kündigte seinem Schulkameraden und ewigen Kumpel Jeannot die Freundschaft. Und um ihn und alle seine Gefolgsleute mit viel öffentlicher Wirkung zu bestrafen, kaufte er sich einen Quad. Wer diese Jeep-ähnlichen Gefährte nicht kennt: Es sind bullige kleine Fahrzeuge mit dicken Rädern, die einen Höllenlärm machen. Ursprünglich fürs Militär erfunden, um Kraterlandschaften zu überwinden, gibt es sie auch im Morvan in der Landwirtschaft. Es sind die kleineren Modelle, kaum auffällig. Gigi aber kaufte sich einen XXL-Quad, military-grün mit speziellem Sound-Verstärker.
Jeden Tag fährt er jetzt extra durch Bonnard, missachtet dabei rumpelnd jegliche Aufplasterungen und Schikanen und macht dabei infernalischen Krach.
Alle im Dorf wissen dann: Ah, Gigi fährt wieder zum Bäcker. Gigi holt Zigaretten. Oder Gigi muss zur Tankstelle. Die meisten Bürger Bonnards halten weiter zu ihm, grüßen freundlich. Gigi hält dann gerne an. Man wechselt ein paar Worte, schreiend, bei laufendem Motor. Anderen geht der Zirkus mächtig auf den Keks. Vor allem, wenn Gigi dann immer noch eine Ehrenrunde anhängt, brumm-brumm, um das Haus von Jeannot Desmoulins herum. Aber sagen tun sie es ihm nicht, ihrem Gigi. Schließlich zeigt er ja irgendwie, dass er Eier hat bei diesem trotzigen Kampf gegen die Politik und für die Freiheit.
Ich selber bin im Dorf nur der Exot, der tatsächlich noch viele Wege mit dem Fahrrad macht. Mit Gigi verbindet mich nichts. Ganz spurlos blieb sein Gehabe dennoch nicht. Denn ich finde mittlerweile den Brauch, sich an Weihnachten einen frisch geschlagenen Tannenbaum ins Wohnzimmer zu stellen, zunehmend fragwürdig.