Zeitenwende am 4.9. um 16.17 Uhr

Reportage zum Thema Gegensätze

von  eiskimo

Ich habe eine Zeitenwende erlebt. Knallhart. Die fand statt ziemlich genau am 4. September um 16.17 Uhr. Und ich befand mich in Lyon, wollte gerade abreisen.

Das Hotelzimmer hatte ich schon um 11 Uhr räumen müssen. Mein Zug ging erst abends, um 17.11 Uhr. Und es regnete. Es regnete heftig.

Drei schöne Tage lagen hinter mir. Ich hatte die drittgrößte Stadt Frankreichs intensiv genossen, von der Spitzenküche à la Bocuse über die Villa der Gebrüder Lumière, das futuristische Musée Confluence bis hin zur Basilika Fourvière – alles intensiv genossen. Ich war also im besten Sinne durch mit Lyon. Und dann, an besagtem Abreisetag, regnete es.

Lyon ist nicht für Regenwetter gebaut. Da sitzt man normalerweise im T-shirt auf einer Terrasse, genießt die Sonne, schaut dem fast italienisch anmutendem Treiben zu – alle Menschen bewegen sich draußen, man ist im Süden.

All dies nicht am 4. September. Da stand ich nach ausgiebigem Frühstück an der Place Bellecour und sah nur eilig hastende Leute mit Schirm. Null Farniente. Aber ich, ich hatte alle Zeit der Welt. Und weder einen Schirm noch mein Regencape mit.

Kaufhäuser sind nicht mein Ding. Die spannenden Museen hatte ich alle schon gesehen. An der Saône oder auch Rhône Lustwandeln – nee, nicht bei diesem Sauwetter. Sechs oder sieben Stunden in einem Café sitzen und lesen? Okay. Damit konnte ich zumindest mal anfangen.

Bis halb Eins war ich auch halbwegs beschäftigt. Aber es zog sich. Viel passierte nicht, so dass ich beschloss, das Lokal zu wechseln – ein paar Meter weiter gab es in der Brasserie „Chez Jacques“ ein Menu du Jour, das mir über eine weitere Stunde würde weiterhelfen können. Naja, als Vorspeise Ei mit Mayo, da musste ich schon den Zeitlupengang einschalten. Danach die Quenelles – eine Art Knödel – die waren auch sehr überschaubar. Gut, dass ich mit dem Brot ein bisschen Soße tunken konnte – einfach nur Zeitspiel. Das abschließende Dessert hielt mich auch nicht länger auf: Ile flottante, zu Deutsch: Eischnee auf Vanillesoße. Naja.

Draußen regnete es immer noch. Ich hatte mir einen Pichet Rotwein gegönnt, aber der half mir auch nicht wesentlich weiter. Noch gut drei Stunden auf der Uhr. Und diese Uhr ließ sich richtig Zeit. Es wollte nicht vorangehen.

Im Hotel hatte man mir angeboten, mein Gepäck zu verwahren. Das musste ich ja auch noch holen. Mit ein paar Umwegen würde ich wieder ein paar Minuten tilgen können. Vielleicht dabei noch ein Schwätzchen an der Rezeption – mir wäre jedes Thema recht.

Tatsächlich nahm ich damit dann eine volle Stunde von der Uhr, hatte wohl durch die kleinen Umwege dann aber etwas nasse Füße. Mit Rucksack und Rollköfferchen im Schlepp war meine Lust auf neue zeit-wegnehmende Aktivitäten dann eher gering.

Ach, ich würde einfach mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Perrache fahren – pourquoi pas? Perrache, so hieß der Bahnhof, an dem ich vier Tage zuvor angekommen war - spät abends, und es war trocken. Ich hatte mir ein Taxi gegönnt, und das war gut 20 Minuten unterwegs gewesen.

Jetzt, mit Bus und Straßenbahn, könnte ich da ganz gemütlich hintuckern, ja, vielleicht noch so eine Art Stadtrundfahrt einbauen – der ÖNVP in Lyon ist vorbildlich ausgebaut.

Und siehe, ich konnte das noch einmal in extenso bestätigen. Denn dieses Fahren hatte richtig Zeit weggenommen, langsam aber stetig. Um mich herum nur hektische Zeitgenossen, alle auf dem Sprung. Ich dagegen tiefenentspannt. Ein bisschen habe ich dieses Wegsinken in den Leerlauf fast genossen.

So geht Freiheit, dachte ich, als ich in Perrache ausstieg, immer noch gut eine Stunde zu früh für meinen Zug. Aber Perrache war Baustelle. Gewaltige Umbauten und viele Umwege halfen mir, dieses Zeitpolster klein zu machen. In aller Ruhe ging ich also in den Wartebereich, unter die große Anzeigetafel.

Hatte ich eingangs nicht eine Zeitenwende versprochen? Ja, die Uhr tickt schon. Sie kommt jetzt, die Wende. Denn auf dieser Tafel flackerten etliche Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Nicht aber die von meinem Zug. DER STAND DA NICHT.

Hmm, machte ich leicht irritiert, aber noch ganz ruhig. Vielleicht nur eine Anzeigen-Panne. Schließlich wären es ja noch circa 50 Minuten bis zur Abfahrt.

Ich ging also zu einem Serviceschalter, zeigte mein Ticket und fragte höflich nach dem Verbleib des gebuchten Zuges.

„Monsieur, diesen Zug gibt es nicht.. Nicht hier in Perrache. Ihr Zug fährt in Part Dieu ab, in dem anderen großen Bahnhof von Lyon!

„Aber ich bin doch in Perrache angekommen!“

„Das heißt nichts, Monsieur – Sie müssen nach Part Dieu! Es steht da auch angegeben, ganz unten auf dem Ticket.“

Das hatte ich nicht gesehen. MERDE! (Hier setzte einen Moment lang die Zeit ganz aus)

Peng! Machte es dann in meinem Kopf. Startschuss für ein fieberhaftes Wettrennen. Taxi, wo gibt es hier ein Taxi?

Wo ich wenige Minuten zuvor in Zeitlupe herangeschlichen war, sah man mich jetzt rennen. Zurück zum Ausgang, ein Taxi finden. Vollgas nach Part Dieu. Vite, vite!

Denn den Zug musste ich kriegen. Ich musste nach Paris, hatte dort in Roissy einen Flug gebucht nach Hause, wo ein dienstlicher Termin auf mich wartete – kurz: Das alles platzen zu lassen wäre heftig.

Natürlich kam erst einmal kein Taxi. Die Uhr war im Nu ´runter auf dreißig Minuten. Von Perrache nach Part Dieu könnte man es schaffen, bei günstigen Verkehrsverhältnissen. Ohne Baustellen. Mit einem hellwachen Fahrer. Der Tempo macht.

Ich hatte so einen. Leise Hoffnung. Herzklopfen. Aber auch am Bahnhof Part Dieu dann ...Umbauarbeiten. MERDE! Noch sieben Minuten. Stau in der Unterführung. 400 Meter. Ein Baulaster rangierte endlos. Noch drei Minuten. Raus aus dem Tunnel. PART DIEU, endlich.

Zahlen. Rennen. Bahnsteig D. Zug noch da.

Attention au départ,“ hörte ich – da war ich drin. Keuchend. Puls 160 pro Minute. Ufff.

Wie man urplötzlich so ein ganz anderes Zeitgefühl haben konnte. Du liebe Zeit! Erst zäh wie Kloßbrühe, dann ganz heiß zischend wie ein Dampfkochtopf....

Lyon hatte mir beides vorgeführt. Und der Kipp-Moment war am 4. September um 16.17 Uhr. Peng. Voilà, meine kleine Zeitenwende, mal ganz privat.




Anmerkung von eiskimo:

Es war derselbe Akteur, derselbe Schauplatz - nur die Zeit spielte plötzlich verrückt.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Arapaima (10.09.25, 22:06)
Der Klassiker. Ein Malheur zw. Ort und Zeit. Du warst zur richtigen Zeit am falschen Ort. Ort und Zeit in Übereinstimmung zu bringen, wird manchmal zum stress.

 eiskimo meinte dazu am 10.09.25 um 22:15:
Oh ja. Stress total. Du formuliert es treffend, aber mit der Distanz des Nichtbetroffenen.
Ich selbst mag ein zu enges Zeit-Korsett überhaupt nicht. Lieber viel zu früh irgendwo auftauchen. Dann kann man zur Not sogar noch den Bahnhof wechseln.
Bonsoir!
Eiskimo

 Arapaima antwortete darauf am 10.09.25 um 23:16:
...diesmal nicht betroffen, aber unbekannt sind mir solche fahrplanbedingten Stresssituationen nicht. Ich kann nachempfinden, wie dir zumute war.

 Regina (11.09.25, 08:37)
Zeitgefühl ist immer subjektiv. Das Ticket richtig lesen war das Problem.

 eiskimo schrieb daraufhin am 11.09.25 um 09:04:
Stimmt. Aber dass bei ein- und derselben Verbindung zwei unterschiedliche Bahnhöfe zu nehmen waren, hatte ich nicht auf dem Schirm - mein Fehler.

 Regina äußerte darauf am 11.09.25 um 18:56:
Warst du noch nie in Paris mit seinen fünf Bahnhöfen?

 eiskimo ergänzte dazu am 11.09.25 um 19:14:
Doch, einige Male schon. Aber Ankunfts- und Abfahrtsbahnhof, zum Beispiel für Köln, waren immer dieselben.
Das muss nicht immer und überall so sein - hab ich jetzt gelernt. Ist ja auch nochmal gut ausgegangen.

 Hannes (11.09.25, 17:15)
Ich hab' beim lesen mehrmals lauthals lachen müssen, aber nicht aus Schadenfreude - na ja, vielleicht doch ein bischen -.
Schopenhauer hat gesagt:
"Gewöhnliche Menschen überlegen nur, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht, sie auszunutzen."
Das hast du beides in Lyon jedenfalls perfekt hingekriegt.
Ergo:
Du bist ein gewöhnlich intelligenter Mensch.

 eiskimo meinte dazu am 11.09.25 um 17:52:
Das freut mich. Letztlich hatte ich da ja auch richtig Glück gehabt. Danke auch für die Empfehlung!
Philosophische Grüße 
Eiskimo
Zur Zeit online: