Der Mord und wir

Groteske zum Thema Psychologische Phänomene

von  Saira

Es war nur ein Mord.
Ein einfacher, handlicher Mord, wie man ihn an einem Dienstagvormittag zwischen Kaffee und Korrekturen erledigen könnte. Das Opfer hieß Ernst Stilbruch – ein Name, den die Literaturgeschichte vermutlich für Ironie halten wird.Er starb unspektakulär, doch sieben Autorinnen und Autoren beschlossen, ihn in einer Anthologie aufzunehmen.

Er starb also siebenmal – und jedes Mal anders.

 

Die Dokumentaristin

 

Tatzeit 10:47 Uhr.
Ein Küchenmesser, 16 cm Klinge, Edelstahl.
Ein Stich in die linke Brust.
Blutaustritt 0,3 Liter.
Täter gefasst.
Fall abgeschlossen.
Worte überflüssig.

 

 

Die Romantikerin

 

Ernst Stilbruch starb in ihren Armen, und sie fand, dass er das ganz wunderbar tat. Das Blut glitzerte im Kerzenlicht, als hätte jemand den Schmerz vergoldet.
„Bleib dramatisch, mein Herz“, flüsterte sie, öffnete das Fenster – und folgte ihm in den Tod.

Der depressive Poet

 

Er stach zu, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
„Verzeih, Ernst“, seufzte er, „aber einer von uns musste aufhören, sich Illusionen zu machen.“
Das Blut tropfte leise auf seine Notizen.
Er betrachtete die Flecken und fand sie schöner als jedes Gedicht.

 

Die Sadistin

 

Die Sadistin arbeitete sauber.
Sie zählte die Stiche, als ginge es um Noten.
Das Messer war ihr Taktstock, die Schreie die Partitur.
Ernst Stilbruch starb: rhythmisch, präzise, sauber.

 

Der Entdecker

 

stich
stich
meta stich
form fällt
rotpunktrotpunkt
blutwort: gelöscht

 


Die Dramaqueen


Sie schrieb die Szene in einem Atemzug und las sie mit Tränen in den Augen. Sie hörte die Schreie, sah das Blut – und litt mehr als ihr Opfer. Ernst Stilbruch starb auf Seite drei, weil er ihre Dramatik nicht mehr ertrug. Er entriss ihr das Messer und rammte es sich in den Bauch.
Am Ende notierte sie schluchzend: „Was für ein Ende!“

 

Der Erzähler aller Erzähler

 

Er tötete Ernst Stilbruch, weil das Verb es verlangte.
Manchmal muss ein Schriftsteller der Grammatik dienen.
Er wollte Pathos, bekam Blutflecken auf die Seite.
Also schrieb er die Szene um – diesmal aus der Sicht des Messers.

 

Am Ende saßen sie alle – außer der Romantikerin – die war ja tot ... zusammen in der Schreibwerkstatt. Vor ihnen lag Ernst Stilbruch – etwas zerrissen, aber literarisch wertvoll.


Man einigte sich auf den Titel: Der Mord und wir.

 

 

 

 

© Sigrun Al-Badri / 2025


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Kommentare zu diesem Text


 DanceWith1Life (12.11.25, 14:11)

 Saira meinte dazu am 13.11.25 um 10:14:
Danke für das musikalische Zeichen, Dance.

Ich mag, wie die verschiedenen Stimmen in dem Lied eine gemeinsame Botschaft tragen ... jede auf ihre eigene Weise.


LG
Saira

 TassoTuwas (13.11.25, 01:32)
Hallo Sigi,
Überraschung, ein Déjà vu. 
Ich kenne sie alle, diese Typen. 
Vor einer Ewigkeit saßen sie im Schreibkurs der VHS neben mir am runden Tisch, fest entschlossen die Literatur zu revolutionieren!
Der einzige, der es geschafft hat, ist der Romantiker. 
Er fährt jede Woche ein anderes Auto, macht richtig Kohle als Gebrauchtwagen-Händler.
Ich arbeite noch dran!
Liebe Grüße
TT

 Saira antwortete darauf am 13.11.25 um 10:15:
Lieber Tasso,

manche Autorinnen und Autoren wechseln eben das Genre, so wie der Romantiker ganz elegant vom Federkiel zu den Felgen.
Womöglich verkauft der Romantiker ja auch Metaphern mit Saisonreifen. 


Danke für dein Kopfkino!  :)


Liebe Grüße
Sigi

 AchterZwerg (13.11.25, 07:02)
Ich "fürchte", liebe Sigi,

du behandelts ein ähnliches Thema wie ich in meinem letzten Limerick. - Unter dem Beifall (oder der Empörung) der Zuschauer passieren täglich hübsche kleine Morde. 
Wohl dem, der sie noch angemessen (!) literarisch verarbeiten kann ...
Dir ist es jedenfalls gelungen.  :)

Herzliche Grüße
Heidrun

 Saira schrieb daraufhin am 13.11.25 um 10:16:
Liebe Heidrun,

du hast recht: Die kleinen Morde finden überall statt und leider auch im Verhalten von Gruppen, die sich hier im KV formieren.

Es genügt oft schon, wenn ein paar gut eingespielte Stimmen zusammen auftreten, um jemanden aus dem Licht zu schieben. Da wird aus Literatur plötzlich ein beschämender Mannschaftssport.


Umso wohltuender ist deine Art, frei und respektvoll zu schauen.

Herzliche Grüße
Sigi


Antwort geändert am 13.11.2025 um 10:17 Uhr

 plotzn (13.11.25, 10:19)
In Gottes Garten und in einer Anthologie findet jedes Tierchen seinen Platz, liebe Sigi. Mir gefällt, wie Du in die verschiedene stilistischen Rollen schlüpfst. Das animiert zum Mitmachen...

Der Unvollkommene

Aufgrund einer Rechtschreibschwäche blieb die Klinge zwischen den Rippen Ernst Stielbruchs stecken. Der Griff mit den Fingerabdrucken wurde nie gefunden und trotz eines Zeugenaufrufs bei Aktenzeichen XY ungelöst konnte der Fall bis heute nicht aufgeklärt werden.

Liebe Grüße
Stefan
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