Dass ich das alles überlebt habe

Erörterung zum Thema Erwachsen werden

von  eiskimo

Natürlich habe ich als kleiner Junge Indianer gespielt, habe die "Drei Chinesen mit ' nem Kontrabass" gesungen und Pippi Langstrumpf in der politisch unkorrekten Fassung gelesen. Schlimm!

Viel schlimmer aber war, denke ich, dass ich völlig ungeschützt in der Diaspora aufwuchs, kleiner katholischer Erstklässler unter lauter Evangelen - heute würden die Pädagogen unterstellen: Da hat einer mit Sicherheit Schaden genommen, bei diesem Spiessrutenlaufen....

Mich traf es aber noch härter: Ich durfte nicht in den Fußballverein, weil meine Mutter Fußball so brutal fand - Handball fand sie okay. Pah - ich, viel zu klein gewachsen, wurde immer nur als Kreisläufer aufgestellt - die kriegen bei diesem Sport bekanntlich die meisten Prügel.

Dann kam in meiner Grundschule tatsächlich der Zahnarzt zur Reihenuntersuchung.Wen pickte er sich raus mit einer "drohende Deformation der oberen Schneidezähne"? Mich, den Katholen, der prompt mit einer Zahnspange zusätzlich sigmatisiert wurde.

Ich war als Sohn eines Bundeswehr-Oberfeldwebels ja eh schon einige schiefe Blicke gewöhnt - auch, dass ich drei Schwestern hatte, alle älter und dem Vater zuliebe befehlsgewaltig und immer richtig zackig drauf - aber an der Zahnspange, da hatte ich richtig zu knabbern. Da half auch der Kommunionsunterricht nicht, zu dem ich ungefragt angemeldet wurde - fast 40 Minuten Busfahrt alleine durch die Stadt.

Ob ich meine Religionsfreiheit in Anspruch nehmen wollte ? - haha. 

Muss ich vor diesem Hintergrund ausführen, dass man mich auch zum Fleischfresser erzog? Einmal die Woche gab es Gehacktes "halb und halb", immer Sonntags, wenn ich die Indoktrination des katholischen Kindergottesdienstes ordentlich hinter mich gebracht hatte. Und da hing da ein nackter Mann am Kreuz, blutend.. 

Auf eine weiterführend Schule musste ich, hatte dort Lehrer, deren Entnazifizierung keinesfalls abgeschlossen schien - das sage ich aus der Sicht von heute.

Kriegsverherrlichung, der wurde ich dann zusätzlich ausgesetzt, ganz massiv im Lateinunterricht. Cäsars menschenverachtende Darstellung der armen Gallier und Germanen - wer warnte uns damals vor Volksverhetzung und Verletzung der Menschenrechte?

Dass einer wie ich, schon mit seiner Zahnspange gedemütigt, grausame seelische Konflikte erleiden musste- kein Thema. Hatte man mir im Kommunionsunterricht nicht noch eingebleut: Du sollst nicht töten! Und dann dieser verharmlosende De bello gallico...

Schon "Der Raub der Sabinerinnen" hätte ja mein Frauenbild nachhaltig beschädigen müssen. Olala.. 

Aber was war der ungeschriebene Lehrplan dieser Art Schule: Männerdominanz, und zwar in allen virilen Spielarten.

Nur meine Zahnspange, die bildete da ein gewisses Gegengewicht. Heilsam, würde ich aus heutiger Sicht sagen.

Insofern bin ich dankbar, dass ich schon früh auch die Opferrolle kennenlernen durfte. Schon damals hatte ich gelernt, dass das Leben gewisse Härten hat. Und dass man Zähne braucht.

Die "Drei Chinesen mit ' nem Kontrabass" mögen mir verzeihen. Was sie da an Schmähung erleiden, verteilt sich heute 1,2 milliardenfach. Immerhin. Ich war früher immer ganz allein- aber ich habe überlebt.





Anmerkung von eiskimo:

Oberfeldwebel, das klingt nach viel,  war bei der Bundeswehr aber ein niederer Dienstgrad. Mein Vater war aber toll - also habe ich früh schon den Etikettenschwindel der Großen durchschauen gelernt.....

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Saira (19.12.25, 11:34)
Ein Text, der zeigt, dass Erwachsenwerden weniger aus Schonung als aus Reibung entsteht. Und dass Zahnspangen offenbar mehr Charakter bilden als manche pädagogische Reform. Sehr gelungen!

LG
Saira

 eiskimo meinte dazu am 19.12.25 um 12:03:
Danke, liebe Saira.
Von Dir habe ich heute gelernt, dass auch Guiness pädagogisch wertvoll ist, sowohl lebensbejahend als auch todesverachtend.
Nochmals cheers
Eiskimo
Zur Zeit online: