Genie und Wahnsinn IX: Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Essay zum Thema Wahnsinn

von  JoBo72

Das Werk des Philosophen und Philologen Friedrich Nietzsche ist weltbekannt. Zu Lebzeiten nur an der Universität von Kopenhagen auf dem Lehrplan, vergeht heute kein Semester an einer philosophischen Fakultät ohne Nietzsche-Seminar. Und doch hat seine Popularität nicht hinreichend zur Klärung seiner Rolle in der Philosophiegeschichte beigetragen. Er hat ein Werk hinterlassen, das provoziert und spaltet, das Missverständnisse hervorruft wie kaum ein anderes philosophisches Lebenswerk. Es ist schwer, Nietzsche gerecht zu werden. Klar ist nur, wie man ihm nicht gerecht wird. Man wird Nietzsche nicht gerecht, wenn man in ihm einen atheistischen Chauvi sieht, der polemisch gegen alles wettert, was den Menschen heilig ist, und die tradierten Werte dem Ideal eines Übermenschen opfert. Wenn man dabei nur die oft zitierten Aussagen Nietzsches „Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht.“ und „Gott ist tot.“ im Auge hat. Oder wenn man gar behauptet, er habe den Faschisten mit seinem Übermenschen, der Umwertung der Werte von der Sklavenmoral des Juden- bzw. Christentums hin zur Herrenmoral des aktiv-autonomen Menschen geistig den Weg bereitet. Wahr ist statt dessen, dass er jeglichen Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus verachtete und das von Nazi-Ideologen viel zitierte Werk „Wille zur Macht“ von seiner Schwester Elisabeth nach seinem Tode aus Fragmenten zusammengefügt wurde, die nie als zusammenhängender Text hätten publiziert werden sollen.

Nietzsche muss man selbst erfahren. Ein möglicher Zugang zu seinem Werk kann dabei auch über sein Leiden gelingen. Wer sich in seine Weltanschauung vertieft, wird auf zahlreiche Probleme stoßen, die nur vom Standpunkte der Psycho-Pathologie einer Aufhellung fähig sind. Andererseits dürfte es gerade für die Psychiatrie von Wichtigkeit sein, sich mit einer bedeutenden Persönlichkeit zu beschäftigen, die einen unermesslich großen Einfluß auf die Zeitkultur gewonnen hat.

Dabei sollte man nicht versuchen, die Genialität Nietzsches aus seiner kranken Konstitution zu erklären. Die Genialität ist nicht die Krankheit. Nietzsche war ein genialer Philosoph, trotzdem er krank war.

Viele haben sich schon mit dem kranken Nietzsche beschäftigt. Zu erwähnen ist vor allem Karl Jaspers’ Nietzsche-Einführung von 1936, die Nietzsches Leiden ausführlich thematisiert. Doch alles, was von seiner Krankheitsgeschichte bisher in die Öffentlichkeit gedrungen ist, scheint Fachleuten zu lückenhaft, um ein exaktes Krankheitsbild zu diagnostizieren. Zudem wird viel spekuliert. So soll Nietzsche als Student harte Drogen genommen haben und sich bei einem Bordellbesuch, ein damals weit verbreiteter Studentenulk, die Syphilis geholt haben, an der er später starb.

Fest steht hingegen: Nietzsche litt seit seinem 35. Lebensjahr an starken Kopfschmerzen und musste infolge dessen seine Professur in Basel aufgeben. Hinzu kamen Schwindelanfälle sowie Lähmungsgefühle, was Anton Neumayr in Luther, Wagner, Nietzsche – im Spiegel der Medizin auf eine syphilitische Gehirnerkrankung zurückführt.

Der geistige Zusammenbruch kommt im Winter 1888/89. Nietzsche lebt mittlerweile in Turin zur Untermiete. Sein Zimmerwirt hört ihn wirre Selbstgespräche führen. Der Philosoph irrt ziellos durch die Straßen, schreibt Karten, die er mit „Dionysos“ oder „Der Gekreuzigte“ unterzeichnet. Am 03. Januar 1889 beobachtet Nietzsche, wie ein Kutscher erbarmungslos auf sein Pferd einschlägt. Er stürzt auf das Tier zu und fällt ihm tränenüberströmt um den Hals.

Die letzten elf Jahre seines Lebens ist Nietzsche wegen seiner progressiven Paralyse auf Pflege angewiesen. Seine Mutter Franziska kümmert sich um ihn. Ihre Briefe geben uns einen Einblick in das Leben des schwerkranken „Fritz“, wie sie ihren Sohn nennt, und zeugen von manischem Größenwahn, paranoiden Ängsten und zunehmender Demenz. Ihr Fritz habe „stehende Sätze, die er vielfach wiederholt“, schreibt Franziska am 26. September 1892 an Franz Overbek, einen Kollegen Nietzsches aus Baseler Zeiten. „Ich bebe keine Pferde“, sage er, anstatt „liebe“, obwohl sie ihm das Wort „hundertfach wiederhole“.  Regelrecht „müde“ rede er sich und sage ständig „Ich bin tot, weil ich dumm bin.“ oder „Ich habe ein feine Beurteilung für die Dinge.“. Dabei mache er einen durchaus zufriedenen Eindruck und sei bisweilen gar „zu kleinen Scherzen aufgelegt“.

Nietzsche selbst interpretierte sein Leiden als physiologische Störungen aufgrund eines vom Vater ererbten „Mangels an Lebenskraft“ und einer „krankmachenden Dekadenz der abendländisch-christlichen leibfeindlichen Lebensweise“. Er meinte, seine Krankheit durch tapferes Ertragen und durch „Selbstüberwindung“ kompensieren zu müssen. Mut macht Nietzsche sich und anderen mit dem ihm zugeschriebenen Ausspruch: „Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren findet, der ihn versteht.“

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Kommentare zu diesem Text

#St#Störf#Störfaktor (30)
(16.02.08)
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 JoBo72 meinte dazu am 16.02.08:
Es tut mir Leid, Dich derart enttäuscht zu haben und Deinen Ansprüchen nun offenbar in keiner Weise gerecht geworden zu sein, danke Dir aber herzlich für Deine harte und ehrliche (hoffe ich doch!) Kritik. Das habe ich wirklich nicht alle Tage, dass sich jemand so intensiv und ausführlich mit meinen Texten auseinandersetzt, auch wenn mich das Urteil freilich schmerzt. Ich hoffe, Dein Ärger über die "oberflächliche Armseligkeit" meiner Texte hält sich in Grenzen - und für die Zukunft kann ich Dir wohl nur empfehlen, selbige tunlichst zu meiden! Freundliche Grüße, Josef Bordat
NachtSchwärmer (57) antwortete darauf am 16.02.08:
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 JoBo72 schrieb daraufhin am 16.02.08:
Danke für die Stellungnahme, Ute! Die Serie ist mit 24 Folgen bereits konzipiert (S. Freud kommt darin nicht vor – ich nehme die Anregung aber auf!). Grundsätzlich: Es geht mir bei den Kurz-Porträts um das Anreißen des Themas „Genie und Wahnsinn“ anhand von mehr oder weniger berühmten Persönlichkeit, nicht um die wissenschaftliche Bearbeitung der hochkomplexen Thematik. Dafür bin ich wohl nicht qualifiziert (Ich bin kein Psychologe oder Psychiater, was für eine tiefere Analyse notwendig wäre). Wer das erwartet, ist hier falsch und sollte sich Fachliteratur besorgen, auf die ich in den Texten gelegentlich hinweise (etwa G. Benn, 1930; neuere Zeitschriftenartikel etc.). Auch in diesen Verweisen sehe ich einen Zweck dieser Reihe. Wem ich damit zu anspruchslos, profan, faul, blöd oder sonst was bin, den muss ich mit der Bitte um Nachsicht und dem (ob des Missverständnisses völlig verständlichen!) Ärger ins Wochenende entlassen... LG , Josef
(Antwort korrigiert am 16.02.2008)
NachtSchwärmer (57) äußerte darauf am 17.02.08:
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 JoBo72 ergänzte dazu am 17.02.08:
An Ute et al.:

Danke noch mal für die Diskussionsfreude und das offenbar vorhandene Interesse an der Serie – so schlecht sie in den Augen einiger sein mag.

Ich möchte noch mal versuchen, Ansatz und Umstände der Serie zu erklären:

Zwischen „Expertentum“ und „keinerlei Kenntnis“ gibt es wohl einen Graubereich. Ich nehme für mich nicht in Anspruch, Lösungen auf Menschheitsfragen zu haben (wenn ich sie hätte, würde ich sie – mit Verlaub und bei allem Respekt – auch nicht auf dieser Seite veröffentlichen, sondern in einschlägigen Fachzeitschriften). Das bedeutet aber nun nicht, dass ich meine, über etwas zu schreiben, von dem ich überhaupt gar keine Ahnung habe. Diese Meinung kann freilich Ergebnis maßloser Selbstüberschätzung sein. O.K. – gegen diesen Einwand kann ich nichts sagen. Wie gesagt: Wer meine Texte für unsinnig, blöd, irreführend oder sonst wie einfach schlecht hält, bei dem kann ich mich nur entschuldigen und darauf hinweisen, dass er sich in guter Gesellschaft befindet.

Ich glaube dennoch, dass ich etwas zu sagen habe, das für einige Menschen interessant sein könnte. Einige Rückmeldungen (auch zu dieser Serie) geben mir in diesem Glauben recht. Für diese Menschen schreibe ich.

Den Titel („Genie und Wahnsinn“) halte ich für vertretbar, weil er in der Tat aufmerksam macht, andererseits aber auch offen lässt, was konkret folgt. Den Einwand, ich erfülle ein „Versprechen“, das ich mit dem Titel gebe, nicht und böte deswegen Mogelpackungen an, lasse ich nicht gelten, denn das unterstellt, dass ich die unerfüllten Erwartung einiger Leser/innen bewusst und arglistig geweckt hätte. Die Texte laufen aber nicht unter dem Titel: „Bordat erklärt die Phänomenologie des Verhältnisses von Genialität zu Manifestationen des Wahnsinns – unumstößlich, einfach und rechtssicher“. Dann könnte man in der Tat mehr erwarten.

Kurz: Ich bin vielleicht ein „Versager“, aber kein „Betrüger“!

LG - und ebenfalls einen schönen Sonntag, Josef
(Antwort korrigiert am 17.02.2008)
(Antwort korrigiert am 17.02.2008)
(Antwort korrigiert am 17.02.2008)
(Antwort korrigiert am 17.02.2008)
NachtSchwärmer (57) meinte dazu am 18.02.08:
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 JoBo72 meinte dazu am 18.02.08:
Liebe Ute,

ich nehme die Kritik schon ernst und kann die auch aushalten (muss ich in anderen Zusammenhängen ja auch). Ich kann ja auch austeilen, also muss ich auch einstecken können. Und ich teile im übrigen die Meinung derer, die sagen, meine Texte sind verbesserungsbedürftig. Wie (fast) alles in der Welt. Soweit, so richtig.

Aber ich muss mich auch wehren können, wenn ich meine, ungerecht behandelt worden zu sein. Was ich halt nicht so gut vertragen kann, sind Positionen, die mir irgendwas unterstellen wollen.

Ich sage im ersten Teil der Serie ziemlich klar, worum es hier geht und was ich will (in den Anmerkungen). Daraufhin kann jeder entscheiden, ob sich die Texte zu lesen lohnen oder nicht. Mir dann (das kam nicht von Dir, sondern von Deiner Vorrednerin) „vorzuwerfen“, ich legte hier keine ordentliche wissenschaftliche Arbeit vor, finde ich erstaunlich angesichts der Tatsache, dass es mir gar nicht darum ging, eine wissenschaftliche Arbeit vorzulegen. Das ganze heißt „Essay“, also „Versuch“. Das bedeutet, man ist selbst nicht sicher, und wirft etwas in den Diskurs. Ansonsten fand ich diese Kritik auch maßlos überzogen, angesichts der Tatsache, dass ich hier unentgeltlich und mit (zumindest) gutem Willen auf ein offenbar interessantes Thema aufmerksam mache. Mehr nicht. Und mich dann derart abzukanzeln, teilweise auch in sehr persönlicher Weise, das finde ich in dem Rahmen, in dem wir uns hier bewegen, unangemessen.

Obwohl es freilich schon was besonderes ist, dafür kritisiert zu werden, dass man „Publikationen erwähnt“, in denen zwar, zugestanden, die Sache eingehender thematisiert wird, aber frecherweise ohne vorher geklärt zu haben, ob die Leserschaft auch bequemen Zugang zur empfohlenen Lektüre hat: „Was habe ich denn davon? Ich besitze dieses Buch nicht [...]“ (sic!). Also das muss ich mir wirklich merken! Es soll noch mal jemand ein Buch zitieren, das nicht in meinem Ikea-Regal steht!

Weshalb ich etwas gereizt reagiere, hat wohl weniger mit der Diskussion hier zu tun als vielmehr mit ganz anderen Diskussionen zu ganz anderen Texten, die an ganz anderer Stelle erschienen sind. Tut mir Leid, wenn Du da jetzt mehr abkriegst, als es die Sache eigentlich wert ist. Im übrigen habe ich einen Hang zur Selbstironie, was an den Anführungszeichen zu dem besagten „Versager“/„Betrüger“ deutlich werden sollte. Leider kommt in der geschriebenen Sprache so manches Augenzwinkern nicht rüber und diese typischen Internet-Klauseln wie *grins* etc. lehne ich ab. So was kann man ja in gedruckten Texten auch nicht nutzen. Also, muss sich jede und jeder selbst einen Reim drauf machen.

Herzliche Grüße, J.B.
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