Chaos

Text zum Thema Abhängigkeit

von  Ganna

Wenn wir an Katastrophen denken, dann fallen uns Erdbeben, Überschwemmungen oder Kriege ein.
Sie kommen durch Naturereignisse zustande oder durch die Gier der Menschen, deren Uneinigkeit und kriminelle Dummheit.
Doch vielleicht sehen weltumfassende Krisen bald anders aus, als wir es uns heute vorstellen. Vielleicht betreffen sie Gebiete und selbstverständliche Einrichtungen, die uns so sicher scheinen, so selbstverständlich zum Leben gehörend, weil sie kennzeichnend sind für unsere fortschrittliche Zivilisation, Errungenschaften dieser Zeit, die durch eine wohlgefügte Staatsordnung geschützt und erhalten werden.

Nun stellen Sie sich vor, durch eine atmosphärische Störung fällt auf der gesamten Erde der Strom aus, während Sie schlafen. Sie wachen des Morgens auf und der Druck auf den Lichtschalter zeigt nicht die erwartete Wirkung. Also stehen Sie im Dunkeln auf, tasten sich zur Tür, aber auch dort lässt die Betätigung des Kippschalters nicht den erwünschten Effekt sehen. Missmutig gehen Sie zuerst auf die Toilette, die erwartungsgemäß funktioniert, bis Sie bemerken, dass kein Wasser in den Spülkasten nachläuft, was Sie schon etwas wundert.
Auch aus der Dusche kommt außer einigen letzten Tropfen nicht, was Sie für selbstverständlich halten. Dasselbe in der Küche. Als Sie ergebnislos das Radio einschalten wollen, fällt Ihnen ein, mal nach den Sicherungen zu schauen. Sie kramen nach der Taschenlampe. Aus dem Hausflur ertönt inzwischen ärgerliches Schimpfen, aufgeregte Stimmen fallen ineinander, so dass Sie, im Schlafanzug noch, vorsichtig die Tür öffnen.
Nachbarn stehen mit einer tropfenden Kerze vor dem stehenden Aufzug und versuchen, Erklärungen zu finden. Weder Telefon noch Internet sind benutzbar. An solch eine Situation kann sich niemand von ihnen erinnern, auch in der Schule wurden Sie nicht darauf vorbereitet. Ihnen fällt der Spirituskocher im untersten Schrank ein, den Sie immer mit in den Urlaub nehmen. Trinkwasser haben Sie ja sowieso in Plastikflaschen vorrätig. Nur gut, denken Sie, dass Sie gestern noch einkaufen waren.

Dann sitzen Sie bei Ihrem Kaffee in der Küche, während es vor dem Fenster zu dämmern beginnt und das erste Tageslicht die Gegenstände aus dem Dunkel hervortreten lässt. Die Batterie der Taschenlampe wollen Sie schonen, denn man weiß ja nie, wie lange der Zustand andauern kann. Kerzen besitzen Sie nicht, denn auf solch romantisches Zeug können Sie verzichten, das ist doch längst überholt.
Sie schlürfen Ihren Kaffee und denken nach. Unmöglich, nicht auf Arbeit zu erscheinen, ungewaschen und unrasiert geht es aber auch nicht in Ihrer Position. Bescheid sagen können Sie nicht. Es scheint im gesamten Viertel keinen Strom zu geben, denn auch die Fenster gegenüber sind nicht wie gewohnt erhellt. Ihnen fällt auf, wie pappig das ungetoastete Brot sich anfühlt und riecht. Die Tiefkühltruhe hält einige Stunden ohne Strom durch.

Schließlich ziehen Sie sich an und laufen die vier Treppen nach unten, steigen in Ihr Auto und fahren in den Betrieb, irgendetwas müssen Sie ja tun. An keiner Kreuzung funktioniert eine Ampel und kein Ordnungshüter ist zu sehen. Auf den Straßen stehen Menschengruppen und reden miteinander.
In Ihrem Betrieb sieht es nicht anders aus. Da nichts ohne Elektrizität funktioniert, ist es nicht möglich zu arbeiten. Alle stehen ratlos umher und keiner weiß, wie es weitergeht, keine wagt es, eine Entscheidung zu treffen, es wird schon bald alles wieder normal sein…
Ihnen fällt auf, dass es merkwürdig still am Himmel ist und Sie denken, wenn auch die Flugzeuge nicht fliegen, muss es doch ein größeres Problem geben, als zuerst angenommen.
Gegen Mittag fahren die ersten wieder nach Hause. Morgen wird ja dann alles wieder wie gewohnt laufen.

Irgendetwas ist komisch. Sie fühlen sich völlig aus Ihrem Gleis geworfen, inmitten einer ungewohnten Leere, die sich immer weiter auszubreiten scheint, keine Informationen, keine Anweisungen, alles in Ihnen scheint in einem schwerelosen, ungewissen Zustand zu sein.
Natürlich gibt es weder Zeitung noch Post. Der kleine Gemüsehändler hat eine Blechkassette mit Wechselgeld neben seinen Auslagen auf der Straße stehen. Dort kann man Zwiebeln, Möhren und Milch kaufen, so lange, wie der Vorrat reicht und es steht schon eine Schlange von Leuten an. Der Bäcker ist schlechter dran, für ihn fällt das Backen heute aus. Im Zeitungsladen gibt es noch Tabak, Bier und Lotterielose, neben den Kerzen, die den kleinen Raum erhellen. Jeder hilft sich eben, so gut er kann.
Sie klopfen bei dem Polizisten, der bei Ihnen im Haus wohnt an die Tür, aber der sagt auch nur, dass er auf seine Anweisungen warten muss und eigenmächtig nichts tun darf.

Am nächsten Tag ist der Zustand unverändert. Am schlimmsten ist es, dass die Toilette nicht funktioniert, es beginnt zu stinken und waschen können Sie sich auch nicht. Aber schließlich können sie Ihre Notdurft ja nicht im Park verrichten. Der Kinoabend mit Freunden fällt aus, der Sportverein hat auch zu und sie schlendern ziellos durch die Straßen. Der Polizist bei Ihnen im Haus öffnet nicht mehr seine Tür, auch wenn man stark dagegen klopft. Niemand weiß weiter. Aber irgendetwas müssen die doch tun, denken Sie und meinen die Regierung und ihre Vertreter, die Polizei, oder die Armee meinetwegen. Wenigstens die vom Roten Kreuz könnten sich um die Menschen kümmern und sagen, was man tun soll….

Am übernächsten Tag sieht man die ersten Horden durch die Straßen ziehen, die beginnen, Läden zu plündern. Diese brüllen und schlagen mit Knüppeln Scheiben ein. Jeder, der ihnen ausweichen kann, tut es. Wer kann, der fährt zu Verwandten aufs Land. In den Häusern stinkt es inzwischen zum Himmel, in den Straßen stapelt sich der Müll, Ratten stöbern gemütlich darin herum, während freigelassene Hunde sich die größeren Brocken sichern.

Bald wird es gefährlich sein, nach draußen zu gehen. Doch in der Wohnung können Sie auch nicht bleiben. Der Gestank lässt Sie nicht mehr schlafen und Sie können sowieso nichts anfangen, Sie beginnen sich mehr und mehr unbehaglich zu fühlen und fangen an, Ihre Sachen zu packen. Die Nachbarin mit den drei Kindern hat schon bei Ihnen gefragt, ob Sie sie nicht mitnehmen können, wenn Sie die Stadt verlassen, denn Sie haben ja ein Auto…. Das wollen Sie sich aber auf keinen Fall zumuten. Nachts packen Sie alles Ihnen unentbehrlich scheinende ein und tragen es hinunter. Dann fahren Sie los und rechnen sich aus, wie weit Sie mit dem Benzin im Tank kommen werden.

Unterwegs bemerken Sie schnell, dass die Tankstellen von Armeeangehörigen bewacht werden. Ansonsten scheint alles ruhig. Anhalten und fragen wollen Sie lieber nicht. Ihnen ist nicht danach, jemandem zu trauen. Mehr und mehr greift eine Stimmung um sich, die jeden nur an sich selber denken lässt.
Sie kommen an Dörfern vorüber, die von einer Art Bürgerwehr bewacht werden und fragen sich, woher die Leute denn die Gewehre haben. Naja, verstehen tun Sie’s schon, die da haben Schweine und Hühner im Stall, während bei Ihnen zu Hause die Suppe aus der Tiefkühltruhe läuft.

Dann geraten Sie an eine Straßensperre und müssen umkehren. Irgendeine Begründung oder Information wird nicht erteilt. Die Bewaffneten brauchen keine Argumente. Sie wenden und biegen in einen Feldweg ein. Als Sie den Eindruck haben, weit genug weg zu sein von allem, halten Sie an und steigen aus.
Es ist still, nur einige Vögel piepsen. Erschöpft setzen Sie sich ins Gras und schauen um sich…Plötzlich wird Ihnen bewusst, wie einsam und hilflos Sie sind. Es trifft Sie wie ein Schock, der jeden Gedanken in Ihrem Hirn löscht…

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Kommentare zu diesem Text

Schrybyr† (67)
(25.08.13)
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 Ganna meinte dazu am 25.08.13:
Kultur und Zivilisation sind ja nicht an Elektrizität gebunden...Elektrizität ist nur Ausruck eines Umgangs mit der Materie, die eine bestimmte Art Kenntnis auf bestimmten Gebieten verrät...und bestimmte Folgen hervorrufen kann, aber nicht muss...weiter nichts...

Da muss man natürlich fragen, was Kultur und Zivilisation ausmachen, in unserem Fall ist es diese bestimmte Art Wissen anzuwenden, in anderen Kulturen kann es aber eine ganz andere Weise der Erkenntnis der Welt geben, vielleicht eine, die wir uns nicht vorstellen können...Was jenseits unseres Wissens liegt, kann dennoch möglich sein...wir wissen es eben nicht, weil es außerhalb unseres Bereiches liegt.

Ja und mein Text hatte schon die Absicht, ein wenig zu erschrecken, denn das ist es, was sich die meisten heute nicht vorstellen können...wie fragil diese von uns selbst geschaffene Welt ist...es reicht ein starker Sonnensturm und alle Lichter werden ausgeblasen...

Danke für Deine Bewertungen

LG Ganna
Schrybyr† (67) antwortete darauf am 25.08.13:
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 Ganna schrieb daraufhin am 25.08.13:
...das ist tatsächlich die Frage, aber nicht die dringlichste scheint mir, sondern die, wie es möglich ist, unser starres System dahingehend zu verändern, es etwas weicher, biegsamer und menschlicher zu machen, so dass es weniger Schaden anrichtet auf der Erde und im Universum...ist das überhaupt als Gesamtkonzept zu lösen oder geht es nur individuell...?
Dieter Wal (58) äußerte darauf am 04.11.13:
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 Ganna ergänzte dazu am 04.11.13:
Danke für den Hinweis, schaue ich mir die Tage an.
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