Über Anmut, Systemtheorie, Jonathan Meese und das Marionettentheater

Kritik zum Thema Nihilismus

von  toltec-head

Mit systemtheoretisch geschultem Blick lässt sich bei der sogenannten Diktatur der Kunst von Jonathan Meese leicht beobachten, dass hier nur proklamiert wird, was ohnehin gilt. Die Kunst ist nicht Politik, nicht Religion, nicht Wissenschaft, nicht Wirtschaft, nicht Esoterik, die Kunst ist nur sich selbst, die Diktatur der Kunst eben. Wie billig. Denn genau diese Selbstbezüglichkeit nehmen die anderen Funktionssysteme der Gesellschaft für sich nämlich genauso in Anspruch. Worin Jonathan Meese also auf das Haar dem Investmentbanker gleicht, der Geld auch nur aus Geld macht, ohne Rücksicht auf Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, eine systemübergreifende Moral, "wahre" Werte. Und wie allen Systemhuren fehlt Meeses Kunst daher der eine Wert, auf den alles ankommt, und der gleichsam der blinde Fleck der Systemtheorie darstellt: Anmut.

Nicht am Mangel von Kunst, Wissenschaft, Religion, Wirtschaft oder Politik gehen wir zugrunde, sondern am Mangel von Anmut. Anmut als Scheu in Systemzusammenhängen aufzugehen, ist das seltenste Ding von Welt und dabei das uns einzig verbleibende revolutionäre Potential. Und das eiserne Gesetz dieser Welt heißt: einmal Systemhure, nie mehr Anmut. Dass es gerade die Selbstbezüglichkeit ist, welche die Anmut zerstört, hiervon erzählt Kleist in seinem Text zum Marionettentheater.

Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine uns ichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte.

Dieser Text über den Verlust von Anmut ist eine Parabel der modernen Welt. Er trifft Jonathan Meese genauso wie den Investmentbanker oder den Pornodarsteller. Indem er den blinden Flick der Systemtheorie, bevor diese erfunden wurde, genauestens bezeichnet, beinhaltet er wohlmöglich auch eine Art Schlüssel in eine andere Welt.


Anmerkung von toltec-head:

Jonathan Meese und die Diktatur der Kunst: http://www.youtube.com/watch?v=d7-1-dDqhhg

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Kommentare zu diesem Text

JakobJanus (35)
(22.10.13)
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 toltec-head meinte dazu am 22.10.13:
Systeme „kennen“ Menschen nur als Umwelt.

Genau. Aber gerade deswegen kann jemand zur Systemhure werden. Die kleinste Einheit sozialer Systeme ist nicht der Mensch, dieses komische Gebräu aus einem psychischen System und einer Vielzahl biologischer Systeme, sondern Kommunikation. Vom Menschen aus gesehen sind aber die sozialen Systeme (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst etc) ihrerseits ebenfalls bloße Umwelt. An sich hätte man also Gründe, sich frei zu fühlen. Aber gibt es die strukturelle Koppelung. Die sozialen Systeme interpenetrieren die psychischen Systeme. Kommunikation fräst sich in das Bewusstsein ein. Wer sich als psychisches System zu sehr mit dieser strukturellen Kopplung identifiziert, den kann man als Systemhure bezeichnen. Die umgekehrte Figur, also derjenige, dem die Desidentifikation mit Kommunikation gelingt, wäre der Parasit.
JakobJanus (35) antwortete darauf am 22.10.13:
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JakobJanus (35) schrieb daraufhin am 22.10.13:
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 toltec-head äußerte darauf am 22.10.13:
Bewusstsein ist nur ein anderes Wort für psychisches System. Den Menschen im humanistischen Sinn gibt es in der Systemtheorie gar nicht. Es gibt Bewusstsein oder besser: Bewusstseine, die strukurell gekoppelt sind mit Körpern.

Zu strukturellen Kopplung gibt es sogar, wie ich gerade sehe, einen Wikipedia Artikel.

Zitat:

„Strukturelle Kopplung“ löst das Problem, dass selbstreferentielle (autopoietische) Systeme nicht in ihrer Umwelt, also auch nicht innerhalb anderer Systeme operieren können, dennoch aber scheinbar aufeinander abgestimmte Entwicklungen zu beobachten sind. Nach Luhmann können diese gegenseitige Abstimmungen unterschiedlicher Systeme nicht Ergebnis von Durchgriffskausalitäten sein, wozu die Systeme außerhalb ihres (die System|Umwelt-Grenze konstituierenden) „Codes“ operieren müssten, was sie (nach Luhmanns Definition) gerade nicht können.

Beispiel: Oliver Jahraus (2001) beschreibt die „strukturelle Kopplung“ von Bewusstsein (psychisches System) und Kommunikation mit der Metapher zweier nebeneinander gestellter Uhren, die so ausgestattet sind, dass jede für sich nur dann tickt, wenn sie mittels eines Sensors ein Ticken der anderen Uhr registriert.



Von Schweinesystem zumal im Singular kann gar keine Rede sein.

 toltec-head ergänzte dazu am 22.10.13:
Zur Interpenetration: Auch diese ist ein fester Bestandteil der Systemtheorie.

http://www.luhmann-online.de/glossar/interpenetration.htm
JakobJanus (35) meinte dazu am 22.10.13:
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 toltec-head meinte dazu am 22.10.13:
Wenn etwas fester Bestandteil einer Theorie ist, kann dies schlecht gleichzeitiger ihr blinder Fleck sein. Ich tippe weiterhin auf Anmut. Wirst du in keinem Luhmann Register finden. Man kann übrigens auch bei der Grenzziehung zwischen psychischem System und Körper ansetzen. Verglichen mit übermenschlicher Anmut erscheint diese doch als etwas nur allzu menschliches.
JakobJanus (35) meinte dazu am 22.10.13:
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 toltec-head meinte dazu am 23.10.13:
Nimm "Draw a distinction" als Grundanweisung. Wer sich darauf einlässt, verliert an Anmut. Darum geht´s auch in dem Kleist Text. Sobald der Jüngling sich differenziert beobachtet, ist die Anmut futsch. Die Systemtheorie sagt, es geht aber nur so. Deshalb muss sie Anmut konstitutionell ausblenden. Ein blinder Fleck ist nicht nur etwas, was man nicht sieht. Man sieht immer unendlich viel nicht, wenn man irgendwas fixiert. Ein blinder Fleck hat mit der Konstitution eines Sehens zu tun. Und die Konstitution der Systemtheorie ist ein nicht anmutsvolles Sehen, so meine These.
(Antwort korrigiert am 23.10.2013)
JakobJanus (35) meinte dazu am 23.10.13:
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 toltec-head meinte dazu am 23.10.13:
Ein Beobachter wie L wird bei Kunst immer das oberste Gesetz "Draw a distinction" beachtet finden. Aber ich denke bei großer Kunst scheint immer etwas Undifferenziertes ("in sich selbst Scheinendes") auf. Und es muss ja nicht immer ein Jüngling sein. Manchmal tut´s auch eine Lampe:

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form -
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
JakobJanus (35) meinte dazu am 23.10.13:
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JakobJanus (35) meinte dazu am 23.10.13:
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 toltec-head meinte dazu am 04.02.14:
Nein, von der Sonne.

 EkkehartMittelberg (24.10.13)
Eine gewaltige Klatsche, die du Meese verpasst, und sie sitzt. In der Anmut manifestiert sich, höchst selten, das Schönste der Kunst. Warum ist sie so selten? Weil der Mensch sie als bewusstes Wesen reproduzieren will und damit zerstört. Er tut den Sündenfall des Bewusstseins und wird deshalb aus Arakadien, dem Land der Anmut, vertrieben. (Schiller: über "Anmut und Würde" sinngemäß wiedergegeben)
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