Lose Kopplung - Das Evangelium nach Niklas Luhmann

Essay zum Thema Nihilismus

von  toltec-head

Die einzigen, die das Prinzip der losen Kopplung noch nicht verinnerlicht zu haben scheinen, sind die sogenannten Geisteswissenschaftler und Künstler. Es ist schade, dass die Fließbandarbeiter bei Ford keine Gedichte hinterlassen haben. Sie waren die ersten, die einen Geschmack davon bekamen, was es heißt, nur noch lose gekoppelt zu sein. Stattdessen das Originalitätsgetue bei Rilke und so in der Dichtung bis heute. (Durs Grünbein: "Fernsehschauen heißt in Fäkalien baden." Na und? Tät ihm vielleicht mal ganz gut.) Lose Kopplung heißt, das, was Marx Entfremdung nannte, in´s Herrliche kehren: Gerade weil ich als Mensch nicht mehr gebraucht werde und sogar mein sogenanntes Privatleben nur eine Kolonie strategischer, gesellschaftlicher Interessen ist, kann ich als Harlekin im Dunklen tanzen.

Doofe Vorstellung einiger Marxisten, die Wirtschaft solle nach dem Modell einer Großfamilie gestrickt werden, in der jeder für den anderen sorgt und alle einander anerkennen. Als wenn das nicht Faschismus pur wäre. Der Kapitalismus ist gerade deswegen gütig, weil er uns von der Familie, die seit jeher das totalitärste Regime auf Erden war, befreit. Wahr ist, dass auch die Wirtschaft Commitment verlangt, was ein wenig lästig sein kann. Es wird in der Wirtschaft aber anders als bei Muttern nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und in aller Regel kommt man mit dem Nachsprechen irgendwelcher Phrasen ganz gut durch. Die Wirtschaft ist eben zum Glück überhaupt nicht daran interessiert, wie es um uns wirklich steht. Die Wahrung des äußeren Anscheins reicht für sie vollkommen aus.  Für das heimlich Schnüffeln in unseren mühsam versteckten Tagebüchern hat sie - die Wirtschaft -  keinerlei Muße. Der Ausdruck wahrer Innerlichkeit - Originalität-, wird heute daher eigentlich nirgendwo mehr erwartet. Nur die armen Geisteswissenschaftler und Künstler müssen weiterhin so tun, als ob es so etwas wie Originalität noch gäbe. Und dabei sehen sie sich dann dem allergnadenlosesten Konkurrenzkampf ausgesetzt, den man sich überhaupt nur denken kann. Am Ende springen einige "echte" Persönlichkeiten dabei heraus, die allermeisten enden aber als Originalitätskrüppel, die, wenn sie Glück haben und unverschämt sind, vielleicht ein Publikum in Internetliteraturforen finden.

In der schwulen Sauna, in die ich immer gehe, gibt es einen Frührentner, der 30 Jahre bei VW am Fließband gearbeitet hat. Er ist eigentlich immer da, wenn ich mal gehe und da ich ja nicht immer gehe, muss er wohl so etwas wie eine Dauerkarte haben. Es handelt sich um den nettesten Menschen auf Erden. Portugiese, der in den 70ern hierherkam, hängen blieb, und immer noch kein richtiges Deutsch spricht. Manchmal bekommt er jemanden ab, den ich nicht abbekomme, weil es eben Leute gibt, die tatsächlich auf Ältere stehen und er tatsächlich einfach nett ist. Dabei ist er klein, hat einen Bauch und sieht aus wie ein verschrumpelter Teddy-Bär. Er ist da, wenn ich komme, und bleibt auch noch, wenn ich gehe. Seine Kabine sieht aus wie ein Wohnzimmer, im Winter fehlt knapp die Weihnachtsdekoration. Ich frage mich, ob er den Laden überhaupt jemals verlässt. Als Harlekin im Darkroom ist er ein hervorragendes Beispiel für lose Kopplung und die Güte des Kapitalismus. Du musst nur einen klitzekleinen Platz im Wirtschaftssystem für dich finden - was zugegebenermaßen schwer ist, aber doch viel einfacher als in früheren Jahrhunderten - und schon wirst du für den Rest deines Lebens in Ruhe gelassen. Auf Dinge wie Familie, Religion, sogar Recht und Politik kannst du von nun an pfeifen und dich beispielsweise in einer schwulen Sauna einnisten, wo es ja tatsächlich alles gibt, was der Mensch zum Leben braucht.

Niemand muss heute mehr einen auf Rilke machen, wir können alle als Harlekin in irgendeinem Darkroom, und sei dies auch nur ein Internetliteraturforum, tanzen. Lose Kopplung - das Evangelium nach Niklas Luhmann.

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Kommentare zu diesem Text

lucien (26)
(21.02.14)
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parkfüralteprofs (57) meinte dazu am 21.02.14:
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 toltec-head antwortete darauf am 21.02.14:
Hab mir "Mit Marietta Slomka in der separierten Ladyfitness" als Arbeitstitel notiert. Walter Benjamin über die Lesben in den Gedichten von Baudelaire: Das Leitbild der lesbischen Frau bringt die zwiespältige Position der "Moderne" gegenüber der technischen Entwicklung zum Ausdruck. Was Baudelaire George Sand nicht verzeihen konnte, das war wohl, dieses Bild, dessen Züge sie trug, durch ihre humanitäre Gesinnung profaniert zu haben. Baudelaire sagt, so schreibt Benjamin, sie, also Sand, sei viel schlimmer als Sade. Baudelaire und Benjamin kannten aber Marietta noch nicht. Hier werde ich ansetzen.
parkfüralteprofs (57)
(21.02.14)
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 toltec-head schrieb daraufhin am 21.02.14:
Nettes Lesben-Video, das du da ausgekramt hast, Prof. "La femme aura Gomorrhe et l´homme aura Sodome." Das ist von? Richtig, Alfred de Vigny. Berühmter Satz, aber nur weil von Proust so oft zitiert. Proust hebt hervor, dass Vigny die beiden, also Sodom und Gomorrha, als unversöhnliche Feinde einander entgegensetzt. Es gibt von ihm einen Baudelaire-Aufsatz, wo er es als das Mysterium Baudelaires bezeichnet, dass in den Fleurs du Mal gerade umgekehrt eine "Liaison" zwischen Sodom und Gomorrha zelebriert wird. Genau an dieser Schnittstelle wird mein großes Epos "Mit Marietta Slomka in der separierten Lady-Fitness" ansetzen.
(Antwort korrigiert am 21.02.2014)
(Antwort korrigiert am 21.02.2014)
(Antwort korrigiert am 21.02.2014)

 toltec-head äußerte darauf am 21.02.14:
Schreibt man separierte Lady-Fitness oder separierte Ladyfitness?
parkfüralteprofs (57) ergänzte dazu am 22.02.14:
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