Finisterre

Kurzgeschichte zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

„Ja, aber warum?“
„Das kann ich auch nicht sagen.“
Das Beil saust abermals herab.
„Todessehnsucht vielleicht.“
„Die Sehnsucht der Anderen.“
„Ja.“
„Aber die wollen nicht sterben.“
„Sie wissen es nur noch nicht.“
Die Stille draußen und die Dunkelheit sind allumfassend. Ich bin wie in einem lichtleeren Aquarium. Wie in einem tiefen Meer bei Nacht.
„Wenn ich mit ihnen fertig bin, wollen sie sterben.“
„Wer?“
„Na, die Menschen.“
Er hackt weiter mit dem Beil, ein dumpfer Laut, als würde jemand mit dem Kopf gegen eine morsche lose Bretterwand rennen.
„Was ist mit deiner Beziehung zum Tod?“
„Der Mensch ist weder edel noch gut, wenn du das meinst.“
„Das bedeutet doch nichts. Der Mensch ist der Mensch.“
„Ja, und ich gehöre dazu.“
Er reißt an dem Fleisch und es löst sich vom Knochen. Er wirft es mit einem klatschenden Geräusch in den am Boden stehenden Eimer.
„Das ist doch sinnlos.“
„Was denn?“
„Die Taten, die du begehst – sie sind sinnlos, ohne Verstand.“
„Ich mache mir meinen Sinn selber. Was hat das für einen Sinn: jeden Tag essen, scheißen, schlafen. Wozu soll das gut sein. Es ist so eingerichtet, dass wir nur überleben können, wenn wir andere vertilgen. Das ist doch der Sinn. Das Edle und das Gute – das sind doch nur Fragen der Form, nicht des Inhalts.“
„Also deshalb.“
„Was?“
„Weil du es kannst.“
„Ja, und weil es keinen Unterschied macht. Es gibt so viele von uns. Viel zu viele. Wie Ameisen oder Fliegen. Eintagsfliegen. Was ist der tiefere Sinn des Lebens einer Eintagsfliege.“
„Gott weiß es.“
„Gott hat damit nichts zu tun. Das ist Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme. Alles andere ist menschliches Konstrukt zu unserer Beruhigung und Besänftigung.“
Das Beil fällt herab. Die Schneide schimmert einen kurzen Augenblick unter der nackten Glühbirne. Hier draußen in dieser modrigen verfallenen Hütte im Wald hört niemand mich schreien. Ich schreie auch nicht. Weshalb sollte ich die Luft mit den Vibrationen meiner Stimmbänder in Bewegung versetzen, wenn ich sie doch zum Atmen brauche. Eine beinahe unhöfliche Lärmbelästigung, die zu nichts führt.
„Ich habe Durst.“
„Bedürfnisbefriedigung?“
„Ja, bitte, trotz allem.“
Nachdem er meinen Durst gestillt hat, geht es mir etwas besser. Ein Funken vorläufiges Leben. Meine beiden Oberschenkel sind jetzt abgetrennt und liegen auf dem Tisch hinter ihm, merkwürdig unpersönliche Fleischpflöcke, grau und kahl. Die Betäubung sorgt dafür, dass ich kaum etwas spüre, relativ gesehen. Es ist wie ein schlimmer Muskelkrampf nach einem langen Marsch, ein Gefühl der Taubheit und gleichzeitig des Schmerzes, als hätte man knotige Stöcke statt Beine.
„Was kommt als nächstes?“
„Deine Arme.“
„Gibt es einen besonderen Grund, weshalb du mich ausgewählt hast?“
„Nein. Zufall.“
„Aber der Tod darf doch kein Zufall sein.“, ich halte inne, „Oder doch?“.
„Was denn sonst. Außerdem lebst du ja noch, ist das nicht das einzige, das zählt?“
„Ja, aber wie denn!“
Er zündet sich eine Zigarette an, inhaliert den Rauch tief in seine Lungen und bläst ihn an die Decke. Er greift zum Messer.
„Das ist alles in Relation zu sehen, weißt du. Es dauert so lange, wie es dauert.“
„Das ist doch – hirnrissig!“
Ich weine und beginne zu zittern, mir ist kalt, mein Blick irrt suchend durch den Raum.
„Nun, es ist gleichgültig, da hast du recht. Es hätte genauso gut jeder andere sein können.“
„Ja, aber du, was ist mit dir?“
„Es ist wie Taubenfüttern im einem Park ohne Tauben, oder Kreuzworträtsellösen mit einem Lexikon im Schoß, Gebete in einer leeren Kirche sprechen, oder abends ausgehen mit Freunden, die man nicht wirklich kennt; wie das Blau im Himmel, oder Erdbeben in Chile, Atomkatastrophen, Steuererhöhungen, oder Sintfluten, die Geburt eines Kindes, oder einen Sonnenbrand kriegen am Strand. Es macht, auf die lange Distanz gesehen, keinen Unterschied. Es verrückt nicht ein Atom im Universum. Und ich – ich kann es eben machen, unabhängig von meiner Vergangenheit und meiner Zukunft. Ich tue es. Es hat keinen tieferen Sinn.“
Er wirft den Zigarettenstummel auf den Boden und drückt ihn mit dem Stiefel aus. Er nimmt das Messer, tritt zum Tisch und beginnt zu schneiden. Wir schweigen und warten, was passieren wird.
Der Himmel ist in Wirklichkeit nicht blau.



© Rainer M. Scholz

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