Mein Vater, der Philosoph VIII.

Text zum Thema Philosophie

von  theatralisch

Wir müssen zu unserem Sein nichts dazutun. Wir dürfen auch einfach mal (so) sein.

Mein Vater fragte mich, wovor ich am meisten Angst hätte. Ich erwiderte:
"Davor, im Alter von 18 Jahren ignoriert zu haben, dass das Leben nicht nahtlos in den Tod übergehen muss. Es kann auch anders sein. Und ich frage mich zuweilen, warum ich es eigentlich immerzu so herausgefordert habe, als gäbe es kein Morgen oder vielmehr Übermorgen. Wahrscheinlich, weil ich zu viel Talent besitze und mir noch nie über etwas anderes Gedanken machen musste als über meine Bildung. Und dennoch habe ich gefühlte eine Million Chancen nicht wahrgenommen. Die Vergangenheit will ich jedoch ruhen lassen. Denn sie ist die Vergangenheit. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, woher andere Menschen ihren Antrieb nehmen, wenn sie sich die Frage stellen, was tun: Engagement im Theater? Studium der Psychologie? Umzug nach Hamburg? Und dergleichen. Sie tun es schließlich nicht einfach. Der Weg ist das Ziel.

Menschen gehen mitunter einen langen Weg, ehe sie ihr Ziel erreicht haben. Ich habe das Gefühl, das sind in gleicher Weise solche wie ich es bin: Zu viel Geschick, zu viel Glück. Also fehlt mir die Energie, ergo. Und lange Rede, kurzer Sinn: Das ist nicht schlimm. Wichtig ist im Grunde genommen in erster Linie der Fakt, körperlich möglichst unversehrt zu sein. Der liebe Christoph Schlingensief hat in seinem Krebstagebuch über die mit der Krankheit und dem Sterben einhergehende Scham geschrieben und ich habe mitgefühlt. Es ist schauderhaft, mit einem Mal oder auch sukzessive mit seinem Körper anders umgehen zu müssen und ihn schließlich beispielsweise den Ärzten "unter den Händen wegsterben zu sehen". Das ist einfach schauderhaft. Ich werde den Christoph nie vergessen, überdies."

Vater: "Ich auch nicht. Also das mit dem Christoph. Den Rest verstehe ich auch. Oft freue ich mich morgens nach dem Aufstehen oder nach wenigen Minuten Arbeitszeit schon darauf, abends wieder ins Bett gehen zu können. Und ja, meistens dann, wenn mein Kontinuum gegen "Krankheit" geht. Meistens dann. An manchen Tagen muss auch nicht mehr passieren als das. Menschen, die sich ihr Leben nicht danach ausrichten können, haben es schwer. Ich wünsche dir so sehr, dass du es einmal genauso leicht haben wirst wie ich. So sehr."

Ich: "Wir müssen zu unserem Sein nichts dazu tun. Wir dürfen auch einfach mal (so) sein."

Wir sahen uns schlaftrunken an, obgleich es bereits nach Mitternacht war.

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