Mein Vater, der Philosoph XII.

Text zum Thema Philosophie

von  theatralisch

Soeben telefonierte ich mit meinem Vater und befragte ihn zum Thema "Liebe". Es wäre verwunderlich gewesen, wenn er nicht über die Willensfreiheit den Zugang zum Thema gefunden hätte. Es ist, als schwebe ihm permanent nur die Willensfreiheit vor Augen. In anderen Worten ist der philosophische Zugang natürlich gewissermaßen vorprogrammiert für einen Philosophen.

Also rief ich meinen Vater an und stieg ins Gespräch ein wie folgt: "In den letzten Tagen musste ich in einem fort über die Liebe nachdenken. Und wenn ich dich nicht auch dazu befragen würde, wäre die Sache einfach nicht rund. Wie ich über die Liebe denke: Ich schrieb es in einem meiner letzten Texte. Für mich ist Liebe unter anderem der größte Ausdruck auf der realen Bühne, den ich anderen Personen zuteil werden lassen kann. Liebe ist auch Konsequenz, da so stark und vor allem dynamisch - Liebe geschieht nicht einseitig. Für mich ist Liebe die Interaktion stets zweier Personen, die etwas noch Größeres teilen wollen, ihr Leben. Das klingt gewissermaßen romantisch, ist es jedoch vielmehr im Gegenteil. Liebe ist die Antwort auf die Sehnsucht - wenn wir uns schon längst gefunden haben, jedoch das Gefühl nicht loswerden, dass (noch) etwas fehlt. Liebe stillt und bringt Stille zum Stillstand. Mit einem Mal ist da Spannung, zumindest mehr als zuvor. Und so weiter. Und du?"

Vater holte tief Luft: "Um zu sagen oder zu erklären, was es mit meiner Auffassung über die Liebe auf sich hat, muss ich zunächst erklären, was unter der Willensfreiheit zu verstehen ist. Leibniz zum Beispiel sagt, der Wille könne sich nur auf das Handeln richten, nicht auf das Wollen. Demnach: Wir können nur handeln wollen, jedoch nicht wollen wollen, denn das wäre ein endloses wollen-Wollen. Nach Schopenhauer kann der Mensch tun, was er will, jedoch nicht wollen, was er will.
Wir müssen davon ausgehen, Neigungen und Wünsche zu haben, die einfach da sind, ohne dass unser Wollen etwas dazutun könnte. Also müssen wir uns fragen, was mit diesen Wünschen und Neigungen weiter geschieht. Locke zum Beispiel führt an, Vermögen, also der Wille, könne kein weiteres Vermögen besitzen, somit könne er auch nicht frei sein."

Hier geht mein Vater gerne auf den Drogensüchtigen ein, der zwar dem Willen nachgeht, zu konsumieren, jedoch gleichermaßen wünscht, nicht mehr konsumieren zu wollen. Hier setze ich gerne dagegen, dass der Drogensüchtige eine derartige Ambivalenz zu durchbrechen hat, die es nicht allein mit dem Wollen aufnehmen muss, sondern mit ganz anderem.

"Aha!", sagt er dann. "Aha! Das ist ja interessant. Da hast du einiges gelernt." Und lächelt mich gerührt an, um sogleich fortzufahren: "Kant wiederum sagt, dass selbst der gefolterte Mensch noch immer freien Willens ist. Diese These ist anthropologischer Art und das ist auch der Grund für ihr Bestehen. Beispielsweise wird im Strafrecht bei Einzelfällen davon ausgegangen, dass der Mensch nicht mehr nach der Einsicht, das Unrecht zu sehen, handeln kann. Dazu muss ich sagen, dass es ja in der Philosophie in erster Linie darum geht, etwas zu erklären, das bereits offenkundig vor unseren Augen liegt, also gar nicht mehr erklärt werden müsste. Dies trifft vermutlich auch auf die Willensfreiheit zu: Wir behaupten einfach so, willensfrei zu sein, ohne tatsächlich über diese Fähigkeit nachzudenken. Für den Rest müsste ich noch weiter ausholen, also gehe ich zur Liebe über. Liebe kann nicht willensfrei sein, da sie immer auch vom Gegenüber, der sie erwidern muss, abhängig ist. Eine Liebe, die ins Leere geht, ist am Ende keine Liebe mehr, sondern erfolglose Mühe. Und Liebe zieht darüber hinaus ein Handeln nach sich, das ohne die Liebe nicht stattfinden würde. Wenn wir also weitestgehend selbstbestimmt sein wollen, müssen wir uns beinahe von der Liebe distanzieren. Denn die bringt so einiges mit sich. Wobei Harry Gordon Frankfurt von willenloser Liebe spricht. Meiner Auffassung nach stimmt dies jedoch nicht. Und so möchte ich dich in die eigenmächtige Reflexion entlassen. Denke, was du denken willst!"

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Kommentare zu diesem Text

Abulie (45)
(23.08.16)
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 theatralisch meinte dazu am 23.08.16:
Da kann ich dir gleichermaßen zustimmen. Unter anderem, weil ich Vertreterin des Konstruktivismus bin. Das heißt, es kommt wohl darauf an, wie du "Liebe" definierst. Ich habe eingehend darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass Liebe der Zufriedenheit wegen (zumindest die, welche in einer Partnerschaft vorzufinden ist) auf Gegenseitigkeit beruhen müsste.

Tatsächlich ist DIE Liebe natürlich etwas sehr Großes. Wenn ich beispielsweise an die Philosophie, also die Liebe zur Weisheit, denke. Liebe ist generell überall vorzufinden. Ich beispielsweise bin immer gerne dazu bereit, Menschen etwas von meiner Liebe entgegenzubringen, sie auf ihren Wegen zu begleiten etc. pp. Dazu gehört beispielsweise, dass ich mir große Mühe gebe, eine gute Gesprächspartnerin bin und C. Rogers beipflichte: Empathie, Wertschätzung, Kongruenz.

In sofern: Herzlichen Dank für deinen Kommentar! Ich bin immer und gerne offen für andere Menschen/Auffassungen etc. pp.

P.S.
Ja, der Kater Leon. Das Bild ist vor 12 Jahren entstanden, da war er ein halbes Jahr und ich 16 Jahre alt. Heute, 12 Jahre später...leben wir beide noch.

 Augustus (23.08.16)
Nicht mein Wollen sondern mein Handeln erklärt mein Wollen Dir einen freundlichen Kommentar zu hinterlassen, der Dir mein Lesevergnügen über ein interessantes Vater-Tochter Verhältnis als Bote überbringen soll.

Ave
Augustus

 theatralisch antwortete darauf am 23.08.16:
Herzlichen Dank! Da hast du etwas sehr Schönes gesagt.

 unangepasste (23.08.16)
Ich habe mich gerne durch diese Vater-Tochter-Texte gelesen.

 theatralisch schrieb daraufhin am 23.08.16:
Herzlichen Dank!
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