Mein Vater, der Philosoph XI.

Text zum Thema Philosophie

von  theatralisch

Am Wochenende habe ich meinem Vater einen Besuch in Berlin abgestattet. Manchmal ist es so, dass er mich vom (Bus)Bahnhof abholt und manchmal ist es anders. Dieses Mal machte ich mich alleine in einer der gelben Bahnen auf den Weg zu Vaters Maisonette Wohnung. Eine wirklich extravagante Wohnung, die er sehr minimalistisch eingerichtet hat. Der Fokus liegt eindeutig auf der Bibliothek, die sich über das Zwischengeschoss vom Boden bis zur Decke erstreckt und durch eine Treppe zugänglich ist. Beinahe unvorstellbar, wer es nicht gesehen hat.

Seit ich meinen Vater kenne, bezieht sich sein Interessenhorizont auf Medien jedweder Art und vor allem auf Bücher.

Als ich schließlich die Wohnung erreicht hatte, schloss ich auf und betrat diese auf relativ leisen Sohlen. Immerzu hatte ich das Gefühl, dass Menschen von meiner Anwesenheit gestört sein könnten.

Mein Vater lag sozusagen inmitten seiner Bücher auf einem der Ohrensessel und schreckte auf, nachdem er mich vernommen hatte: "Ach, du bist’s. Schon. Ich habe völlig die Zeit vergessen." Und er lächelte in sich hinein. Wohl, weil er sich vorstellte, wie es sich für die Zeit anfühlen musste, wenn Menschen in einem fort davon sprechen, diese zu vergessen.

"Hallo!", erwiderte ich. Und: "Wie geht es dir denn?"

Vater saß nun aufrecht und schlug ein Bein über das andere: "Ja, mit dem Fühlen ist es wie mit Kommunizieren. Ein ’Ohne’ halte ich schlichtweg für unmöglich."

Und jetzt lächelte auch ich: "Ich freue mich, dich zu sehen. Bin ich doch viel zu selten hier."

"Sag mal!", so Vater. "Als C. H. letztens hier war, hat er mir davon berichtet, du würdest über mich schreiben. Ich hoffe, nur Gutes!?"

"Ich schreibe...", pointierte ich, "was ich zu schrieben gedenke. Du kommst als ein Jemand darin vor, den ich sehr zu schätzen weiß. Und eigentlich machte ich mir seit unserem letzten Treffen etwas Sorgen um dich. Deshalb war es mein Anliegen, dass C. H. nach dir sehen sollte. Wie ich sehe, geht es dir besser."

"Ich weiß nicht, ob es mir besser geht. Das ist auch nicht der Punkt. Das weißt du wahrscheinlich. Es geht um mehr. Permanent geht es darum, sich von der Menge abzugrenzen, wenn Beliebigkeit nicht Einzug halten soll. Und das solltest du auch tun. Es tat mir beim letzten Treffen regelrecht weh, zu sehen, was du eigentlich hättest werden können und immer noch werden könntest. Nichts, was andere Menschen - gar ich - von dir erwarten, sondern, ja, ich habe das immerzu in deinen Augen gesehen und sehe es noch heute: Du willst schreiben, Menschen in Unruhen versetzen, sie fordern und an ihr Bewusstsein appellieren. Welches auch immer. Ich ahne, was du willst. So unähnlich sind wir uns nicht. Und ich mache mir oft irrsinnige Vorwürfe, dass ich Schuld an deinem Leid trage. Ich spüre, wenn du leidest. Es ist nicht schön und ich wünschte, du würdest weniger leiden. Leid ist essentiell. Deshalb: Einfach weniger."

"Vater", seufzte ich, "es ist keine Frage der Schuld, sondern eine der Verwirklichung. Wir leben im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit spielt insofern keine Rolle mehr. Wir können es nur besser machen. Wer auch immer etwas dazu beigetragen hat, dass es nicht (bereits) besser ist."

Vater und ich sahen uns an. Und schwiegen für "den Rest der Zeit", das heißt: So lange, bis wir es nicht mehr taten und stattdessen etwas anderes.

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