Genie

Essay zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  Graeculus

Der Barockmaler Michelangelo Caravaggio erhielt von einem Kardinal den Auftrag für ein Gemälde, das den Tod Mariens darstellen sollte. Nun stand der Maler vor der Wahl, das 1723800. Bild Mariens zu malen ... oder etwas, das es noch nie gegeben hatte, das noch nie gewagt worden war.

https://de.qaz.wiki/wiki/Death_of_the_Virgin_(Caravaggio)

Das von ihm gemalte Bild ist weltberühmt, auch wenn der entsetzte Kardinal sich zunächst geweigert hat, das vereinbarte Honorar zu zahlen. Es zeigt eine Frauenleiche auf einem Bett, umringt von trauernden Menschen. Die unerhörte Entscheidung Caravaggios gegen die Anmutung, einfach ein weiteres Marienbild zu malen, bestand darin, daß die tote Maria die damals in Florenz stadtbekannten Züge einer Hure trug, die man unlängst ermordet aus dem Arno gefischt hatte.

Das ist es, was künstlerische Genialität von konventioneller Produktion unterscheidet: nicht bloß das Erwartbare zu tun und nicht bloß das, was ein Kunde sehen oder lesen will.

Übrigens wußte Caravaggio ein Mittel, wie er dennoch an sein Honorar kam, und war auch skrupellos genug, es einzusetzen. Der Kardinal hatte ein kleines Geheimnis: seine allzu priesterliche Liebe zu Meßdienern. Ehe Caravaggio dies öffentlich machte, zahlte der Hohepriester lieber. Ein Genie kann auch ein Verbrecher sein.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (20.11.20)
Mir mundet am beschriebenen Bild ganz besonders seine (ungewollte?) emanzipatorische Aussage. Die Leiche der Verstorbenen wird (nach einer Interpretation) von trauernden Aposteln umringt.
Da aber offenbar eine Hure als Vorbild der Jungfrau diente, kann es sich ebenso um ehemalige Kunden handeln ... denn weinende Frauen fehlen hier ganz.
Dies alles meine ich keineswegs blasphemisch, denn darin liegt eine ganz eigene Poesie: Die Unschuld der sog. Verlorenen.

Jedenfalls ein tolles Bild und ein guter Text. :)
der8.
Stelzie (55) meinte dazu am 20.11.20:
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 AchterZwerg antwortete darauf am 20.11.20:
Das güldet nich!

 Graeculus schrieb daraufhin am 20.11.20:
Daß es sich bei den Umstehenden ausschließlich um Männer handele, hat Stelzie schon richtiggestellt. Sollte es sich bei den Männern um Kunden/Freier handeln, wäre das den Florentinern wohl ebenso aufgefallen wie die Identität der "Maria" und hätte einen noch größeren Skandal ausgelöst.
Was man sagen kann, ist, daß Caravaggio sich in diesem und im kriminellen Milieu bewegte.
Gedacht habe ich daran, ob er den Auftrag, Maria zu malen, sitllschweigend auf Maria Magdalena übertragen haben könnte, denn der sagte man ja nach, sie sei eine 'sündige Frau' gewesen.

 LottaManguetti (20.11.20)
Wie du nun weißt, lieber Greac, lese ich nicht nur ganze Sätze, sondern schaue auch genau auf Malereien.
Da tun sich ja Abgründe auf! Ob Michel das beabsichtigt hatte?

Lieben Gruß
Lotta

 Graeculus äußerte darauf am 20.11.20:
Nach allem, was man sagen kann, hat er das beabsichtigt. Caravaggio war ein genialer Wüstling. Von Wüstlingen gibt es viele, aber mich fasziniert dieser Blick dafür (den ich genial nenne), daß man aus einem vorgegebenen und vieltausendfach variierten Thema auch etwas ganz anderes machen kann. Er fährt nicht einfach weiter auf einer Schiene.

 TassoTuwas (20.11.20)
Auf der Caravaggio-Retrospektive in Düsseldorf, vor etlichen Jahren, waren über vierzig seiner Bilder zu sehen. Besser gesagt zu bestaunen.
Werke von ungeschminkter, z.T. brutaler Realität, an denen man erkennen konnte was er im Leben war, ein wildes, abenteuerliches Genie.
LG TT

 Graeculus ergänzte dazu am 20.11.20:
Mensch, jetzt erinnere ich mich. Diese Ausstellung habe ich gesehen! Wie konnte das meinem Gedächtnis entschwinden? Danke für die Auffrischung. Dein Urteil: das teile ich, unbedingt.

 LotharAtzert (20.11.20)
Als Anekdote zum Nacherzählen geeignet, bei den kV-Damen kannst du damit brillieren, aber:
Was du genial nennst, ist das Ursprüngliche (Uranus), das von den Menschen immer und überall so lange verdrängt, verfolgt, verhindert wird, bis es sich durchsetzt. In dem Moment folgt der Umschwung, jetzt ist das, was nicht mehr verdrängt werden kann, plötzlich "genial" - auf eine Art und Weise, als wäre es immer schon so gewesen und nur für "Normalsterbliche" unerreichbar.
Ein schöpferischer Mensch scheißt instinktiv auf solche "Verarschung".
So oder ähnlich hat Döbereiner schon vor 40 Jahren gesprochen. Ich vermisse nicht nur ihn, sondern all jene, die noch ein bißchen klar denken könnten in einer Zeit, wo alles den Bach runter geht.

 Lluviagata meinte dazu am 20.11.20:
Wer ist Döbereiner und wer ist Michelangelo? Hm. So gesehen ist Michelangelo für mich ein Döbereiner.

Meint Llu ♥

 LotharAtzert meinte dazu am 20.11.20:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 20.11.2020 um 11:29 Uhr wieder zurückgezogen.

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Wir unterscheiden Michelangelo Buonarroti, den noch berühmteren, und Michelangelo Caravaggio, ja? Michelangelo ist nur ein Vorname.

Döbereiner, so meine Vermutung, spielt nicht in dieser Liga und wird vergessen werden.

Ob dieser faszinierende Blick für eine ganz neue Möglichkeit etwas mit einem Planeten zu tun hat (spekulativ, wie ich meine), interessiert mich weniger als die Eigenschaft selbst, die einen wesentlichen Unterschied ausmacht. Wie sie zustande kommt? Ich weiß es nicht; aber eine astrologische Erklärung brächte mich ebensowenig weiter wie "Gabe Gottes" o.ä. Das wirft nur neue Fragen auf.

 LotharAtzert meinte dazu am 20.11.20:
Eine Erklärung ist eine Erklärung, ob astrologisch, pädagogisch, soziologisch usw. Du aber hast schon vor der Erklärung entschieden: "Annahme verweigert!" - da brauchen wir nicht mehr miteinander reden.
Schade.

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Manche Erklärungen machen etwas klar und verständlich, z.B. die Evolutionstheorie die Entstehung und Entwicklung von Arten. Im Lichte dieser Theorie wird verständlich, wie das funktioniert - sogar so, wie es ein Biologe einmal formulierte: "Ohne die Evolutionstheorie ergibt alles, was wir an Phänomenen beobachten, keinen Sinn."

Anders die Erklärung durch Planetenkonstelllationen. Das ist eine Zuordnung von Konstellation und Schicksal (o.ä.), aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie die Planeten das machen. Es gibt kein Naturgesetz wie Kausalität, Gravitation usw., das diese Art von Einwirkung verständlich macht.

Der Sinn der Astrologie scheint mir ein ganz anderer zu sein.

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Gelegentlich unterstellst Du mir, daß ich die Einsichten der Astrologie verdränge. So ist das aber nicht. Etwas abzulehnen, ist nicht gleichbedeutend mit Verdrängung. Ich lehne das magische Denken des Kannibalismus ab ... und verdränge damit nicht dessen Wahrheit. Du lehnst das Fleischessen ab ... und ich behaupte nicht, daß Du damit etwas verdrängst.

Das ist lediglich ein Argumentationstrick, den man z.B. bei der Psychoanalyse beobachten kann:
1. Die Psychoanalyse deckt verborgene, uns unangenehme und verdrängte Antriebe in uns selbst auf.
2. Wer das bestreitet, der tut dies, weil er die unangenehmen Wahrheiten der Psychoanalyse verdrängt.
Eine solche Behauptung kann man nicht mehr bestreiten, ohne sie zu bestätigen. Ein wohlfeiler Trick, nicht mehr.
Denn kann man beliebig, also auch zugunsten von Kannibalismus und Fleischessen, einsetzen.

Ich lehne - nach von mir vorgenommener Prüfung - die Astrologie ab, weil sie unwissenschaftlich ist, d.h. unbelegte und nicht überprüfbare Behauptungen aufstellt.

Es steht Dir jederzeit frei, mich durch eine überprüfbare Prognose (astrologische Vorhersage) zu widerlegen. Soviel Offenheit muß sein. Nur: im Nachhinein sagen: "Ich hab's vorher gewußt", das zählt dabei nicht.

Mit dem Thema hier hat das übrigens nichts mehr zu tun.

 LotharAtzert meinte dazu am 20.11.20:
" Was du genial nennst, ist das Ursprüngliche (Uranus), das von den Menschen immer und überall so lange verdrängt, verfolgt, verhindert wird, bis es sich durchsetzt. In dem Moment folgt der Umschwung, jetzt ist das, was nicht mehr verdrängt werden kann, plötzlich "genial" - auf eine Art und Weise, als wäre es immer schon so gewesen und nur für "Normalsterbliche" unerreichbar. "
- wo ist hier von Astrologie die Rede? Wenn die Erwähnung des römischen Uranus, der übrigens zur Mythologie mindestens ebenso gehört, genügt, um in Schnappatmung wg. Astrologie zu fallen, dann ist mir das eh zu blöde. Das wollt ich nur nochma gesagt haben.
Der Ursprung ist verdrängt, doch nicht das, wovon du keine Ahnung hast. Wie könntest ausgerechnet du Einsichten in die Astrologie verdrängen, wo du gar keine zum Verdrängen hast? Also was du mir da unterstellst, ist hanebüchen. Den Astrologen kannst du verdrängen, das leicht.

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Die Astrologie - nebst Buddhismus und Rhythmenlehre - ist dein Leben. Und ich kann nichts damit anfangen. Darüber sprechen wir nicht zum ersten Mal. Und nicht zum letzten Mal wird uns das in eine kommunikative Sackgasse führen.
blackdove (37)
(20.11.20)
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 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Das ist eine ganz andere Art von Malerei als diejenige Vermeers, über dessen Genialität ich nachdenken müßte. Aber die Frage, zu welcher Art von genialer Expression man einen speziellen Zugang hat, ist ja nur vom rezipierenden Subjekt her zu verstehen. Z.B. ich mag exzessive Menschen und ihre Art, sich auszudrücken.

Aber ob dieser oder ein anderer Typ: es bleibt das Phänomen, daß sie sich auf eine neue Art darstellen, wie es sie bis dahin noch nicht gegeben hat. Ein anderes, exremes Beispiel ist der Pharao Echnaton, der in Religion und Kunst geradezu eine Revolution bedeutet.

Die "Nähe zum Ursprung" macht das für mich schon deshalb nicht verständlicher, weil diese Ausdrucksweisen so sehr verschieden sind. Echnaton, Caravaggio und Vermeer - das sind doch drei "Ursprünge"! Das ist so rätselhaft, wie wenn man ganz verschiedene Dinge aus einer Ursache erklären will.
blackdove (37) meinte dazu am 21.11.20:
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 Graeculus meinte dazu am 21.11.20:
Gut zunächst, daß wir in Punkt 1 übereinstimmen. Und unser Lebensgefühl ist sicher unterschiedlich.

Zu Punkt 2: Das Gleichnis (der Vergleich) mit der Mutter und ihren verschiedenen Kindern ist nachdenkenswert. Aber Du steigerst es sogar bis zum Superlativ: verschiedensten. So ganz weit weg fällt der Apfel doch selten vom eigenen Stamm, und "die eigenen Kinder kommen selten nach fremden Leuten" (sagte mir einmal eine Frau).
Dennoch und auch im Hinblick auf meine eigenen Kinder: es ist etwas dran an dem, was Du sagst.

 EkkehartMittelberg (20.11.20)
Hallo Graeculus, der Genie-Begriff setzte sich in Deutschland auf breiter Ebene im Sturmn und Deang durch. Man bezeichnete den wahren Dichter als Originalgenie. Original heißt in diesem Zusammenhang so viel wie Ursprung. Das Genie sucht also das Ursprüngliche, das Neue. Die Dichter kokettieren jetzt auch mit dem Bösen, dem Verbrecherischen, was in deinem Text deutlich wird. Noch etwas wurde mir durch deinen Text klar: Die Wurzeln des Geniebegriffs des Sturm und Drang liegen in der italienischen Renaissance und trugen im Frühbarock (Caravaggio) Früchte.

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Das ist ein interessanter Aspekt. In welchen Kulturen und Epochen spielt die Individualität des Künstlers eine wesentliche Rolle?
Im Mittelalter eher nicht, oder? Es fängt wohl mit Dante an und blüht dann in der Renaissance. Es gab das freilich zuvor schon in der Antike, deshalb ist es eine Re-naissance.

Am Rande: Der erste Autor eines literarischen Werkes, den wir mit Namen kennen, ist eine Autorin: die mesopotamische Encheduana.

Ein großes Thema, das wir da anschneiden ... und in keiner Weise abschließen können. Vielleicht irre ich mich schon in bezug auf das Mittelalter.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.11.20:
Wir sind hier einer Meinung. Aber in einer Zeit, wo der Widerspruch, und sei er noch so schlecht begründet, als Ausweis von Denkfähigkeit gilt, empfinde ich das eher als wohltuend.

 Graeculus meinte dazu am 21.11.20:
Du meinst die voll und vielseitig entwickelte Individualität im Unterschied zur bloßen Trotzköpfigkeit?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.11.20:
So ist es.

 Judas (20.11.20)
Interessant, dass du ihn als Verbrecher bezeichnest wegen Erpressung (?).

 Graeculus meinte dazu am 20.11.20:
Erpressung ist meines Wissens ein Verbrechen, kein Vergehen. Aber ein Mörder (oder Totschläger) war er ebenfalls.
Das ist so eine Gestalt wie Villon oder Genet in der Literatur.

 TrekanBelluvitsh (20.11.20)
Das unerhörte offenbart sich nur dem Eingeweihten. Die Provokation erkennt jeder Depp.

 Graeculus meinte dazu am 21.11.20:
Das ist eine gute Unterscheidung zweier Aspekte (die ich nicht vorgenommen hatte).

 FrankReich (21.11.20)
Der Schuss kann allerdings auch richtig nach hinten losgehen. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts versteckte ein Graphiker eine Darstellung über Oralverkehr im Eiswürfel einer Coca-Cola-Werbung. Er durfte seinen Hut nehmen.
Mit den Gepflogenheiten des 16. Jahrhunderts bin ich überhaupt nicht vertraut. Ist die Schale im Vordergrund des "Marienbildes" ein Utensil zur Leichenwäsche?

Kommentar geändert am 21.11.2020 um 03:00 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 21.11.20:
Oh, beliebt sind solche originell bis genialen Einfälle durchaus nicht immer - vor allem nicht bei den Auftraggebern. Da unterscheiden sich die Erfahrungen des witzigen Werbegraphikers nicht von denen Caravaggios, der ohnehin als enfant terrible galt.

Doch scheint mir seine Deutung der Marienfigur (Maria Magdalena?) tiefsinniger zu sein als der Eiswürfel; jedenfalls kann man darüber nachdenken. Oder unterschätze ich den Eiswürfel?

Die Schale im Vordergrund wird zur Leichenwäsche gehören, ja.
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