Benjamin als Zeitschriftenwerber weckt Mutterinstinkte

Anekdote zum Thema Arbeit und Beruf

von  EkkehartMittelberg

Als Werber für eine Frauenzeitschrift hatte ich den interessantesten Job als Schüler. Ich wurde bei der Anstellung mächtig über den Tisch gezogen, weil ich nur ein Drittel der üblichen Provision erhielt, aber am Ende überwogen doch die positiven Eindrücke.
In den 50er Jahren, als Quick, Die Neue Illustrierte und Revue den Zeitschriftenmarkt beherrschten, warb ich für eine relativ unbekannte Frauenzeitschrift "Erika" (Pseudonym), die perfekt auf den bürgerlichen Geschmack der damaligen Zeit zugeschnitten war. Es gab keine Nacktfotos, allenfalls mal einen tiefen Ausschnitt, bescheidene, aber gediegene Kleidung mit schlichtem Top und Rock. Die redaktionelle Berichterstattung bestand vorwiegend aus Human interest stories nach dem Muster "Liebe besiegt alle Widerstände", "Herzlose Bürokratie am Pranger", "Der unerkannte Mörder lebt unter uns".
Man hatte mir keine Empfehlungen gegeben, wie ich Dauerabonnenten gewinnen könnte. Aber genau das fand ich spannend. In meiner Heimatstadt bestand die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung aus Bergarbeitern. Ich entschied mich, bei den Frauen der Bergleute gar keine Werbeversuche zu unternehmen, weil sie in sexueller Hinsicht freizügiger dachten als meine Zeitschrift und sich auch weniger streng konventionell kleideten. Aber es gab dennoch ein Bürgertum von Handwerkern und Beamten. Bei diesen Menschen versuchte ich mein Glück, das mir hold war.
Stellen Sie sich vor: Ich war 14 Jahre alt, brav gescheitelt, trug eine Lederhose, mit einem Sporthemd, wie man damals noch sagte,  Kniestrümpfe  sowie Halbschuhe im Landhausstil.
Das hatte zur Folge, dass ich öfter über die Schwelle des Hauses bis ins Wohnzimmer geführt wurde, weil keine jüngere oder ältere Frau vor diesem lieben Buben Angst hatte. Ich hatte manchmal sogar den Eindruck aus Neugier hereingebeten zu werden, obwohl keine Absicht bestand, eine Zeitschrift zu abonnieren.
Im Jargon der "Klinkenputzer" hieß es damals, es sei "die halbe Miete", wenn man erst einmal ins Haus gelassen würde. Und so war es auch. Ich lernte die Handlung einiger Human interest stories auswendig und erzählte den Damen je nach Einschätzung eine Liebesgeschichte oder von Menschen, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte. Dann fragte ich, ob ich eine Probenummer dalassen dürfe und kündigte einen neuen Besuch einige Tage später an.
Manchmal wurde ich auch gefragt, wofür ich das Geld im Falle eines erfolgreichen Abschlusses ausgeben würde. Darauf konnte ich wahrheitsgemäß antworten, dass ich meine Kleidung aufbessern und eine Reise mit dem Fahrrad machen wolle.
Ich freute mich darüber, einer der regional erfolgreichsten Werber zu sein, und glaube heute, dass "Erika" nicht nur wegen der redaktionellen Inhalte abonniert wurde, sondern auch weil ich Mutterinstinkte weckte.

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (22.06.21)
als jungspund gingst du vor schon sehr besonnen
anders als heutige 'drückerkolonnen'.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.06.21:
Danke, Henning, es zahlte sich aus, dass ich mir Gedanken gemacht habe.

LG
Ekki

 Lluviagata (22.06.21)
Ich wusste es - du bist ein Schlitzohr, Ekki! :D

Regengrüße
Llu ♥

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 22.06.21:
Vielen Dank, Llu, mir fehlt die Kompetenz, das zu bestätigen oder zu widerlegen. :)

Liebe Grüße
Ekki

 TassoTuwas (22.06.21)
Hallo Ekki,
diese Anekdote zeigt, um seine wahren Talente zu erkennen muss man einiges ausprobieren.
Durchaus möglich, dass du auch als Vertreter für Staubsauger eine große Karriere gemacht hättest, aber ich bin mir sicher, du hast dich am Ende der Findungsphase für den richtigen Berufsweg entschieden!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.06.21:
Hallo Tasso, ich staune, wie oft du den richtigen Instinkt hast. Bevor mein Vater in den Zwanziger Jahren als Lehrer angestellt wurde, war er Vertreter für Staubsauger von Miele.
Herzliche Grüße
Ekki

Antwort geändert am 22.06.2021 um 13:02 Uhr
Stelzie (55)
(22.06.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 22.06.21:
Merci, Kerstin. Dieses Abonnement hätte ich bestimmt nicht vergessen.
Liebe Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (22.06.21)
Amüsant, Ekki. Ich stelle mir dich als so eine Art Heintje-Verschnitt vor, der erzählt hat anstatt gesungen.

Liebe Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.06.21:
Gracias, Dirk, deine Vorstellung trifft auf den jungen Ekki wohl genau zu.

LG
Ekki
Mono (70)
(22.06.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.06.21:
Du hast völlig recht, Mono. In meinem Bekanntenkreis gab es Familien, die noch kein Fernsehgerät besaßen, aber mehrere illustrierte Zeitschriften abonniert hatten.
LG
Ekki

 AchterZwerg (22.06.21)
"Man hatte mir keine Empfehlungen gegeben, wie ich Dauerabonnenten gewinnen könnte. Aber genau das fand ich spannend ..."

Inzwischen hast du viel dazu gelernt, mein Lieber.
Mit zunehmendem Alter wächst halt zuweilen der Verstand und die Fähigkeit, denselben nutzbringend anzuwenden.

Deine treue Leserin
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.06.21:
Merci für den Hinweis, Piccola. Weniger ist manchmal mehr.

Liebe Grüße
Ekki

 GastIltis (22.06.21)
Hallo Ekki,

dein Text hat wieder gezeigt, wie einfallsreich man in früheren Zeiten sein musste, um sich halbwegs durchschlagen zu können.
In studentischen Zeiten ging es uns in erster Linie darum, mit wenig Geld einen Ostseeurlaub zu verbringen. Dabei war uns in verschiedenen Besetzungen jedes Mittel recht, was die Selbstvermarktung anbetraf, um einigermaßen erfolgreich zu sein. In einem Jahr, ich hatte wohl vier Semester hinter mir, war ich mit einem Freund in Bansin auf Usedom, also einem der Kaiserbäder, zelten. Unser Tagesablauf hatte sich so eingepegelt, dass wir das Mittagessen in Heringsdorf in einer Gaststätte (Cafe Freundschaft) etwas vom Strand entfernt einnahmen, und zwar ausschließlich Bauernfrühstück bzw. Bratkartoffeln. Dabei hatten wir zwei Plätze entdeckt, von denen man einen Blick in die Küche werfen konnte, was insofern von Vorteil war, dass wir unserer Bestellung Nachdruck verleihen konnten, indem wir der Küche die Andeutung eines übervollen Tellers erfolgreich vermittelten. Das klappte eine Zeitlang ganz gut, bis uns die Kellnerin eines Tages auf der Straße in unserem Standard-Aufzug entdeckte, nämlich in Jeans, mit Pulli und barfuß. Ihre Frage, ob wir etwa auch barfuß in der Gaststätte erschienen, bejahten wir wahrheitsgemäß, worauf sie feststellte, dass wir so keinen Zutritt mehr bekämen. So blieb nur übrig, uns am nächsten Tag Sandalen auf die Füße zu malen. Das funktionierte mit Wasserfarben aus einem Schreibwarenladen für ganz wenig Geld und brachte den Erfolg, dass wir die Einlasskontrolle gut überstanden. Dass wir zum Ende der Mahlzeit aufflogen, war abzusehen und zum Teil auch gewollt. Der Effekt, den unser nicht so ganz neuer Trick verursachte, erbrachte uns zumindest für den Rest der Tage in Heringsdorf einen Freifahrschein am Tisch mit Küchenblick.
Die Vermarktung unserer eigenen Bedürftigkeit war uns, gepaart mit dem Hang zum Küchenpersonal, gelungen.

Viele Grüße von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.06.21:
Merci, Gil, welch wunderbarer Einfall, die Einlasskontrolle zu überlisten.
Künstlerisch kreative Menschen werden oft als Versager in der Alltagspraxis dargestellt. Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Sie wussten sich auch dort zu helfen wie ihr, als ihr die Sandalen auf eure Füße gemalt habt.
Beste Grüße
Ekki

 Moja (23.06.21)
Das hätte ich Dir gar nicht zugetraut, lieber Ekki, da siehst Du mal, auch aus mir ist eine treue Abonnentin Deiner Geschichten geworden.

Herzlichen Gruß,
Moja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.21:
vielen dank, moja, ich werde dich weiter umwerben, damit du mir erhalten bleibst,
liebe grüße
ekki
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