Nachts ging die Post ab

Anekdote zum Thema Arbeit und Beruf

von  EkkehartMittelberg

Meine Ferienarbeit führte mich 1959 zur Bundepost. Ich arbeitete damals nur in Nachtschicht. Meine Aufgabe bestand darin, mit anderen unausgebildeten Arbeitskräften Pakete aus D-Zügen, die nur kurzfristig hielten, im Eiltempo zu entladen.
Wir saßen nicht selten eine Stunde lang ohne  Betätigung in der Kantine, weil kein Zug eintraf. Das bot einen Einblick in jenen Teil der damaligen Bevölkerung, der mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss diesem Job nachging, der keine besonderen Qualifikationen erforderte.

Obwohl es sich auch hier um körperliche Arbeit handelte, hatte ich schnell den Dreh raus, wie ich sie mir erleichtern konnte. Man hatte die Wahl, die oft schweren Pakete in  dem Zugwaggon an dessen Rand zu ziehen bzw. zu schieben oder sie auf dem Bahnsteig stehend von der Waggonkante herunterzuheben und in einen kleinen Gepäckwagen zu befördern. Bei Letzterem musste man unausweichlich das ganze Gewicht des Pakets tragen und schnell erkennen, wo es in den  kleinen Gepäckwagen hineinpasste. Das strengte natürlich viel mehr an. Da ich leichtgewichtig und wendig war, sprang ich immer als einer der Ersten in die Waggons und hatte somit ständig die leichtere Arbeit. Mir fiel bald auf, dass nur Wenige sich den Job mit Denken erleichterten, weil die Meisten zufällig mal die eine oder die andere Arbeit machten.

In diesem Job konnte niemand eine Erfüllung sehen, weil jede Möglichkeit zu keativer Gestaltung fehlte. Das musste sich auf die Gespräche in den langen Pausen auswirken, die an Geistlosigkeit nicht zu überbieten waren. Sie drehten sich meistens, von deftigen Witzen begleitet, um das Vögeln sowie um übermäßiges Saufen und Völlerei. Ein großer Teil der Postarbeiter waren Nebenerwerbslandwirte, andere hatte größere Gärten, die zu ihrem Lebensunterhalt beitrugen. Das hätte Stoff für Gespräche über effektive Nutzung von Land und Garten bieten können, aber auch diese Unterhaltungen gab es nicht. Fußball war ein Thema, an dem sich fast alle beteiligten, aber auch das langweilte mich, weil kaum jemand von der Taktik der Mannschaftsaufstellungen eine Ahnung hatte.
Politische Gespräche wurden meistens nach kurzer Dauer wieder abgebrochen, weil sie sich in Beschimpfungen der bekanntesten Politiker erschöpften.
Doch gab es unter meinen Mitarbeitern ein Schlitzohr, das sich über die geistige Unbeweglichkeit der anderen amüsierte. Er löste große Nachdenklichkeit aus, als einer mit seiner sexuellen Leistungsfähigkeit protzte. Er fragte seine Kollegen, ob sie wüssten, dass jeder Mann in seinem Leben durchschnittlich 2400 Schuss frei hätte und dann sei „Sense“. Ich konnte beobachten, wie einige anfingen zu rechnen, und es dauerte einige Minuten, bis ihnen klar war, dass der Witzbold sich über sie lustig machte.

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (18.06.21)
„in der woche zwier
macht im jahr hundertvier“
(gern bis ans lebensende
wenn ER denn dann noch stände)

rechnete luther einst vor
und alle waren ganz ohr
wie damals deine kollegen
der durchschnittsfreischüsse wegen...

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.06.21:
Gracias, Henning,

Marin Luther. wurde nie malade.
Er befreite alle durch die Gnade.

LG
Ekki

 AZU20 (18.06.21)
Da hast Du Dir eine recht anspruchsvolle Ferientätigkeit augesucht. Kompliment. LG

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 18.06.21:
Ich spüre die leichte Ironie, Armin. Aber im Ernst. Dieser Wechsel zwischen intensiver Bewegung und langen Ruhepausen war gesund. Trotz permanenter Nachschicht kam ich damals mit wenig Schlaf aus.

LG
Ekki

 Graeculus (18.06.21)
Diesen Sexprotzen kann man pfiffig beikommen!

Eine Variante, eher bei Menschen, die ihre Keuschheit hervorkehren:
- "Weißt du, daß amerikanische Forscher herausgefunden haben: Menschen, die schon vor ihrem vierzehnten Lebensjahr regelmäßig Sex hatten, werden später meist [undeutlich gesprochenes Wort]?"
- "Werden was?"
- "Schwerhörig!"
Es funktioniert.

Ich erinnere mich, daß Konrad Adenauer die jungfräuliche Kultusministerin von Nordrhein-Westfalen, Christina Teusch, gerne Tristina Keusch nannte.

Okay, da bin ich jetzt etwas abgeschweift.

Kommentar geändert am 18.06.2021 um 15:01 Uhr

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 18.06.21:
Gracias, Graeculus, ich habe gleich die Probe aufs Exempel gemacht. Es funktioniert sehr gut.
Ich wundere mich immer wieder: Der eng begrenzte Wortschatz von Konrad Adenauer konnte die Entwicklung seines Witzes nicht verhindern.

 AchterZwerg (18.06.21)
"Das Einzige, was im Leben gerecht verteilt ist, ist Dummheit." (Guido Maria Kretschmer)

Liebe Grüße
Piccola (18.06.2021)

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 18.06.21:
Grazie, Piccola, das stimmt nach meiner Beobachtung. Einige neigen dazu, der Gerechtigkeit nachzuhelfen, indem sie allzu freimütig von dem Anteil erzählen, den sie erhalten haben. :)

Liebe Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (18.06.21)
Interessante Eindrücke, ehrlich beschrieben.

Beste Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 18.06.21:
Vielen Dank, Didi, das freut mich.

LG
Ekki.

 TassoTuwas (18.06.21)
Hallo Ekki, hallo lieber Kollege
Tatsächlich habe ich ab 1960 auf dem Hamburger Bahnhof "Hühnerposten, mehrere Jahre in der Vorweihnachtszeit nachts Pakete entladen. Es war ein schönes Nebeneinkommen und wie du schreibst, wenn man ein wenig helle war, auch nicht zu schwer. Da zwischen deinem und meinem Tatort ein paar hundert Kilometer liegen, kann ich nicht einer der Deppen gewesen sein!
Erleichterte Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 18.06.21:
Merci, Tasso, schön zu sehen, dass unsere Liste der Gemeinsamkeiten noch nicht erschöpft ist.
Herzliche Grüße
Ekki
Mono (70)
(19.06.21)
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 FrankReich meinte dazu am 19.06.21:
... und in jedem Helmut Kohl-Witz z. B. steckt mindestens ein Körnchen Wahrheit. 😄

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.06.21:
Grazie, Mono, du hast völlig recht. Stumpfsinn findet sich in jeder Gesellschaftsschicht und muss immer wieder aufs Neue bekämpft werden.
LG
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.06.21:
Merci, Frank, aber man muss sehr viele Helmut Kohl-Witze erzählen, bis man der Wahrheit auf die Spur kommt.
LG
Ekki

Antwort geändert am 19.06.2021 um 17:22 Uhr

 TrekanBelluvitsh (19.06.21)
Nicht bei der Arbeit denken, sondern machen heißt heute "Qualitätsmanagement". Dadurch wird die Arbeit für die Menschen ohne Sinn - noch stärker, als es in einer arbeitsteiligen Gesellschaft eh schon der Fall ist - und das wirkt sich auch auf das Verhalten der Menschen außerhalb der Arbeit aus... nicht positiv. Für aufmerksam beobachtende Spaßvögel leben wir in einem goldenen Zeitalter.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.06.21:
Gracias, Trekan, man darf freilich nicht darüber nachdenken, was den Spaß ermöglicht.

 GastIltis (21.06.21)
Hallo Ekki,
interessanter Beitrag von dir. Als Parallele zu deiner Arbeit könnte man unsere dreiwöchigen Landeinsätze während der Studentenzeit betrachten, die wir entweder in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg (damals waren das in unserem Fall noch die Bezirke Schwerin und Potsdam) absolvieren mussten. Verpflegung und Logis (Strohsäcke) waren nicht zu bezahlen. Bis auf den Bau eines Rinderstalles in der Nähe von Potsdam hieß das, dass Kartoffeln nachgelesen werden mussten. Während das ein paar ältere LPG-Frauen im Bücken erledigen konnten, rutschten wir auf Knien auf den Äckern entlang. Es war äußerst anstrengend. Für jeden Korb, den man in einen Hänger schütten durfte, gab es eine Marke. Mit Geist oder Kreativität war da nichts zu machen. Es half im Grunde nur sportlicher Ehrgeiz, wenn man auf Leistungen kommen wollte. Inwieweit diese Leistungen vergütet worden sind, ist mir nicht mehr geläufig. Es kann nur sehr wenig gewesen sein. Dennoch versuchte ich immer erfolgreich, unter die ersten drei zu gelangen. Aber der Ehrgeiz ist mir später abhanden gekommen. Zumindest in einigen Bereichen.
Es gab übrigens nur wenige, die nicht zu den Einsätzen verpflichtet werden konnten. Mein Studienkollege, mit dem ich zusammen wohnte, war Feldhockey-Nationalspieler, da war eine Freistellung selbstverständlich. Auch Maria aus Honduras musste nicht mit; sie fuhr mit dem Geld ihrer Eltern (300 $) nach Paris. Und dann hatten wir noch einen Fußballer, der in der zweiten Liga in Meißen spielte, der hat auch keine Kartoffel lesen müssen. Denen sind aber sehr viele schöne Erlebnisse verloren gegangen.
Sei herzlich gegrüßt von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.06.21:
Lieber Gil,
ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass du meine Beiträge so oft mit eigenen vergleichbaren Erlebnissen würdigst und damit aufwertest.
Ich bin mir sicher, dass kaum ein Westler von den dreiwöchigen Landeinsätzen während der Studienzeit in der DDR etwas weiß. Hochinteressant
Herzliche Grüße
Ekki
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